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Landeshauptmann von Salzburg Dr. Wilfried Haslauer: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geschätzten Damen und Herren! Hohes Haus! Es ist mir eine große Ehre, vor dem Bundesrat sprechen zu dürfen, eine Ehre, die ich meinem Vorsitz in der Landeshauptleutekonferenz im ersten Halbjahr 2025 zu verdanken habe. Ich freue mich sehr, dass das Bundesland Salzburg den Vorsitz im Bundesrat stellen darf, und gratuliere Frau Dr. Andrea Eder-Gitschthaler zur Übernahme dieses hohen Amtes.
Da ich mich mit dem Ablauf dieses Halbjahres aus der Politik zurückziehen und meine Funktion als Landeshauptmann zurücklegen werde, möchte ich sozusagen gegen Ende meiner politischen Tätigkeit versuchen, aus meiner Sicht die aktuelle politische Situation in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
Vor drei Jahren, zu Beginn des Ukrainekrieges, hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz von einer Zeitenwende - - (aus der Tonanlage ertönt ein lautes Pfeifen) – geht schon los, die Zeitenwende! –, von einer Zeitenwende angesichts der Tatsache gesprochen, dass in Europa wieder ein bis dahin schon für ausgeschlossen gehaltener konventioneller Krieg geführt wird. Tatsächlich trifft das Wort Zeitenwende einen über den Krieg in der Ukraine weit hinausgehenden Transformationsprozess unserer Gesellschaft in sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht.
Schon 2018 hat der spätere deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen meines Erachtens sehr zutreffend von einem Gefühl in der Gesellschaft gesprochen, dass etwas Altes zu Ende geht, etwas Neues beginnen muss, aber das Neue noch keinen Begriff, keinen Umriss hat. Wir sehen eine Verschiebung der geopolitischen Tektonik. Als Europäer sind wir aus unserem Selbstverständnis über Jahrhunderte heraus gewohnt, der Nabel der Welt zu sein, doch in den letzten 50 Jahren hat sich die Gewichtung massiv verschoben. Hatte Europa noch in den Sechzigerjahren einen Anteil von 13,4 Prozent an der Weltbevölkerung und von 35 Prozent an der globalen Wirtschaftsleistung, weist Europa heute nur mehr 6,8 Prozent der Weltbevölkerung und circa 25 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung auf.
Wir leben auch im Bewusstsein, dass unser demokratisches westliches System das einzig richtige und erstrebenswerte System auf der Welt ist. Die Realität sieht aber völlig anders aus: 7,8 Prozent der Weltbevölkerung leben in vollständigen Demokratien – eine solche gibt es nur in 24 von 195 Staaten weltweit. In der Auseinandersetzung um globale Ordnungssysteme, um Menschenrechte und um wirtschaftliche Prosperität wird der Wettbewerb zwischen den westlichen Demokratiemodellen und autoritären Staatsmodellen sowie die Vermeidung von kleineren und größeren regionalen militärischen Konflikten gerade für unseren Kontinent von größter Bedeutung sein, weil genau diese Fragen – neben den klimatischen Entwicklungen – maßgeblich für Migrationsströme in unseren Kontinent sind.
Die weltpolitische Bedeutungslandkarte verschiebt sich unbeschadet des Ukrainekonfliktes in Richtung pazifisch-asiatischer Raum, wo 60 Prozent der Weltbevölkerung leben. Der Wettlauf um Bodenschätze spielt dabei eine zentrale Rolle, wobei chinesisches wirtschaftliches Hegemonialdenken eine bemerkenswerte Dynamik aufweist.
