20.15
Bundesrat Ingo Appé (SPÖ, Kärnten): Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuseherinnen und Zuseher! Kollege Kornhäusl, unsere Forderung nach einer Nettoprämie ist dem geschuldet, dass der Herr Bundesminister gesagt hat, er wolle eine spürbare Nettoprämie in Höhe von 2 000 Euro ausschütten – wir fordern das eigentlich nur ein. Es ist schön, wenn du jetzt sozialdemokratische Werte verteidigst, aber wir haben das nicht in dieser Richtung deponiert. (Beifall bei der SPÖ.)
„Türkis-Grün zerstört das österreichische Gesundheitssystem“, lautet das Thema dieser Dringlichen Anfrage. Wie schaut die Realität für Otto Normalverbraucher am Land aus? – Er hat den Eindruck, dass es einen Notstand beim Pflegepersonal gibt, es gibt einen Notstand bei der Ausbildung der Mediziner, es gibt einen Notstand bei den praktischen Ärzten am Land, es gibt einen Notstand bei Fachärzten – betreffend die Kinderärzte haben wir hier in diesem Haus schon öfter Entschließungsanträge eingebracht, da ist alles eitel Wonne und auf einem guten Weg, wie wir danach in den Ausschüssen gesehen haben, also brauchen wir da nichts zu tun –, es gibt einen Notstand bei den Apotheken, es gibt einen Notstand bei der Versorgung mit Medikamenten, und es gibt einen Notstand bei Pflegeheimen.
Es gibt also Probleme im Gesundheitswesen, und das hat auch der Herr Bundesminister bestätigt. Stark belastete Spitäler und Pflegeheime suchen händeringend nach Personal, die Menschen müssen lange Wartezeiten für Termine in Kassenordinationen in Kauf nehmen und jetzt auch noch Medikamentenengpässe hinnehmen, die durch Produktionsausfälle und Lieferschwierigkeiten verursacht wurden.
Diese Probleme sind nicht neu, aber durch die Pandemie wurden sie noch massiv verschärft. Mittlerweile müssen auch wieder Behandlungen und Operationen verschoben werden, zudem bleibt Spitalsärzten häufig keine andere Wahl, als die Patienten aus Kapazitätsgründen vorzeitig zu entlassen, was der Gesundheit und der Genesung auch nicht zuträglich ist.
Selbst wenn es gelingt, den Pflegeberuf durch bessere Bezahlung, Erweiterung der Kompetenzen und flexiblere Arbeitszeitmodelle attraktiver zu gestalten, wird es Jahre dauern, den durch die älter und kränker werdende Bevölkerung steigenden Bedarf zu decken.
Eine Entspannung der Lage in den Spitälern, denke ich, ist also auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, ebenso wenig eine Trendumkehr bei den niedergelassenen Kassenärzten. Die seit mehreren Jahren sinkende Zahl der Kassenärzte und die steigende Zahl der Wahlärzte haben dieses Dilemma mitverursacht.
Die Ärztekammer und auch die Sozialversicherung werden schließlich aber kein Interesse an mehr Kassenärzten haben, dies aus folgenden Gründen: Sie müssten viel höhere Honorare bezahlen, damit sich die Hunderten zusätzlichen Ordinationen lohnen würden, und die können sie sich natürlich nicht leisten. Die Ärzte müssten sich also den gleich groß bleibenden Kuchen teilen, was wiederum das Motiv der Ärztekammer dafür ist, den Status quo da nicht wirklich zu bekämpfen.
Wenn wir jetzt schon beim Status quo der Sozialversicherungen sind: Der Herr Minister hat ja schon angesprochen, dass es mit der Patientenmilliarde schon ein Grab gibt, dass ein massives Loch ins Gesundheitswesen gegraben wurde. Aus dem Grund, liebe FPÖ, ist eigentlich das Thema dieser Dringlichen Anfrage – wenn wir jetzt bei der WM bleiben – ein Eigentor. Denn wer hat die Zerstörung des Gesundheitswesens in massiver Art und Weise vorangetrieben? (Bundesrat Schennach: Frau Hartinger!) – Das war Frau Hartinger-Klein, und auch wenn hier Versuche stattfinden, sie reinzuwaschen, geht das leider ins Leere. (Beifall bei der SPÖ.)
