Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Hohes Haus! Sehr geehrter Herr Bundes­prä­sident! Werte Damen und Herren Abgeordnete! Ich darf besonders jene begrüßen, die zum ersten Mal Mitglieder des Hohen Hauses sind. Ich freue mich, dass wir mit 72 weiblichen Abgeordneten – das sind knapp 40 Prozent der Abgeordneten – den höchsten Frauenanteil, den es je im Hohen Haus gab, zu verzeichnen haben. Werte Gäste hier im Saal und vor den Fernsehgeräten! Sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klubs und der Parlamentsdirektion!

Ich bedanke mich bei Ihnen, werte Abgeordnete, für das große Vertrauen, das Sie mir neuerlich ausgesprochen haben. Zum einen haben Sie durch Ihr Votum der Position des Präsidenten des Nationalrates gegenüber anderen Instanzen dieses Staates den Rücken gestärkt. Zum anderen nehmen Sie mich als Primus inter Pares in die Pflicht, in der Ausübung meines Amtes im Parlament – als Kristallisationspunkt der demo­kra­tischen Verfasstheit Österreichs – über alle Parteigrenzen hinweg verantwortlich zu sein, und zwar verantwortlich für den Schutz von Werten und Haltungen, auf denen unsere Demokratie ruht, zu denen sich alle bekennen können und die es im beson­deren Maße zu achten und zu stärken gilt: die Rechtsstaatlichkeit als Prinzip unseres täglichen Handelns; die Liebe zur Freiheit als ein garantiertes Grundrecht; das ent­schiedene Eintreten für Eigenverantwortlichkeit und Solidarität, um die Würde des Menschen zu sichern; und das Bemühen um Nachhaltigkeit und Sicherheit, um den Menschen die Zukunftsangst zu nehmen.

Es wird uns aller Anstrengungen bedürfen, diese Werte und Haltungen in der Tages­politik, in der Hitze des parlamentarischen Dialogs und der Auseinandersetzung nie­mals aus den Augen zu verlieren.

Wir werden nächstes Jahr 75 Jahre Zweite Republik feiern. In diesen 75 Jahren gab es immer wieder wirtschaftliche und politische Krisen und Skandale. Nichts davon aber hat unsere starke und breit ausgebaute Demokratie in Gefahr gebracht. Ich setze bewusst nicht das Adjektiv liberal vor das Wort Demokratie, denn Demokratie muss per se liberal sein. Karl Popper bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Wir brauchen die Freiheit, um den Mißbrauch der Staatsgewalt zu verhindern, und wir brauchen den Staat, um den Mißbrauch der Freiheit zu verhindern“, denn der Missbrauch der Freiheit kann auch „zu Fehlinformationen und zur Verhetzung benutzt werden.“ – Popper sagte das im Jahr 1994, da war noch nicht von Fakenews und Hasspostings die Rede.

Arik Brauer, der erst vor Kurzem von einem Konsortium österreichischer Tages­zeitun­gen den Fritz-Csoklich-Demokratiepreis erhalten hat, hat in einem Interview in der „Presse“ deutlich gemacht, dass Demokratie kein Naturgesetz ist, sondern vom Men­schen gemacht ist. Daher muss Demokratie stets von jeder Generation neu erarbeitet, erkämpft und gesichert werden. In seinem Lebensrückblick meint er: „Die Demokratie ist“ heute „viel mächtiger, als sie in meiner Kindheit war.“

Demokratie trifft und betrifft alle Menschen. Sie hat ihren Kristallisationspunkt im öster­reichischen Parlament mit seinen beiden Kammern, dem Bundesrat und dem heute neu konstituierten Nationalrat. Durch Wahlen legitimiert als Abgeordnete in das Hohe Haus entsandt, ist es unsere gemeinsame Pflicht und Verantwortung, zum Wohle unserer Heimat und unserer Landsleute unsere Aufgaben gewissenhaft zu erfüllen, und zwar auf der unverbrüchlichen Basis unserer Bundesverfassung.

Auch die Art aber, wie wir hier miteinander umgehen, ist in vielerlei Hinsicht bei­spiel­gebend dafür, wie die Menschen unserer Gesellschaft außerhalb des Parlaments mit­einander verkehren. Entscheidend ist, dass wir einander mit grundlegendem mensch­lichem Respekt auf der Grundlage uneingeschränkter Toleranz begegnen.

Der deutsche Bundespräsident außer Dienst Joachim Gauck hat sich in seiner Dan­kesrede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Łódź umfassend mit diesem Begriff der Toleranz und seiner Anwendung auseinander­ge­setzt. Er meinte: „In einer demokratischen Gesellschaft sollten Positionen selbst dann toleriert werden, wenn man sie für einen Irrtum hält“. Unsere Toleranz endet nur dort, wo intolerante Menschen die rechtlichen Grundlagen und Werte unseres Staates ne­gieren.

So sehr es an mir als Nationalratspräsident liegen wird, das in mich gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, so sehr formuliere ich aber auch die klare Erwartung an die im Parlament vertretenen Parteien und an jede und jeden der gewählten Abgeordneten, in den entscheidenden Fragen des Landes das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Dabei sei eines bemerkt: Unser Parlament ist nicht Twitter und nicht Facebook, sondern unser Parlament ist ein Ort, an dem sich Menschen und Meinungen persönlich begegnen. Unser Parlament ist ein Ort des Dialoges und ein Ort des Respekts.