Militärisch ist neben den USA vor allem China eine Weltmacht; nach wie vor wohl auch Russland, dessen militärische Kapazitäten durch den Ukrainekrieg zwar einerseits gebunden, andererseits aber enorm aufgerüstet sind. Standen die USA mit ihrer Mitgliedschaft zur Nato bisher uneingeschränkt aufseiten Westeuropas und für die Begriffe Freiheit und Demokratie, fand zuletzt ein fast dramatischer Schwenk statt. Im UN-Sicherheitsrat stimmten die USA mit China und Russland gegen eine Resolution, die Russland als Aggressor im Ukrainekrieg bezeichnet. Die USA scheinen sich also zum Nachteil der Ukraine Russland zuzuwenden und von Europa und der Nato abzuwenden, was für Europa zu einer neuen Bedrohungsintensität aus dem Osten und damit zu einem signifikanten Aufrüstungserfordernis führt.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang aber schon, dass sich 500 Millionen Europäer nicht in der Lage sehen, sich ohne die Hilfe von 320 Millionen Amerikanern gegenüber 140 Millionen Russen behaupten zu können.
Die Transformation findet aber auch in politischer Hinsicht statt, indem ein erheblicher politischer Zuzug zu den politischen Rändern – vor allem rechts, aber auch links – stattfindet.
Bemerkenswert ist auch, dass ein anderer Stil, eine andere Kultur an politischem Verhalten und politischen Persönlichkeiten erfolgreich ist. Die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“, nicht gerade bekannt für aggressive Formulierungen, schreibt in ihrer Ausgabe 47 aus 2024, dass mit Donald Trump, ich zitiere, „ein verurteilter Krimineller“, „ruchloser Lügner, elender Hetzer“, „rachsüchtiger Demagoge“ und „Anwalt der Reichen und Mächtigen“ beeindruckend die Wahlen in den USA gewonnen hat.
Wir erleben in wirtschaftlicher Hinsicht gerade eine Abkehr vom freien Welthandel. Die USA heben, um die eigene Wirtschaft zu bevorzugen, Zölle ein – Europa, Kanada, China reagieren entsprechend. Der europäische Industriemotor, nämlich die deutsche Autoindustrie, kommt technologisch und absatzmäßig ins Stottern. Weltweit agierende Technologiekonzerne entziehen sich jeder nationalen Kontrolle und werden zu globalen Supermächten, die unmittelbar Zugriff auf das Denken und das Konsumverhalten von Menschen haben.
Bei all den Entwicklungen gerät das Thema Klimawandel in der öffentlichen Wahrnehmung etwas in den Hintergrund. Naturkatastrophen und Trockenheit, nicht nur in den Ländern des, wie es jetzt heißt, globalen Südens, sondern auch bei uns am europäischen Kontinent, zeigen die Dramatik dessen, was auf uns zukommt.
All unsere Anstrengungen scheinen zu verpuffen, wenn man in Betracht zieht, dass der Anteil Asiens am weltweiten CO2-Ausstoß von 11 Prozent im Jahr 1960 auf jetzt 50 Prozent angestiegen ist. Im selben Zeitraum ist der Anteil Europas am CO2-Ausstoß von 22 Prozent auf 6,3 Prozent zurückgegangen. Die damit verbundene Wettbewerbsungleichheit zusammen mit protektionistischen Maßnahmen – durch massive staatliche Beihilfen in China, durch Zölle in den USA – in Kombination mit überbordender Bürokratie und Verwaltung in Europa, den Investitionsverschiebungen europäischer Unternehmen Richtung außerhalb Europas sowie technologischen Entwicklungen, die ebenfalls vor allem außerhalb Europas stattfinden – man muss sich vorstellen, von den 50 weltweit größten Techunternehmen kommen gerade einmal vier aus Europa –, führt zu einem Verlust an Europas und auch Österreichs Standortattraktivität und damit zu einer Abflachung der wirtschaftlichen Entwicklung.
Die Digitalisierung und vor allem die künstliche Intelligenz sind eine technologische Revolution, die nach Ansicht vieler in ihrer Dimension der Wirkung der Erfindung des Buchdrucks oder der Dampfmaschine auf unsere Gesellschaft und unser Wirtschaftssystem gleichkommt.
Schließlich leben wir auch in einer massiv älter werdenden Gesellschaft. 1964 lag die Lebenserwartung von Männern in Österreich bei 66 Jahren, jetzt sind es 80 Jahre, beziehungsweise ist diese bei den Frauen von 72 auf 84 Jahre gestiegen. Dies stellt hohe Anforderungen an unser Pensionssystem, die damit verbundenen politischen und systemischen Fragen und ist eine enorme Lastenumverteilung auf jüngere Generationen.