Es war geplant, die Zahl der Spitäler zu reduzieren, somit auch das Bettenausmaß. Die Zerschlagung bestehender Strukturen im Gesundheitsministerium hat der Herr Bundesminister ebenfalls schon angesprochen, und wie gesagt, die Patientenmilliarde war, wie der Rechnungshof jetzt festgestellt hat, eigentlich nur ein Schmäh. Wie schreibt „Profil“: „Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), sein blauer Vize Heinz-Christian Strache und die frühere FPÖ-Sozialministerin Beate Hartinger-Klein können froh sein, dass sie nicht mehr im Amt sind.“ Denn der Leuchtturm stellt eine massive Gefahr für jeden Kapitän dar, der sich jetzt mit dem Gesundheitswesen auseinandersetzen muss. Versprochen wurden gleiche medizinische Leistungen für alle und Einsparungen in der Verwaltung, die Kurz und Strache wie gesagt als Patientenmilliarde vermarktet haben. Nur: Diese Patientenmilliarde existiert nicht (Bundesrat Schennach: Im Gegenteil!), und dies ist auch in einem 157-seitigen Rohbericht des Rechnungshofes nachzulesen. Also das ist jetzt nicht irgendetwas, was wir uns aus den Fingern saugen.
Aus Sicht des Rechnungshofes war das Milliardenziel von ÖVP und FPÖ aus dem Jahr 2018 von vornherein unrealistisch, und daher der Terminus Schmäh. Der Personalstand bei den Sozialversicherungsträgern hat sich trotz der Fusion erhöht. Die IT-Kosten sind stark gestiegen, wobei das nach Schätzungen des Sozialministeriums der größte Posten gewesen wäre, um Einsparungen zu erzielen, und in der Realität schaut das so aus, dass die Kosten zwischen 2018 und 2020 um 21 Prozent, sprich 35,5 Millionen Euro, gestiegen sind.
Es gibt keine Synergien, kein Controlling und offenbar kaum Kommunikation zwischen Politik und den Sozialversicherungsträgern. Und was wurde aus den Verbesserungen für die Patienten? Hatten die Patienten eigentlich etwas von dieser Kassenreform? – Dazu fällt die Bilanz der Prüfer sehr nüchtern aus. Die unterschiedlichen Leistungen zwischen den Berufsständen – Beamten, Angestellten und Selbstständigen – wurden laut Rechnungshof überhaupt nicht reduziert.
Das zentralste Versprechen ist weit von der Realität entfernt, wie der Rechnungshof kritisiert: Einen bundeseinheitlichen Gesamtvertrag im ärztlichen Bereich gibt es bis heute nicht. Vor der Fusion der Österreichischen Gesundheitskasse verhandelten die neun Gebietskrankenkassen ihre Leistungskataloge mit den Landesärztekammern neunmal einzeln aus. Diese Verträge gelten heute noch. Patienten aus Vorarlberg bekommen andere Leistungen von der Krankenkasse ersetzt als Patienten im Burgenland, und Ärzte bekommen für dieselbe Leistung in unterschiedlichen Bundesländern unterschiedliche Honorare. Einheitliche Leistungen sind in weiter Ferne.
Was noch schlimmer ist: Diese Reform hat die ÖGK noch ärmer gemacht. Insgesamt wurde die finanzielle Basis der Österreichischen Gesundheitskasse durch die Sozialversicherungs-Organisationsgesetze von Türkis-Blau geschwächt, weil Unternehmen durch die Reform weniger Lohnnebenkosten einzahlten und weil der Privatkrankenanstalten-Finanzierungsfonds, Prikraf, mit ÖGK-Geldern um 14,7 Millionen Euro jährlich erhöht wurde. Bis 2021 verursachten diese Maßnahmen jährlich Mehrausgaben und Mindereinnahmen im Gesamtwert von 144 Millionen Euro, urteilt der Rechnungshof.
