Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 146. Sitzung / 56

werden sollen. Aber es geht jetzt nicht mehr darum, ein Rad zurückzudrehen, sondern darum, aus dieser Einsicht in die Versäumnisse zu lernen.

Weiters: Was sagen wir vor allem jungen Leuten gegenüber, warum es denn erst jetzt zu einem zweiten Anlauf gekommen ist? Sie wollen nicht nur wissen, was geschehen ist und was wir heute tun, sondern warum erst jetzt. – In der Zeit nach 1945, in der die Österreicher über sich selbst und ihre eigene Verführbarkeit erschrocken sind, hat so etwas wie eine Paralysierung, eine Lähmung eingesetzt. Mehrheitlich waren Österreicher gefangen und haben diesen offiziellen Verdrängungsweg beschlossen. Stellvertretend – es ist heute schon aus dem Ministerratsprotokoll zitiert worden – sei der Satz genannt: "Ich wäre dafür, daß man die Sache in die Länge zieht!" – Das war ein sehr symptomatischer Satz und der Ausdruck einer großen Hilflosigkeit.

Die handelnden Personen waren nicht einmal zu jenem Pragmatismus fähig, wie ihn Doron Rabinovici etwa sinngemäß zitiert: Man muß wissen, daß ein Gläubiger, dem man seine Schulden nicht zurückzahlt, psychologisch gefährlicher und belastender ist als einer, dem man sie zurückzahlt.

Zu diesem Ins-reine-Kommen war man nicht fähig. Dieses Ins-reine-kommen-Wollen, das zu wenige wollten, hatte auch viele Facetten. Es ist meiner Ansicht nach von einer doppelten Ironie der Verdrängung gezeichnet, nämlich daß Freud ein Österreicher war und als solcher auch wieder nicht anerkannt war und in seinem Ansinnen, als Naturwissenschafter anerkannt zu werden, nicht anerkannt wurde, weil seine Theorie in die Geisteswissenschaften gehörte. Diese mehrfache Ironie ist, so meine ich, auch wieder repräsentativ für unser Schicksal und für unsere Geschichte.

Noch einmal zurück zum "Warum" und "Warum heute": Es ist schon angesprochen worden, daß etwa die Globalisierung eine neue Dimension der internationalen Auseinandersetzung gebracht hat. Daß wir heute weltweit Informationen austauschen können, in einen Diskurs über Menschenrechte treten können, das hat auch mit den technischen Möglichkeiten, die mit dieser Globalisierung zusammenhängen, zu tun. Diese sollten wir nützen und auch die positive Seite dabei sehen.

Ein weiterer wichtiger und mir vor allem sehr wichtiger Punkt liegt in der Dimension der gestiegenen Bildung. Ich bin sehr froh darüber, daß es heute immer weniger der von Josef Cap erwähnten Geschichtslehrer gibt, nämlich jene, deren Unterricht beim Ende der Monarchie aufhört und die somit das kapitalste Unrecht, das die Menschheit zustande gebracht hat, auslassen.

Vor folgendem möchte ich in diesem Zusammenhang warnen: Die gesamthaft politisch-rassistische und pseudoreligiöse Weltvorstellung der Nazis war Ausgangspunkt und Unterfutter für ihr Verbrechen. Es war ein antirationales Konzept.

Ich sehe auch heute wieder so manche Zeitströmung, so manches esoterisch-spiritistische Wertegebäude auftauchen, das der Jugend und den Menschen das Denken abnehmen will, das Rationalität und intellektuelle Aufklärung schmäht und eine dumpfe, archaische, atavistische Schwüle an dessen Stelle setzt. Ich meine, daß eine wesentliche Lehre aus der Geschichte und aus dem, was wir heute verabschieden, ist, sich gegen Anfänge jedweder Geistlosigkeit zu wehren und gegen jede Antirationalität, die in den Schulen auch wieder Eingang zu finden beginnt, aufzutreten. (Beifall bei der ÖVP, bei Abgeordneten der SPÖ sowie des Abg. Smolle.)

Meine Damen und Herren! Mit Rücksicht auf das schon Ausgeführte möchte ich mit einem Motto schließen, das ich mir von Václav Havel sozusagen ausgeborgt habe. Er hat sein Leben, sein Dichten und Denken unter das Motto gestellt: Der Versuch, in der Wahrheit zu leben. – Möge dieses Motto über dem Gesetz, das wir heute im Konsens verabschieden, über dem Datum des 9. November sowie über dem des 12. November stehen und möge dafür heute ein guter Tag sein. – Danke schön. (Beifall bei der ÖVP, bei Abgeordneten der SPÖ sowie des Abg. Smolle.)

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