Dass unsere Gesellschaft seit Langem in einem Transformationsprozess ist, zeigt die Entwicklung der Akademikerquote, die in den letzten 60 Jahren von 2,7 auf 22,5 Prozent, also um das Achtfache, gestiegen ist. Das BIP hat sich in diesem Zeitraum um das fast 29-Fache vermehrt. Die Frauenerwerbsquote ist von 35 auf 74 Prozent angestiegen, die Mitgliedschaft zur Kirche hingegen von 97 Prozent auf knapp 50 Prozent gefallen. Das Wirtschaftswachstum im Jahr 1964 betrug 9,1 Prozent, letztes Jahr waren es bei uns minus 0,6 Prozent.
Ich habe mich jetzt einigermaßen mit Änderungsprozessen auseinandergesetzt, nicht aber mit der Ausgangslage, sozusagen dem Grundmodell des europäisch-amerikanischen Erfolgsweges. Dieses liegt in den christlichen Wurzeln und in der Aufklärung begründet. Ausgangslage ist das christliche Menschenbild, das in den zentralen Mittelpunkt die Einmaligkeit, Kostbarkeit des Menschen, sozusagen das göttliche Ebenbild, rückt und damit geistesgeschichtlich die Menschenwürde und die Entwicklung der Menschenrechte. Aus dem christlichen Menschenbild ist unsere gesamte Philosophie zu erklären, die Begegnungsqualität als kulturelle Identität, die Hilfsbereitschaft und Solidarität, die Idee des Vergebens und Neuanfangens, aber auch die moralische Verpflichtung, aus den Talenten, die man mitbekommen hat, und aus seinem Leben etwas zu machen, in Bildung und Weiterbildung zu investieren, sich durch eigene Leistung etwas zu schaffen und nicht nur für sich allein, sondern auch für die Gemeinschaft zu leben und sich für andere einzusetzen.
Die Aufklärung hat dem die Trennung von Staat und Kirche hinzugefügt, sodass Fürsten nicht mehr Herrscher von Gottes Gnaden sind, sondern an deren Stelle der Rechts- und Verfassungsstaat tritt, die Freiheit von Unterdrückung und Willkür und damit die individuelle Freiheit sowie der Anspruch auf Gerechtigkeit und Gleichheit. Der Ruf der Französischen Revolution sagt ja alles aus: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!
Auch die wissenschaftliche Durchdringung der Welt, die Innovationskraft unserer Gesellschaft, das vernunftbezogene Handeln, das Agieren auf Faktengrundlage und vor allem die Toleranz sind der Aufklärung zu verdanken. Das Wort Toleranz kommt in der Bibel ja gar nicht vor, es ist eine Erfindung der Aufklärung – respektiert andere Meinungen, ohne sich diesen zu unterwerfen – und ist damit die Grundvoraussetzung für Demokratie.
Die Entwicklung in unserer Zeit entfernt sich aber tendenziell von den christlichen Grundwerten und denen der Aufklärung, wie ich meine. Emotion tritt vielfach an die Stelle von Vernunft, verbunden mit enormer Wissenschaftsskepsis, Radikalisierung ersetzt Besonnenheit, und Toleranz ist im politischen Diskurs nicht gerade die Stärke unserer Zeit. Egoismus ist bestimmender als Solidarität, auch was Gruppenegoismen und die Verweigerung des Blickes auf das Ganze betrifft. Schuldzuweisung ist leichter als Selbstverantwortung, und Anspruchsdenken überlagert Eigenleistung. Die Sehnsucht nach Freizeit ersetzt die Werte von Fleiß und Arbeit, die als Selbstausbeutung diskreditiert werden.
