20.35

Bundesrat MMag. Dr. Karl-Arthur Arlamovsky (NEOS, Wien): Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Coronapandemie wird bei vielen Missständen im Gesundheitsbereich genauer hingeschaut.

Sterbende in Gangbetten: Solche Skandalmeldungen bringen viele Klicks. Sie sind aber kein neues Phänomen, sondern kommen immer wieder vor – auch ganz unabhängig davon, ob gerade Pandemie ist.

Dabei ist Panik der Feind nachhaltiger Reformen. Immerhin sollten diese nicht als PR-Aktion, sondern als langfristiger Plan angegangen werden. Wo es diese Reformen bräuchte? – Gehen wir es Schritt für Schritt oder Baustelle für Baustelle durch! Wir haben sieben Baustellen identifiziert.

Baustelle eins: das Ministerium, das oft nicht mitreden darf. Langfristige Änderungen sind nicht nur durch PR-Politik unwahrscheinlich, sondern auch wegen der Verfassung, denn in Österreich ist Gesundheitspolitik in vielen Bereichen Ländersache. Nicht nur das: Die Verfassung gibt auch die Autonomie der Krankenkassen und der Kammern vor, in diesem Fall als Verhandlungs­partner der Ärztekammer.

Durch diese Autonomie ist es dem Bund de facto unmöglich, den anderen Stellen eine Maßnahme im Vollzug vorzugeben, oder anders gesagt: Das Gesundheitsministerium kann im Bereich Gesundheitspolitik nur begrenzt mitreden.

Wenn man sich die Geschichte des Gesundheitssystems ansieht, gibt es aber trotzdem Wellenbewegungen. Bis zu den 1980er-Jahren gab es zum Beispiel Gemeindeärztinnen und -ärzte. Diese waren einerseits niedergelassen und insofern Kassenärztinnen und -ärzte. Andererseits waren sie oft bei der Gemeinde angestellt, haben als Schulärzte Untersuchungen durchgeführt, waren bei den Gesundheitsämtern und für die Totenbeschau zuständig.

Im Vergleich dazu diskutieren wir heute unabhängig vom Fach über den Mangel an Kassenärztinnen und -ärzten. In der Schule sind kaum welche zu finden, und selbst die Totenbeschau macht durch den Mangel an Ärzten mittlerweile Schlagzeilen.

Wie wir genau in diese Situation gekommen sind, lässt sich kaum rekonstruieren. Eine Antwort findet sich möglicherweise in der sogenannten Ärzteschwemme. In den 1990er-Jahren gab es so viele Medizinabsolventinnen und -absolventen, dass viele jahrelang zwischen Studienabschluss und Turnusausbildung warten mussten. Wer eine bestimmte Fachrichtung lernen wollte, musste beste Kon­takte haben, um an einen Ausbildungsplatz zu kommen. Selbst wer im Turnus schon einmal auf der richtigen Fachstation war, konnte danach nicht unbedingt diese Fachausbildung machen.

Baustelle zwei: Wer darf was im Gesundheitssystem? – Möglicherweise spielt der Generationenwechsel in der Pflege auch eine Rolle, denn ähnlich zu den Gemeindeärztinnen und -ärzten gab es Gemeindeschwestern, die wie die mobile Pflege unterwegs waren. In Krankenhäusern durfte Pflegepersonal selbst Infusionen anhängen, wechseln oder ähnliche Aufgaben erledigen, bis das nicht mehr erlaubt war.

Mittlerweile dürfen nur Ärztinnen und Ärzte Infusionen legen. Jeder Wund­­verband braucht eine ärztliche Unterschrift, und selbst wer von einem Medikament zu einem Analogon wechselt, weil das Originalpräparat gerade nicht verfügbar ist, begibt sich in eine rechtliche Grauzone.

Diese Unmenge an administrativem Aufwand ist in Krankenhäusern dazuge­kommen. Durch den Wechsel in den Ausbildungsordnungen, den Gene­ra­tio­nen­wechsel und die niedrige Anzahl von Medizinabsolventinnen und -absolventen, die den Arztberuf in Österreich tatsächlich aufnehmen, konnte dieses System so nicht mehr gehalten werden.

Seit Jahren ist deshalb von Problemen in der Pflege die Rede. Seit Anfang des Jahrtausends wird immer wieder von widrigen Arbeitsbedingungen berichtet. Mehrere Minireformen und Änderungen der Ausbildung in der Pflege wurden gemacht. Mit der Pflegereform des Jahres 2022 wird auch endlich erlaubt, dass Pflegekräfte solche Aufgaben selbst erledigen dürfen.

Absurd ist, dass das als große Reform verkauft wird, denn jeder in der Praxis weiß, dass Pflegekräfte seit Jahren selbst Infusionen legen. Beim Reformvor­schlag 2015 war die Erlaubnis dafür noch undenkbar.

Seit damals dürften von Pflegekräften aber immerhin Produkte wie Windeln für Erwachsene verschrieben werden – „dürften“ im Konjunktiv, denn wegen einer fehlenden zweiten Gesetzesänderung ist das in der Praxis immer noch nicht möglich. Dabei wäre genau so etwas im Bereich, in dem das Gesundheitsminis­terium trotz Föderalismus und Verwaltungsautonomie ansetzen könnte.

