15.26

Abgeordnete Dipl.-Ing. (FH) Martha Bißmann (ohne Klubzugehörigkeit): Frau Präsi­dentin! Geschätzte Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Geschätzte Regie­rungsvertreter! Herr Bundeskanzler! Verehrte Presse! Bürgerinnen und Bürger vor den Bildschirmen! Vor genau 100 Jahren setzte sich ein Mann namens Hans Kelsen an den Schreibtisch, mit keinem geringeren Auftrag als den, unsere demokratische Bun­desverfassung zu entwerfen.

Welches Bild hatte Kelsen im Kopf, als er sich an die Arbeit machte? (Abg. Rosen­kranz: Grundnorm!) Wovon träumten er und Gleichgesinnte damals, als Österreich aus den Ruinen des Ersten Weltkriegs auferstand? Österreich hatte 80 Prozent seiner Landmasse verloren, und mit den Abspaltungsbewegungen in Kärnten, Tirol, Salzburg und Vorarlberg drohte noch mehr verloren zu gehen. Der neu gegründete Staat Deutschösterreich hatte keine Überlebenschance. Extremistische Tendenzen in allen Lagern führten zu angespannten politischen Zeiten, jedoch war der Traum eines libera­len und demokratischen Österreichs präsent, und dieser Traum – genau dieser Traum – ist in der Verfassung von 1920 aufgegangen. Es war die Vision einer liberalen, stabilen Demokratie, in der die Menschenrechte fest verankert sind, einer Verfassung, die un­sere Minderheiten schützt und uns in Tagen einer Regierungskrise Halt gibt.

Kelsen hat ganze Arbeit geleistet. Die Verfassung zeigt uns dieser Tage, was sie drauf­hat. Sie allein, die Verfassung, kann zwar keinen Krieg verhindern, wie die Geschichte zeigt, in Tagen der Regierungskrise, wie wir sie jetzt erleben, hält sie allerdings für jede Situation, die von der Norm abweicht, eine Antwort parat. Unser Bundespräsident ist derjenige, der unser Regierungsschiff momentan durch wilde Wasser navigiert; aller­dings tut er das in hundertprozentiger Anlehnung an unsere Verfassung. Expertenre­gierung, Entlassung von Ministern, Misstrauensanträge, Minderheitsregierung – all die­se Maßnahmen beschreiben nicht den Regelfall, es sind aber die verfassungsmäßig verankerten Tools, die einer stabilen Demokratie zur Verfügung stehen.

Liebe Bürgerinnen und Bürger, liebe Kolleginnen und Kollegen in der Politik, ich möch­te Sie daran erinnern, dass es wichtig ist, für das, was unsere Vorfahren in schweren Zeiten geleistet haben, was sie geschaffen haben und wovon wir jeden Tag profitieren, dankbar zu sein. Die Verfassung ist definitiv etwas, wofür wir jeden Tag dankbar sein sollten. Wir werden dieser Tage Zeuginnen und Zeugen, wie dieser Gesetzestext in wilden Zeiten die Republik zusammenhält. Vor etwa einem Jahr habe ich es am eige­nen Leib erfahren und gespürt, wie es sich anfühlt, von der Verfassung und den darin festgeschriebenen Bestimmungen und Regeln getragen zu werden. Das gibt Halt und Stabilität, wenn sonst überall der Boden bebt. Genau dieses Gefühl, Halt und Stabilität, wünsche ich in diesen Tagen allen Österreicherinnen und Österreichern.

Wir erleben also dieser Tage eine demokratische wasserfeste Verfassung, die uns durch die Krise trägt. Was aber braucht es zusätzlich, damit es nicht wieder zu einer derartigen Krise kommt? Was braucht es jetzt in der Politik, das präventiv wirkt, damit wir kein Ibizagate 2.0 erleben? Da hilft uns nämlich weder die Verfassung noch die rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit, denn im Fall von Ibizagate hat nicht der Rechtsbruch den Vizekanzler zum Rücktritt bewogen, sondern die ungeschriebenen Gesetze der politischen Ethik. Über politische Ethik ist von der Antike an so viel geschrieben wor­den, dass ganze Bibliotheken damit gefüllt sind. Wer aber bestimmt in einer Demokra­tie darüber, was ethisch erlaubt ist, was der Anstand gebietet? Der Gesetzgeber eben sicher nicht.

