9.35
Bundesrat Dipl.-Ing. Dr. Adi Gross (Grüne, Vorarlberg): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister! Die Überschrift ist – man muss ja fast sagen: leider – zutreffend formuliert: „Geopolitische Zeitenwende“, ausgelöst durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Was wir live erleben, ist nicht weniger als ein Auseinanderbrechen der bisherigen Ordnung, wir erleben ein Ende der Friedensperiode in Europa, wir erleben das Ende eines mit Europa kooperationsfähigen Russlands. Und machen wir uns keine Illusionen: Es wird, wenn überhaupt, so schnell kein Zurück zur alten Friedensordnung geben.
Putins Russland – und ich betone das, weil es um Entscheidungen einer aggressiven Elite in Russland geht – inszeniert diesen Angriffskrieg längst als einen Krieg gegen den Westen per se – das hat Putin am 9. Mai, vorgestern, beim Jahrestag des Sieges gegen die nationalsozialistische Invasion wieder ausdrücklich betont –, selbstverständlich aber in einer absurd um 180 Grad verdrehten Version, nämlich dass gegen Russland ein Krieg entfesselt worden sei. Es handle sich daher um einen heiligen Krieg Russlands zur Verteidigung des Mutterlandes. Das können Sie nachlesen. Völlig unverhohlen sagt Putin, es sei ein Kampf gegen eine liberale, offene Gesellschaft, wie wir sie hier in Europa bei uns kennen. – Kleine Anmerkung zu Kollegen Hübner: Also wenn man Ihnen jetzt vorhin zugehört hat, wähnt man sich ja auch fast am Roten Platz. (Bundesrat Hübner: Ja natürlich!)
Putin hat Angst vor der Demokratie. Er will sie vor allem in der Ukraine – dort, wo sie erfolgreich begonnen hat, sich zu entwickeln – zerstören, das ist eine seiner zentralen Motivationen. „Diktatoren fürchten die Idee der Freiheit“, sagte vorgestern, am Europatag, die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk bei ihrer Rede zur Eröffnung der Wiener Festwochen.
Eine neue Weltordnung ist im Entstehen. Neue Blockbildungen werden das globale Machtgefüge massiv verschieben, viel wird dabei vom Verhalten Chinas und Indiens abhängen. Europa – keine Frage – muss sich also neu orientieren, neu ausrichten, stärker werden: als Region, die sich auf ein demokratisches, liberales, freies, soziales Gesellschaftsmodell stützt. Es geht um eine neue Ausrichtung in einer Situation, in der niemand weiß, in der wir nicht wissen, wie die künftige Ordnung gestaltet sein wird. Deswegen gilt es eben, diese als Europa aktiv mitzugestalten.
Ganz prioritär muss die europäische Außenpolitik auf neue Beine gestellt werden – oder sie muss endlich überhaupt Beine bekommen, denn de facto gibt es sie nur in Ansätzen. Alle Staaten kochen nach wie vor ihr eigenes Süppchen auf Grundlage ihrer eigenen Interessen. Das muss endlich aufhören! Eine starke und gemeinsame europäische Außenpolitik ist die Voraussetzung für ein starkes Europa in einer neuen Ordnung und eine Voraussetzung, um die vielen Aufgaben, die anstehen, überhaupt bewältigen zu können. Da ist es erfreulich, dass es vor einigen wenigen Tagen einen Vorstoß von neun EU-Ländern für eine gemeinsame EU-Außenpolitik gab, und zwar auf Basis von Mehrheitsentscheidungen, darunter Deutschland, Spanien, Frankreich (Zwischenruf des Bundesrates Hübner) – eine Freundesgruppe für EU-Mehrheitsentscheidungen, wie sie sich nennt.
Konkrete Aufgaben und Themen in der Außenpolitik gibt es genug – nur einige wenige diesbezügliche Aspekte: Selbstverständlich braucht die EU in vielen Bereichen mehr Eigenständigkeit und mehr Unabhängigkeit. Das betrifft zum Beispiel – das haben wir in den letzten Jahren schmerzlich erfahren – die Wirtschaft im Hinblick auf zahlreiche Ressourcen und Rohstoffe.
Ich möchte aber auch gleich betonen, dass es ein Fehler wäre, sich zu isolieren. Handel und Austausch auf allen Ebenen mit allen Ländern dieser Welt müssen aufrecht bleiben. Niemals darf sich die EU unsolidarisch verhalten, niemals darf sie ihren eigenen Grundsätzen untreu werden, denn viele Fragen, die auf diesem Planeten drängen, können nur gemeinsam gelöst werden, wie immer auch eine neue Ordnung aussehen wird. Das ist vor allem die Frage des Klimaschutzes als Kernüberlebensfrage.