Baustelle drei: zu wenig Zusammenarbeit zwischen den Berufen. Die Zusam­menarbeit zwischen den Gesundheitsberufen zu koordinieren wäre auch ein Job für das Ministerium. Kann ein Physiotherapeut Einlagen verschreiben? Kann eine Hebamme nach einer Geburt selbst ein Rezept für eine Wundsalbe schreiben, wenn eine Frau durch das Stillen entzündete Brustwarzen bekommt? Darf eine Pflegekraft selbst eine Wundkontrolle vornehmen? – Für solche Kompetenz­verschiebungen gibt es unzählige Beispiele. Bereitschaft dazu gibt es allerdings keine, denn die Ärztekammer hat meist die stärkere Verhandlungsposition. Immerhin üben Ärztinnen und Ärzte neben den Apothekerinnen und Apothekern den einzigen Gesundheitsberuf aus, der eine eigene Kammer als Vertretung hat. Die meisten anderen Berufe sind erst seit wenigen Jahren akademisiert; und viele kritisieren noch immer den Drang, die Ausbildung zu erschweren und an Universitäten oder Fachhochschulen zu streben. (Ruf bei der FPÖ: Das stimmt!)

Baustelle Nummer vier: keine Anreize für Kassenplätze. Gerade derzeit im Winter häufen sich wieder die Nachrichten von Gangbetten, vollen Krankenhausambulanzen und dem Mangel an niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, besonders für Kinder. Seit vielen Jahren gibt es deshalb eine Debatte darüber, wie man Kassenstellen wieder attraktiver machen könnte – eine Debatte, in der es absolut keinen Sinn ergibt, vom Gesundheitsminister Maßnahmen zu fordern. Die Selbstverwaltung der Krankenkassen bedeutet schließlich, dass der Minister der Versicherung so gut wie gar nichts ansagen kann; er kann ihr zwar gesetzlich Aufgaben übertragen lassen, und über die gesetzlichen Regelungen der Lohnnebenkosten bestimmt der Bund auch die Einnahmen der Versicherungsträger, aber was genau eine Versicherung mit ihrem Geld macht, wie die Honorare für Ärztinnen und Ärzte gestaltet sind, darauf hat das Ministerium kaum Einfluss.

Die Erstattung ist immer von den Leistungen der einzelnen Ärztinnen und Ärzte abhängig, das heißt: Kasse und Landeskammer verhandeln, wie viel welche Behandlung oder Untersuchung wert ist – und dafür erhält eine Ärztin, ein Arzt dann eine bestimmte Summe; wie Praxis, Personal oder neue Geräte für modernere Untersuchungen bezahlt werden, müssen diese aber selbst regeln. Wohl deshalb hat sich immer mehr eingebürgert, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Patientinnen und Patienten vielfach durchwinken, die gleichen Dinge ver­schreiben und wenig Zeit für die Anamnese oder persönliche Gespräche bleibt – die werden nämlich nicht erstattet. Ob eine Ärztin, ein Arzt im Gespräch zum Beispiel draufkommt, dass Schlafprobleme einen psychischen Hintergrund haben und wie dieser behandelt werden sollte, ist deshalb stark davon abhängig, ob es überhaupt die Möglichkeit und die Bereitschaft gibt, sich die Zeit für solche Gespräche zu nehmen, oder ob die Zahl der Patientinnen und Patienten wichti­ger ist. Das ist nicht ideal, wenn man vom alten Berufsethos ausgeht, dass ein Arzt immer zuerst ein offenes Ohr hat.

Eine andere Regelung hat Kassenstellen allerdings noch viel unattraktiver gemacht; dieser zufolge muss man nämlich ein bestimmtes Pensum an Patientinnen und Patienten haben, hat Vorgaben für Öffnungszeiten und durch die Kasseneinnahmen nur einen vorgegebenen finanziellen Spielraum. Als Wahlarzt – also als Ärztin oder Arzt ohne Kassenvertrag – kann man verlangen, was man will. Die Patientinnen und Patienten bekommen, wenn sie die Honorarnote bei der Kasse einreichen, 80 Prozent des Kassensatzes – nicht 80 Prozent der Honorarnote – erstattet. Zusätzlich haben die Wahlärztinnen und Wahlärzte keine Vorgaben für Öffnungszeiten, können leichter nebenbei dazuverdienen und haben insgesamt einfach weniger Auflagen – das ist also weitaus attraktiver als eine Kassenstelle.

In Summe haben wir dadurch ein Problem bekommen: dass viel mehr Menschen Wahlärztinnen und Wahlärzte sind, denn auch Krankenhäuser werden eher selten als attraktive Arbeitsplätze gesehen. Für die Patientinnen und Patienten bedeutet das einen gefühlten Mangel, obwohl es in Österreich auf die Bevöl­kerung hochgerechnet so viele Ärztinnen und Ärzte gibt wie in kaum einem anderen Land.