Sicher ist allerdings, dass gerade staatliche FunktionsträgerInnen Vorbild für Verant­wortungsbewusstsein und Anstand sein sollten. Genau das braucht es meines Erach­tens auch, den Aufstand der Anständigen, ja von mir aus auch der Gutmenschen, der „verdammten“.

Lassen Sie uns über Werte, Haltungen, Moral und Ethik in der Politik sprechen, meine Damen und Herren! Wären ein Vizekanzler, der mit schweren Korruptionsdelikten flir­tet, ein Innenminister, der die rechtsextremen Identitären als Gleichgesinnte bezeich­net, nach wie vor möglich, wenn die Werte der Anständigen und Guten Einzug in der Politik gehalten hätten? Ich glaube nicht. Es geht da um Werte wie Toleranz, Re­spekt, Achtung, Verantwortung, Vertrauen, Empathie, Ehrlichkeit, Nachhaltigkeit, Mut, Stabilität, Authentizität, Integrität, Demut, Bescheidenheit, Freundlichkeit, Fröhlichkeit auch, Sachlichkeit. – Wie klingt das für Sie?

Wollen wir uns mutig und herzhaft dafür entscheiden, diese Werte in die Politik zu tragen? Wissen Sie, was dann kommt, was uns dann erwartet? – Es erwartet uns eine ehrliche, ehrenvolle und ethische Politik, eine Politik, die in der Bevölkerung Vertrauen schürt, eine Politik ohne Angst, ohne Angstmache, eine Politik, die Angstmache nicht mehr braucht, um für Wählerstimmen zu werben, weil die ethischen und hochanständi­gen Politikerinnen und Politiker eine unglaubliche Sogwirkung ausstrahlen werden, die stärker als Angst ist.

Es erwartet uns außerdem, ja, vielleicht auch so etwas wie Liebe, das Gefühl von Zu­sammenhalt, von Zusammengehörigkeit. Wir werden in unserem wunderschönen Land der Vielfalt als Menschen zusammenwachsen, in unseren Bräuchen und Traditionen, voller Respekt vor dem Leben, der Natur und den Unterschiedlichkeiten. – Klingt das zu sehr nach Utopia?

Bevor Sie mich als Utopistin und Spinnerin abkanzeln, möchte ich Sie daran erinnern: Im Lauf der Geschichte sind alle oder die meisten Visionäre und VordenkerInnen als Spinner bezeichnet worden, auch diejenigen, die von einem friedlichen, vereinten Eu­ropa der offenen Grenzen geträumt haben, unter anderen Stefan Zweig.

Daher möchte ich Sie einladen: Ich glaube, der Zeitpunkt ist jetzt perfekt, es ist die Zeit gekommen, gemeinsam – mit allen Fraktionen, auch der FPÖ – den Wertewandel zu beschreiten. Mein Eindruck aus Vieraugengesprächen mit Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion ist, dass die Mehrheit im Raum das Bedürfnis nach einer Kultur der Menschlichkeit eint, aber Sie sind oft in Ihren Kontexten verhaftet. (Abg. Rosenkranz: Nicht nur die Mehrheit, alle! Alle! Da brauchst kein Vieraugengespräch!)

Der Wertewandel wird uns helfen, unsere Mitmenschen nicht länger nach dem Ausse­hen oder der Kleidung – sei es das Kopftuch oder der Bart – zu bewerten, sondern nach dem Grad der gelebten Menschlichkeit. Die von einer Mehrheit gewollte und ge­lebte Menschlichkeit, ihre Werte, die Werte der neuen Politik, sie werden uns in Zu­kunft tragen und uns den Halt geben, den wir brauchen. Sie werden Regierungskrisen, wie wir sie in diesen Tagen erleben, gar nicht mehr aufkommen lassen, gar nicht mehr erlauben. Damit werden wir unsere Verfassung zukünftig auch nur mehr wirklich in den allergrößten Notfällen bemühen müssen.

Ja, sehr geschätzte Kollegin Irmgard Griss, da bin ich ganz bei Ihnen: Ich bin über­zeugt, wir können die Politik verändern. Schließlich und endlich geht es um nichts we­niger als darum, das angeschlagene Vertrauen der Menschen in diesem Land in die Politik wiederherzustellen. Das ist, glaube ich, wohl unser wichtigster Auftrag hier im Hohen Haus. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei den NEOS sowie der Abg. Friedl.)

15.35

Präsidentin Doris Bures: Zu Wort gemeldet ist nun Frau Abgeordnete Gabriele Hei­nisch-Hosek. – Bitte, Frau Abgeordnete.