Heute nimmt dieses Parlament seine Arbeit in der XXVII. Gesetzgebungsperiode auf. Heute sehen wir fünf Parteien in diesem Haus – fünf Parteien mit jeweils eigenen Vorstellungen und eigenen Programmen, jede von ihnen entschlossen, dem Auftrag ihrer Wählerinnen und Wähler gerecht zu werden.

Als Präsident werde ich mich jedenfalls für einen starken Parlamentarismus einsetzen: einen Parlamentarismus, der nicht an den Toren unseres Hauses endet, sondern der den Dialog mit der gesamten Gesellschaft im Auge hat, speziell den Dialog mit Wis­senschaft und Kunst; einen Parlamentarismus, in dem die Mehrheit akzeptiert wird und die Rechte der Minderheiten gewahrt werden; einen Parlamentarismus, der auch seiner Kontrollfunktion gewissenhaft und ernsthaft gerecht wird.

Sehr geehrte Damen und Herren, werte Abgeordnete, wir stehen heute – es ist schon in Ihren Reden angemerkt worden – am Beginn einer Zeitenwende. Große Herausfor­derungen werden uns in Europa und weltweit begegnen. Große Umwälzungen und Brüche stehen Österreich, Europa und der Welt bevor. Wir müssen diesen mit aller Ernsthaftigkeit und Besonnenheit begegnen.

Wirtschaftlich erwartet die Europäische Kommission einen weiteren Abwärtstrend, vor allem im Welthandel. Die Spannungen zwischen den USA und China sowie die andau­ernde Diskussion um den Brexit – wann und wie – beschleunigen diesen Trend. Es wird nicht lange dauern, bis sich dieser Trend auf den Arbeitsmarkt sowie auf den privaten Konsum in Europa und auch in Österreich durchzuschlagen beginnt.

Vergessen wir nicht die kritischen Situationen wie die kritische Sicherheitslage im Nahen und Mittleren Osten und im Persischen Golf oder die vor Kurzem erfolgte Inva­sion der Türkei in Syrien! Was dort geschieht, wird nicht ohne Folgen für uns bleiben: ein möglicherweise wieder erstarkter Terrorismus, ein möglicher Ausbruch von neuen kriegerischen Konflikten oder mögliche neue Flüchtlingsbewegungen.

Als wären diese tagespolitischen Herausforderungen nicht bereits komplex genug, müssen wir als politische Repräsentanten Antworten auf tiefgreifende Zukunftsfragen finden, versuchen, Antworten zu geben auf Fragen wie jene des demografischen Wan­dels und seiner Auswirkungen auf unsere soziale Sicherheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt; der fortschreitenden Digitalisierung und der sich damit erschließenden Möglichkeiten des Einsatzes von künstlicher Intelligenz sowie der damit einherge­hen­den Neubewertung des Nutzens von Big Data; der nachhaltigen Veränderungen unse­res Klimas und deren Folgen für die Lebensmittelproduktion, die Landschaften und die Menschen im Allgemeinen; der ungesteuerten Migration mit einer klaren Haltung, ille­gale Migration zu bekämpfen, aber mit einem Bekenntnis zur Genfer Flüchtlings­kon­vention sowie den unteilbaren Menschenrechten; der großen Herausforderungen einer gelingenden Integration derer, die in Österreich eine neue Heimat finden dürfen.

Wir brauchen auch Antworten auf den in Europa stetig stärker werdenden Antisemi­tis­mus, dem wir die Stirn bieten müssen und den wir durch umfassende Analyse, For­schung, gezielte Bildung und klar gesetzte Sanktionen an seinen Wurzeln bekämpfen müssen.

Die Antisemitismusforscherin Schwarz-Friesel von der Technischen Universität Berlin hat in ihrem beeindruckenden Buch „Judenhass im Internet“ einmal mehr dazu aufge­fordert, Judenhass nicht nur als Randgruppenphänomen der bekannten rechtsextre­men Szene zu begreifen, sondern zu beachten, dass die Multiplikatoren im Internet mittlerweile normale Alltagsuser sind – wobei der Staat Israel häufig als Projektions­fläche dient –, weshalb linker und muslimischer Antisemitismus mit der gleichen Kon­sequenz wie rechter dechiffriert und bekämpft gehört.

Wir brauchen Antworten auf den politischen Islam, dem als Bedrohung unserer Gesell­schaft eine klare Absage erteilt werden muss. Wir dürfen keine Parallelgesellschaften dulden und müssen vor allem von den bei uns lebenden Menschen ein klares Bekennt­nis zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einfordern, wie das die Geschwister-Scholl-Preis-Trägerin und gebürtige Türkin Necla Kelek schon vor mehr als zehn Jahren gefordert hat.

Es werden unterschiedliche Standpunkte sein, die Sie als Abgeordnete zu den ein­zelnen Themen einnehmen werden. Die Vielfalt der Meinungen ist das konstitutive Element unserer parlamentarischen Demokratie. Es wird aber an uns liegen, dass wir uns nicht an den Stereotypen und an den stereotypen Meinungsbildern orientieren, sondern an umfassenden Fakten und ihrer Analyse, wie es der Soziologe Martin Schröder formuliert. – Sein Buch, das im letzten Jahr herausgekommen ist, kann ich wärmstens empfehlen. Nur dann wird es uns gelingen, immer wieder einen guten, einen gemeinsamen Weg für Österreich zu finden, der sich an der Faktenlage und an der Sachlage orientiert – zur Stärkung des Parlamentarismus und unserer Demokratie, mit einem Sinn für das Gemeinsame und mit großem Respekt vor dem Unter­schied­lichen. (Allgemeiner Beifall.)