Demokratische Systemermüdung und Wohlstandslangeweile sind Einfallstore für radikale Geisteshaltungen. Mit einem bemerkenswerten Schamverlust wird anstelle von Fakten postfaktisch, also mit glatten Unwahrheiten oder freien Erfindungen, agiert. Die Ablehnung von Eliten geht Hand in Hand mit einem selbstgewählten Opferstatus. Die mobile Gesellschaft von heute wechselt oftmals ihre Beziehungen, ihre Arbeitsverhältnisse, das Freizeitverhalten, aber auch die Wohnorte und die Parteipräferenzen. Erlebniswerte wie Urlaube, Reisen, Events bekommen Vorzug vor bleibenden Werten. Und die Digitalisierung ist neben Lesen, Schreiben und Rechnen zu einer eigenen Kulturtechnik geworden.
Unsere Gesellschaft hat also viele Gesichter. Sie ist zum einen eine Angstgesellschaft. Es besteht breite Verunsicherung über den Zustand der Welt. Die explodierende Vielfalt bringt Entscheidungsschmerzen, fixe Anker gelten nicht mehr.
Sehr aussagekräftig ist der oft zu hörende Spruch: Unsere Kinder sollen es einmal nicht schlechter haben! – Früher hieß es: Unsere Kinder sollen es einmal besser haben! Unbewusst ist man also an der Spitze der denkbaren Wohlstandserlangung angelangt und glaubt nicht daran, dass es noch einmal besser werden kann.
Migration und die damit verbundene Kulturänderung stiften Beunruhigung in der Bevölkerung. Ich darf nochmals darauf hinweisen, dass vor 60 Jahren mehr als 90 Prozent christlich beziehungsweise katholisch waren. Jetzt ist es nur mehr circa die Hälfte, und circa 15 Prozent – wahrscheinlich mehr – sind Muslime.
Die Angst vor Wohlstandsverlust, täglich schlechte Nachrichten, die schwierige Budgetlage, die internationale Wirtschaftskrise, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, die Entwicklungen in den USA, die hohen Stromkosten, Inflation und hohe Zinsen befeuern den Zukunftspessimismus, der auf eine überbehütete Gesellschaft trifft, in der Hubschraubereltern ihre Kinder in einem bisher nicht geahnten Ausmaß umsorgen. Karl Valentin formulierte das einst so: „Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist“.
Unsere Gesellschaft wird zur Zweidrittelgesellschaft. Medienvielfalt im weitesten Sinn – bis hin zu sozialen Medien – ist nicht nur mehr der Ausdruck von Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit, sondern eine diffundierende Flut, die auch dazu beiträgt, dass sich eine wachsende Minderheit in maßgeschneiderte Echokammern zurückzieht. Diese Gruppe identifiziert sich nicht mehr mit der Demokratie und deren Institutionen; sie fühlt sich auch nicht mehr von den klassischen Medien – Fernsehen, Print – angesprochen. So gesehen scheinen wir auf einem Weg in eine Zweidrittelgesellschaft zu sein: Zwei Drittel tragen unser System noch mit, fühlen sich als dessen Bestandteil; ein Drittel will damit nichts mehr zu tun haben, steht außerhalb oder bekämpft es sogar. Unser Grundkonsens droht in ein Sandloch aus Gleichgültigkeit, Fake News, Desinteresse, Egoismus und radikalisierter Verachtung hineingezogen zu werden und dort zu ersticken.
Wir sind auch eine Sehnsuchtsgesellschaft. All diese Verunsicherungen führen zu vielfältigen Sehnsüchten in der Gesellschaft wie nach einer starken Führungspersönlichkeit, die endlich aufräumt und durchgreift. Sie führt zu einer Vergangenheitsverklärung nach dem Motto: Es muss wieder einmal so werden, wie es einmal war; etwas, das natürlich völlig irrational ist, da die Zeiten früher alles andere als besser gewesen sind, mit Ausnahme der Zukunftserwartung, die früher möglicherweise zuversichtlicher war. Eine weitere Sehnsucht ist jene nach ethnischer Reinheit nach dem Motto: Wir müssen wieder wir sein können, also alle Ausländer, alles Andersartige und fremdländisch Anmutende raus aus Österreich – etwas, das zu einem Totalzusammenbruch unseres Landes führen würde.