Konkret hätte das Sozialministerium etwa auf die Einrichtung eines Kontrollgremiums für Sozialversicherungsträger und den Dachverband bestehen sollen. Ein solches war geplant, aber gesetzlich nicht vorgesehen und wurde daher trotz eines Gebarungsvolumens von fast 70 Milliarden Euro jährlich nicht umgesetzt. Mit der Fusion fielen wichtige Kontrollinstanzen bei den Sozialversicherungsträgern weg.
Nur so am Rande, weil Kollege Steiner diesbezüglich heute mit hoch erhobenem Finger referiert hat: „Auch die Politik mischte gehörig mit: Rahmenverträge für Beratungsleistungen wurden etwa vom Sozialministerium unter Beate Hartinger-Klein (FPÖ) ohne Einbindung der Fachabteilungen vergeben. Bei der ÖGK wurde ein Beratungsunternehmen tätig, dessen Stundensätze um 80 Prozent höher waren als jene des Beratungsunternehmens der SVS. Die zugrunde liegende Rahmenvereinbarung schloss Hartinger-Klein ohne Preisvergleiche ab.“
Ein Schmankerl am Rande: „Unterlagen, die die Entscheidungsfindung ihres damaligen Büros beschreiben könnten, wurden im Staatsarchiv für 25 Jahre als ,Privatakten‘ versiegelt.“ (Heiterkeit des Bundesrates. Himmer. – Bundesrat Schennach: Im Ernst? Das geht?)
Es ist daher notwendig, den Umbau und die Reform der Sozialversicherungsträger voranzutreiben. Es ist höchste Zeit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Der Rechnungshofbericht macht klar: Das populistische Versprechen von Türkis-Blau ist endgültig geplatzt. Wir brauchen jetzt eine Reparatur, damit wir wieder auf das Niveau von vor der Fusion gelangen und das Versprechen der Leistungsangleichung realisiert wird.
Es ist eine Angleichung der Leistungen der ÖGK-Versicherten auf das Niveau der Beamten und Selbstständigen erforderlich. Es ist notwendig, die Verwaltung der ÖGK wieder in die Hände der Versicherten zu geben. Es ist notwendig, mehr Kompetenzen für die Landesstellen und kürzere Entscheidungswege bei Leistungen und Beschwerden herbeizuführen, und es ist notwendig, dass ein funktionierendes Kontrollgremium für diese Träger installiert wird. Denn eines ist klar: Am Ende zahlt der Patient drauf, weil Politik, Ärztekammer und die ÖGK die Kontrolle verloren haben. Verantwortliche handelten vielfach fahrlässig. Die Kassen kommt es billiger, wenn Patienten in Spitalsambulanzen ausweichen, weil dort Leistungen pauschaliert abgerechnet werden, und die Länder bleiben mit den Gemeinden auf diesen Kosten sitzen.
Unser Gesundheitssystem benötigt rasche Reformen: zuallererst einen neuen Kassenvertrag abseits der Massenabfertigung und auch höher honoriert, im Gegenzug aber zumindest mit einer 40-Stunden-Praxisöffnung samt verpflichtender Abdeckung der Randzeiten mit anderen Ärzten. Primärversorgungszentren werden mit Spitalsträgern die Versorgung der ländlichen Regionen sicherstellen müssen, und versorgungsrelevante Wahlärzte sollen sich, wie Wahlärzte selber vorschlagen, mit Diensten und Kassentagen für Kassenpatienten in das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem einklinken. So zeigen sie auch, warum sie eigentlich diesen Beruf ergriffen haben: nämlich um Patientinnen und Patienten zu helfen.
Dies sind die Probleme unseres Gesundheitssystems, Herr Minister. Kommen Sie in die Gänge und aktivieren Sie den Notfallplan! – Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPÖ.)
20.28
Präsidentin Korinna Schumann: Zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Hauschildt-Buschberger. – Bitte, Frau Bundesrätin.