9.04.27

Präsident Reinhard Todt: Sehr geehrte Damen und Herren! Ich darf Sie alle noch einmal recht herzlich begrüßen. Zum zweiten Mal darf ich das Amt des Bundesrats­präsidenten ausüben – das ehrt mich ungemein. Es ehrt mich, weil der Bundesrat als Teil der österreichischen Gesetzgebung und als Länderkammer die Rechte der Länder wahrnimmt. Damit gewährleisten wir die Grundwerte und Grundrechte für alle Bewoh­nerinnen und Bewohner in unserem Land. Das ist die Basis für ein gutes Miteinander, für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Bevor ich auf die inhaltlichen Schwerpunkte meiner Präsidentschaft eingehe, möchte ich mich bei dir, Edgar, sehr herzlich für deine Amtszeit als Präsident des Bundesrates bedanken. Ganz besonders möchte ich dein Engagement in Angelegenheiten der Euro­­päischen Union herausstreichen. Du hast den Fokus der 8. Subsidiaritäts­kon­fe­renz des Ausschusses der Regionen darauf gelegt, wie man Regionen, wie man Bürgerinnen und Bürger besser in die Entscheidungen der Europäischen Union einbin­den kann. (Allgemeiner Beifall.)

Das ist ein wichtiger Beitrag zum besseren Verständnis der Europäischen Union. – Vielen Dank, Edgar, für deinen Einsatz und für die gute Zusammenarbeit!

Ja, die Subsidiarität ist ein Grundprinzip der Europäischen Union. Es wird festgelegt, wer wo was macht. Das heißt auch, dass wir selbst Verantwortung übernehmen – auf Bundesebene, in den Ländern und in den Gemeinden. Evelyn Regner hat es aber im Nationalrat bereits richtig gesagt: Was nicht passieren darf, ist, dass die Subsidiarität als Nationalismuskeule missbraucht und wichtige Herausforderungen gar nicht mehr angepackt werden. – Das ist mir wichtig; es muss ein klares Bekenntnis gegen Lohn- und Sozialdumping geben. Es ist nicht akzeptabel, dass eine ungarische Erntehelferin hier in Österreich einen Stundenlohn von gerade einmal 3 Euro erhält. Gerade der Bundesrat als Länderkammer im österreichischen Parlament muss da klar Position zum sozialen Zusammenhalt beziehen – nicht nur in Österreich, sondern in der Euro­päischen Union und darüber hinaus.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit Anfang dieses Jahres hat Wien den Vorsitz in der Landeshauptleutekonferenz und im Bundesrat übernommen. Insofern habe ich mir erlaubt, ein kleines Präsent mitzubringen: eine Aufnahme des Neujahrs­konzerts, mit dem wir hier das Jahr 2018 feierlich eingeläutet haben. Dieser Gruß aus Wien an die Welt ist natürlich auch ein Hinweis darauf, dass wir uns hier in einer wunderschönen Weltstadt befinden.

Wien wurde 2017 zum achten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Was bedeutet lebenswert eigentlich? – Es gibt in Wien eine top Strom- und Was­serversorgung, ein sehr gutes öffentliches Verkehrsnetz, tolle Freizeitangebote, von der Gastronomie über die Kunst bis hin zur Kultur und so weiter und so fort. Lebens­wert bedeutet mehr als das. Lebenswert ist eine Stadt, eine Region, wenn sie das Leben der Menschen, die in ihr leben, wertschätzt. Das, meine Damen und Herren, ist eine soziale Frage. (Beifall bei SPÖ und Grünen sowie bei BundesrätInnen von ÖVP und FPÖ.)

Es ist eine Frage, die wir nicht nur anerkennen müssen, sondern auch beantworten müssen. Da geht Wien – und darauf bin ich stolz – mit wunderbarem Beispiel voran. Wien beantwortet die soziale Frage mit einem sozialen Sicherheitsnetz, einem Netz, das wir nicht durchlöchern, sondern Tag für Tag dichter weben. Das verdanken wir nicht zuletzt der Wiener Stadtregierung. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit unse­rem Bürgermeister und Landeshauptmann Michael Häupl für das, was er hier in den vergangenen Jahrzehnten geleistet hat, herzlich danken. (Beifall bei SPÖ und Grünen sowie bei BundesrätInnen der ÖVP. – Bundesrat Stögmüller: Und den Grünen!)

Ich möchte mich in meiner Präsidentschaft mit dieser sozialen Frage beschäftigen. Dabei liegt auf der Hand: Um die soziale Frage für die Zukunft zu beantworten, müssen wir die digitale Dimension mitdenken. Wir tragen die Verantwortung, die digitale Zu­kunft sozial zu gestalten. Ich beobachte, dass es eine große Verunsicherung in der Gesellschaft gibt. So praktisch zum Beispiel die Vorteile eines Smartphones sind, schürt auf der anderen Seite die Digitalisierung die Angst um den Arbeitsplatz. Ich denke dabei an die Kassiererin im Supermarkt, die nach und nach durch Maschinen ersetzt wird.