Dazu kommen sozialromantische Sehnsüchte nach einem Fürsorgestaat, der sich um alles kümmert, für alles verantwortlich ist und den Menschen alle Sorgen durch Sozialisierung und Vergesellschaftung nimmt – Konzepte, die sich in der Realität nicht bewährt haben, die, wie wir aus der Vergangenheit wissen, total gescheitert sind.
Wir sind auch eine Streitgesellschaft. Die politische Kultur und ihre Auseinandersetzung kommen einem derzeit wie die Reise in einer Postkutsche vor, in der die Insassen permanent über die Sitzordnung, das Reiseziel, die Zwischenstationen und auch die Reisegeschwindigkeit streiten, wobei es allen zu langsam geht. Schuld daran ist der jeweils andere. Man kann sich nicht einmal auf einen gemeinsamen Kutscher einigen. (Heiterkeit bei Bundesrät:innen der ÖVP.)
So gut wie alles, jeder Vorschlag wird ritualisiert, als ungeeignet schlechtgemacht. Man hat den Eindruck, dass Österreich ähnlich wie in der Ersten Republik in politische Lager aufgeteilt ist, die einander auch mit persönlicher Abneigung, ja geradezu mit Hass befehden und bekämpfen, beleidigen und verunglimpfen.
Die Bevölkerung wendet sich mit Abscheu von den Vorgängen ab.
Vielleicht sind wir auch eine bewusstseinslose, ja sogar bewusstlose Gesellschaft.
Kürzlich habe ich in einer Studie gelesen, dass nur mehr 18 Prozent unserer Bevölkerung bereit sind, Österreich im Falle einer Aggression mit der Waffe zu verteidigen – 18 Prozent!
Haben wir nichts zu verlieren? Haben wir nicht mit dem Blut, dem Schweiß und den Tränen unserer Eltern und Großeltern individuelle Freiheit, Demokratie, Meinungsfreiheit, Bildungsmöglichkeiten, Wohlstand, soziale Absicherung, ein im internationalen Vergleich großartiges Gesundheitssystem, den freien Zugang zu Universitäten und Bildungseinrichtungen, eine hochqualitative Altenpflege, Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten, ja Chancen für alle erreicht? – Das ist nicht mehr verteidigungswürdig?
Wir sind in eine Gesellschaft ohne Bewusstsein für unsere Errungenschaften und in eine Gesellschaft der Selbstverständlichkeiten geraten, die uns zum reifen Fallobst für Verschwörungstheoretiker, radikale Islamisten, aber auch manipulierende Geschäftsmodelle macht. (Beifall bei der ÖVP, bei Bundesrät:innen der SPÖ sowie des Bundesrates Schreuder [Grüne/W].)
Meine Damen und Herren, große Transformationsprozesse erfordern nicht nur ein reflektierendes Bewusstsein über stattfindende Änderungen, sondern auch Konzepte und Antworten, wie derartige Prozesse begleitet, zunutze gemacht und möglicherweise auch beeinflusst werden können. Eines ist klar: Die Transformation findet statt, ob wir wollen oder nicht.
Doch wie gehen wir mit dieser Veränderung um? – Lassen Sie mich versuchen, darauf ein paar Antworten zu geben.
Erstens: Da ist zunächst die Sinnfrage. Vielleicht sollten wir wieder einmal mehr Wert auf die Frage und auf die Diskussion darüber legen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind, ob wir nicht zu mehr berufen sind als zur Nahrungsaufnahme, zur Wohlstandserlangung und zum Urlauben. Also: Gibt es da mehr als volle Schaufenster? Ein englisches Zitat lautet: „The assets that really count are the ones accountants can’t count.“
Die Sinnfrage für jeden Einzelnen stellt sich aber auch für unser Staatswesen und unser Gesellschaftsmodell insgesamt. Welches Ziel hat unsere republikanisch-demokratisch-föderale Verfasstheit heute noch? Haben wir noch einen Grundkonsens? Geht es primär um Wohlstand, um soziale Absicherung? Geht es um Freiheit oder mehr Sicherheit? Geht es hauptsächlich um Gleichheit und um Gerechtigkeit? Wie ist das Verhältnis der individuellen Leistungsfähigkeit zur Rolle des Staates? Wo sehen wir unsere Stärken – in der Kultur, im Sport, in der Innovation und Forschung? Ist Politik etwas für Spezialisten, etwas, mit dem man sich als Wähler nicht anpatzen will, oder eine öffentliche Aufgabe und ein ehrenvolles Amt?