Baustelle fünf: Die Krankenhäuser sind unattraktiv. Die Gesundheitsministe­rinnen und -minister wissen das seit Jahren, aber das führt zur nächsten Baustelle, denn auch die Krankenhäuser sind Landesangelegenheit – das bedeutet, das Ministerium kann auch ihre Ausgestaltung nicht vorschreiben. Durch das Verteilungsproblem hat man in den Krankenhäusern aber nicht auf Personal verzichten können, weshalb Österreich die – wohlgemerkt seit 2004 geltende – EU-Arbeitszeitvorschrift für Krankenhäuser noch immer nicht um­gesetzt hat. Dadurch sind österreichische Krankenhäuser natürlich als Arbeits­plätze unattraktiver als die Konkurrenz im Ausland, immerhin gibt es eine höhere Wochenarbeitszeit – dies ist ein Punkt mehr, der gegen die Ärztetätigkeit in Österreich spricht.

Baustelle sechs: die komplizierte Finanzierung. Viele dieser Probleme hängen an der Finanzierung; niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sind eben von abrechenbaren Leistungspositionen getrieben; und auch in Krankenhäusern geht es darum, welche Leistungen erbracht wurden und wie diese bezahlt werden. Andere Länder schauen verstärkt darauf, dass ihre Bürgerinnen und Bürger gar nicht krank werden. In Österreich hingegen gibt es kaum Leistungen, die zur Prävention beitragen, das gesamte Gesundheitssystem ist auf Behandlung ausgelegt.

Ein ähnliches Problem: Auch pflegerische Leistungen zählen nicht, deshalb ist es auch so schwierig, die Wertigkeit von Pflege zu ändern. Dazu kommt, dass die Finanzierung der Pflege auf Bund, Länder und Versicherungen aufgeteilt ist und jede Stelle im System das Gefühl hat, für die Verantwortung und die erwarteten Leistungen zu wenig Geld zu haben.

Die ÖGK beispielsweise würde Impfungen als Präventionsmaßnahme schon übernehmen, sie kann das aber eigenen Angaben zufolge mit dem vorhandenen Budget nicht. Die Länder könnten in den Ambulanzen in Krankenhäusern den Mangel an niedergelassenen Kassenärzten ausgleichen, aber dafür wollen sie einen höheren Beitrag der Versicherungen zur Krankenhausfinanzierung. Der Gesundheitsminister soll am Schluss für alles die Verantwortung übernehmen und Gegenmaßnahmen setzen, weiß aber nicht einmal, wie viele Gefährdungs­meldungen es in Österreichs Krankenhäusern gibt.

Der große Hebel sollen nun die Verhandlungen zum Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sein. Unklar ist allerdings, wie genau sich das auswirken soll. Erste Berichte zum Start der Verhandlungen sprechen von einer – unter Anführungszeichen – Neuordnung im Gesundheitssystem. Die Bundesländer wollen allerdings nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Verantwortung. Berücksichtigt man aber, dass es gerade im Gesundheitsbereich ohnehin so wenige Durchgriffsmöglichkeiten für den Bund gibt, würde das eine weitere Zersplitterung fördern. Langsam gibt es also zumindest ein steigendes Bewusstsein, dass die Finanzierung neu sortiert werden muss – ob so eine Neuordnung aber helfen würde, das Gesundheitswesen zu vereinheitlichen und die aktuellen Probleme zu lösen, ist zumindest nach derzeitigem Informations­stand noch sehr fraglich.

Zuletzt Baustelle sieben: Der einzige Ausweg sind nämlich Strukturreformen. Bei dieser, aber auch bei vielen anderen Baustellen im Gesundheitswesen sehen wir: Überall gibt es komplizierte Konstruktionen, in denen niemals eine Stelle allein schuld ist. Die Versicherungsträger, Kammern, Ärztinnen und Ärzte, Kranken­häuser, die Pflege, die Länder, das Ministerium, sie alle können allein wenig durchsetzen; aber weil sie bei einer Lösung verlieren können, gibt es wenig Anreiz, etwas zu ändern.

Um diese Baustellen nachhaltig zu schließen, braucht es Strukturreformen – ein sprödes Wort und etwas, das nicht sofort Ergebnisse bringt, aber gerade wenn es um die Zuständigkeiten, Kompetenzen und Abrechnungswege im Gesund­heitssystem geht, wären sie dringend nötig. Reformen, die auch in zehn Jahren noch wirken, sind allerdings in der Politik selten, immerhin ist beim Eintreten einer Wirkung niemand der damals Verantwortlichen noch da, der die Lorbeeren einheimsen könnte – und darum wirkt es auch weiterhin eher unwahrscheinlich, dass die anderen soeben aufgezählten Baustellen in nächster Zeit geschlossen werden. – Vielen Dank. (Beifall bei der SPÖ.)

20.47

Vizepräsident Bernhard Hirczy: Danke, Herr Bundesrat.

Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Markus Leinfellner. – Bitte. (Bundesrat Novak: Sechs Mal 20 Minuten!)