Die Angst kann ich verstehen, denn Armut ist ein reales Problem in Österreich, insbe­sondere die Alters- und Kinderarmut. 200 000 Pensionistinnen und Pensionisten sind armutsgefährdet, über 300 000 Kinder sind armutsgefährdet. Das sind eine halbe Million schutzbedürftiger Menschen – und das in einem der reichsten Länder der Welt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Bruno Kreisky sagte schon: Man kann Umstände zur Kenntnis nehmen, darf aber nicht bereit sein, sie hinzunehmen. – Armut in Österreich können und dürfen wir nicht hinnehmen! (Beifall bei SPÖ und Grünen sowie bei BundesrätInnen der FPÖ.)

Es ist die Aufgabe der Politik, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen jeder Mensch in Würde altern kann, Rahmenbedingungen für eine gute Kindheit mit guter Bildung für jedes Kind in unserem Land. Das bedeutet auch, vom Fortschritt der Tech­nik und der Digitalisierung sollen alle Menschen etwas haben und nicht nur wenige Profiteure. Das möchte ich im Rahmen meiner Präsidentschaft aufzeigen; und dazu gehört auch eine Enquete mit dem Titel „Älter, Jünger, Ärmer? Zukunftsstrategien gegen Armut in Kindheit und Alter“. Es liegt mir sehr am Herzen, in dieser Diskussion weiterzukommen und Lösungsansätze zu finden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist an der Zeit, das gesellschaftliche Zu­sam­menleben neu zu denken. Dabei ist es unsere Aufgabe, auf den sozialen Zusam­menhalt zu achten. Politik muss sich darum kümmern, dass die Gesellschaft nicht auseinanderdriftet. Die digitale Zukunft muss eine soziale Zukunft sein, sonst verdient sie den Namen Zukunft nicht. (Beifall bei der SPÖ.)

Sehr verehrte Damen und Herren, wer die Zukunft gestalten will, muss sich auch seiner Vergangenheit bewusst sein. Darum lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Gedenkjahr 2018 an Sie richten. Dieses Gedenken ist ungemein wichtig, denn wir dür­fen niemals vergessen, wozu wir Österreicherinnen und Österreicher fähig waren, dass wir einst zu Hunderttausenden eine rassistische Politik des Hasses bejubelt haben, dass wir damit für den Tod von über sechs Millionen Jüdinnen und Juden mitverant­wortlich sind. Es ist unsere Pflicht als Politikerinnen und Politiker, das niemals zu ver­gessen.

Diese Pflicht ist mit einem Gedenkjahr und mit den Worten Niemals vergessen! aber noch nicht erfüllt, denn erinnern heißt kämpfen, kämpfen gegen Menschenverachtung, gegen jede Form der Diskriminierung, gegen Faschismus. Das, meine Damen und Herren, ist heute wichtiger denn je! (Beifall bei SPÖ und Grünen, bei BundesrätInnen der ÖVP sowie des Bundesrates Schererbauer.)

Ich richte diese Worte nicht an einzelne Parteien, sondern an uns alle, denn ich appelliere damit an unsere Pflicht als Bundesrätinnen und Bundesräte. Wenn wir unser Treuebekenntnis zu unserer demokratischen Republik ernst nehmen, dann müssen wir diesen Kampf für die Menschenrechte aktiv führen.

Wir tragen die Verantwortung dafür, dass Abgrenzung und Ausgrenzung nicht noch einmal die Oberhand in unserer Gesellschaft gewinnen. Wir tragen die Verantwortung dafür, den sozialen Zusammenhalt aller Menschen in Österreich zu stärken. Wir tragen die Verantwortung dafür, ein gutes und würdevolles Leben für alle einzufordern, denn die wichtigste Lehre unserer Geschichte ist, dass ein Mensch ein Mensch ist und dass jedem Menschen Respekt und Würde zustehen, egal, woher er kommt, welche Fähigkeiten er hat oder wie er aussieht. (Beifall bei SPÖ, ÖVP und Grünen sowie der Bundesräte Schererbauer und Zelina.)

Das ist die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens; und jeder von uns ist gut beraten, sich immer wieder zu fragen, welchen Beitrag er selbst dazu leistet. „Nicht die sind die Gerechten, die nie Unrecht tun, sondern die sind es, die von Zeit zu Zeit innehalten und sich ihres Unrechttuns bewusst werden.“ – Diese Worte Bruno Kreiskys sollen uns zum Nachdenken anregen und in diesem Jahr begleiten. In diesem Sinne freue ich mich auf eine gute Zusammenarbeit. (Allgemeiner Beifall.)

9.16