Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 31. Sitzung / Seite 16

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Das behinderte Kind hat wie jedes andere Kind ein Recht auf Bildung. Das Vorenthalten der speziellen Unterstützung kommt einer Nichtanerkennung, einer Aberkennung seines Bildungsanspruches gleich, und das entspricht nicht der Menschenwürde und ist mit der Dignität eines Menschen nicht mehr vereinbar. (Beifall bei der ÖVP.)

Wenn man die Diskussionen der vergangenen Jahre zum Thema "Gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern" verfolgt hat, so hat man leider manchmal den Eindruck gewinnen müssen, daß da eher ideologische Grabenkämpfe geführt wurden, als daß ernsthaft diskutiert worden wäre. Es geht nicht darum, ob man, wie das die Freiheitlichen einmal behauptet haben, vor den Eltern auf die Knie geht, und es geht auch nicht darum, ob man auf den Knien rutschen muß, um seine Ansprüche durchzubringen, sondern es geht einzig und allein darum – und das ist mit diesem Reformpaket gesichert –, daß für das jeweils einmalige Kind in seiner jeweils einmaligen Befindlichkeit und Lebenssituation jene Organisationsform gefunden wird, in der seine Bildungschancen optimal genützt werden können. (Beifall bei der ÖVP.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für mich stellt der gemeinsame Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern eine der größten Herausforderungen für unser Schulwesen dar. So sensible Themen kann man nicht mit groben Phrasen, nicht mit ideologischen Dogmen, sondern nur mit fachlich und wissenschaftlich durchdachten Konzepten beantworten. Wer diesen Weg beschreitet, wird draufkommen, daß es viele gute Ansätze gibt: der individuelle Stützunterricht – dauernd oder für eine bestimmte Zeit –, die Integrationsklasse, die kooperativen Klassen und viele andere Formen des Arbeitens an gemeinsamen Projekten. All diese Möglichkeiten sind mit dem in Aussicht gestellten Gesetzentwurf abgedeckt. Es bleibt Platz für die individuelle, autonome Entscheidung vor Ort.

Wir können mit Recht stolz sein auf diesen Weg. Wenn man das zu Ende gehende 20. Jahrhundert im Rückblick betrachtet, so kann man sagen: Es wird zu Recht – zumindest an seinem Ende – als das "Jahrhundert des Kindes" bezeichnet, wie es Ellen Key deklariert hat. Ich denke, daß dieser Weg weiter beschritten werden kann. Ich darf in Anlehnung an Jean Paul sagen: Manchen Wahrheiten müssen wie fremden Meisterwerken in jedem Jahrhundert neue Übersetzungen gegeben werden. (Beifall bei der ÖVP.)

Wir sind dabei, für die Bildung auch der behinderten Kinder neue Wege zu beschreiten. Wir tun dies unter Bedachtnahme auf alle Bedürfnisse und Erkenntnisse, und es wird sich zeigen, daß wir gut daran tun, diesen Weg nicht zu verlassen. Wir werden uns, um ein weiteres "Jahrhundert des Kindes" zu gewährleisten, in Praxis und Wissenschaft wieder mehr um die Gesamtpersönlichkeit des Kindes kümmern und uns darauf konzentrieren müssen. Alle Typisierungen und Kategorisierungen sind genauso integrationshemmend wie die wissenschaftlich begründete Verobjektivierung und die progressive Ausweitung des Behindertenbegriffs. (Abg. Ing. Reichhold: Wie stehen Sie zu dem Vorschlag, die Schulpflicht bis 18 Jahre auszuweiten?)

Die Individuallage eines Kindes, meine geschätzten Damen und Herren, läßt sich nicht festschreiben, sondern muß als etwas begriffen werden, was über das Hier und Jetzt hinausweist und Veränderungen miteinschließt. Wer den Status quo einer Behinderung festschreiben will, setzt sich der Gefahr aus, nach dem Wert des anderen zu fragen und über kurz oder lang einer Verwertungsideologie zu verfallen.

Ich möchte, daß wir unseren bedachtsamen, auf die Bedürfnisse der Kinder ausgerichteten Weg gemeinsam diskutieren, gemeinsam tragen, und ich wünsche mir eine Diskussion, die fachlich und sachlich ist und auf Phrasen und Ideologien verzichtet! (Beifall bei der ÖVP sowie des Abg. Dr. Fuhrmann. )

10.13

Präsident Dr. Heinz Fischer: Gemäß den Bestimmungen der Geschäftsordnung erhält nunmehr Frau Bundesministerin Gehrer das Wort. – Bitte sehr.


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