Das geht nur gemeinsam und solidarisch, das geht nur, wenn insbesondere Europa anderen Ländern bei der Transformation hilft, denn Krisensicherheit schaffen wir nicht durch Isolation und Mauern, sondern durch nötige Eigenständigkeit und gleichzeitig vielfältige Kooperation.
Nicht nur Krisensicherheit, sondern Sicherheit generell ist eine der zentralen Bedingungen überhaupt. Europa muss in der Energieversorgung, Achillesferse jedweder Wirtschaft, unabhängiger und diversifizierter werden. Ich habe hier herinnen mehrfach gesagt, wie unfassbar blind man sich gerade in Österreich mit dem Versprechen immerwährend billigen Gases einseitig an Russland gebunden hat. (Bundesrat Spanring: Aber nur weil man etwas oft behauptet, wird es nicht wahr!) Um die europäische Energieversorgung umzustellen, werden wir aber auch in Zukunft auf Importe angewiesen sein. Da kommt ein wichtiger Partner ins Spiel: Afrika.
Afrika gehört als gleichwertiger Partner aus vielerlei Gründen dringendst ganz vorne auf die Agenda einer europäischen Außenpolitik – Stichwort historische, ethische Verantwortung, aber auch Stichwort Migration, übrigens auch als Folge der Klimakrise. Es wurde ja in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf europäischer Ebene oft darüber schwadroniert, aber nie wirklich ernsthaft angegangen. Ein langfristiger und mutiger Marschallplan gemeinsam mit Afrika ist dringlicher denn je, auch damit sich Afrika als freie, demokratische Region entwickeln kann. Überlassen wir Afrika nicht China, das, wie man erkennt, wenn man die Berichte liest, mit hoher Aggressivität vor Ort ist!
Genau solche Zugänge sollten die europäische Außenpolitik auszeichnen, denn das ist auch ein Alleinstellungsmerkmal. Russland oder China sind genau solche Aspekte herzlich egal. Das uns eigene liberale und solidarische Gesellschaftsmodell müssen wir nicht nur selber behüten und pflegen, sondern auch in der Außenpolitik leben. Dazu gehört meines Erachtens zum Beispiel aktive Unterstützung demokratischer Kräfte im Ausland. Gerade da könnte Österreich einen wertvollen Beitrag leisten. Die Oppositionellen in Russland etwa brauchen Hilfe. Das sind insbesondere Journalist:innen, Künstler:innen, Wissenschafter:innen, NGOs. Die dürfen wir nicht alleinlassen, denn die riskieren ihr Leben durch ihr Eintreten für demokratische Rechte. Ihnen müssen wir unbedingt, wenn sie das brauchen und wollen, auch bei uns vor Ort Schutz und Aufenthaltsrecht bieten.
Europa muss andere Länder an sich binden. Zu diesem Thema gehört insbesondere die EU-Erweiterung am Westbalkan, aber diesbezüglich geht ja auch Österreich mit schönem Beispiel voran, weil Österreich da tatsächlich sehr aktiv ist. Die Außenpolitik, die europäische Außenpolitik ist und muss jedenfalls ein zentraler Pfeiler der Neuausrichtung sein.
Es gäbe dazu noch vieles zu sagen, ich möchte aber eines hervorheben, und zwar einen innereuropäischen Aspekt als Bedingung dafür, dass das funktioniert: Wir können nur dann stark und glaubhaft nach außen sein, wenn wir nach innen stark und einig sind. Leider ist es so, dass die Feinde der offenen Gesellschaft nicht nur weit draußen, sondern innen aktiv sind. Blicken wir da nach Ungarn oder blicken wir auf die steigende Zahl rechtsradikaler Parteien in Europa! (Bundesrat Spanring: Die Grünen! – Weiterer Ruf bei der FPÖ: Die ÖVP!) Es gibt sogar hier bei uns in Österreich eine relevante Gruppe und Partei, die den liberalen Staat und die EU hasst. (Bundesrat Spanring: Die NEOS?)
Ich schließe mit einem weiteren Zitat der Nobelpreisträgerin Matwijtschuk: „Nur die Verbreitung der Idee der Freiheit kann unsere Welt sicherer machen.“ – Danke. (Beifall bei Grünen und ÖVP, bei Bundesrät:innen der SPÖ sowie des Bundesrates Arlamovsky.)
9.43
Präsident Günter Kovacs: Herzlichen Dank, Herr Bundesrat.
Zu Wort hat sich nun Herr Bundesminister Mag. Alexander Schallenberg gemeldet. – Bitte, Herr Minister.