Lassen Sie uns doch einmal wieder grundsätzlich über Fragen wie diese diskutieren!
Zweitens: Reden wir zur Abwechslung einmal primär über Gemeinsamkeiten und nicht über das, was uns trennt! Bauen wir an einem New Deal der Gemeinsamkeit für Österreich! Definieren wir unsere gemeinsamen Ziele hinsichtlich dessen, wo Österreich in zehn oder 20 Jahren stehen soll, und arbeiten wir an diesen Zielen als Visionen für Österreich in einem breiten gesellschaftlichen Prozess!
Das ist nicht nur Aufgabe der Regierung, sondern auch des Parlaments, vieler Institutionen, der Medien und der Gesellschaft schlechthin, also eines öffentlichen Diskurses.
Drittens: Eine wirkliche Innovation wäre einmal, das Gute im anderen zu suchen und nicht nur das Negative.
Was wäre mit einem Vorhaben, ein Jahr lang einander nicht zu beschimpfen, einander nicht Unfähigkeit, schlechte Absichten, charakterliche Minderwertigkeit zu unterstellen, sondern Respekt vor unterschiedlichen Vorstellungen und Standpunkten und der Leidenschaft, mit denen diese vertreten werden, zu haben, sozusagen Wertschätzung reloaded? (Beifall bei ÖVP und SPÖ sowie der Bundesrät:innen Schreuder [Grüne/W] und Sumah-Vospernik [NEOS/W].)
Viertens: Arbeiten wir kontinuierlich an unserem System, um es effizienter, bürger- und dienstleistungsfreundlicher zu machen! In der neuen Regierung gibt es einen Staatssekretär für Deregulierung – gut so, was für eine wichtige Aufgabe!
Als Vorsitzender der Landeshauptleutekonferenz biete ich eine Reformpartnerschaft zwischen Bund und Ländern an. Lassen Sie uns eine gemeinsame Arbeitsgruppe einsetzen, die sich den vielen kleinen Verbesserungsmöglichkeiten widmet, ohne die großen aus den Augen zu verlieren! Weg mit den bürokratischen Alltagsärgernissen! Was hindert uns eigentlich daran, den Österreich-Konvent neu zu beleben und über die Verteilung der Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aus heutiger Sicht neu zu diskutieren?
Gehen wir vor allem auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung das Thema Digitalisierung und künstliche Intelligenz an!
Das Bundesland Salzburg etwa ist dem deutschen Gov-Tech-Campus beigetreten, einer Vereinigung von rund 150 deutschen Institutionen, aus öffentlichen Gebietskörperschaften, Know-how-Trägern und Unternehmen, die sich mit Effizienzsteigerung der Verwaltung durch Digitalisierung und KI befassen. Ich würde dieses Modell gerne auf Österreich ausrollen, um auch auf Erfahrungen anderer Länder zurückgreifen zu können.
Fünftens, das Wichtigste: Schauen wir nicht permanent zurück, sondern nach vorne! (Beifall bei der ÖVP, bei Bundesrät:innen der SPÖ sowie der Bundesrät:innen Schreuder [Grüne/W] und Sumah-Vospernik [NEOS/W].)
Definieren wir Zukunft nicht als Schicksal, in dem wir bloß Passagiere sind, sondern als Handlungsfeld, das wir ganz bewusst gestalten und in unserem Sinne beeinflussen wollen!
Sechstens: Geben wir eine entschlossene, eine europäische Antwort! Lassen Sie unseren Kontinent nicht zu einem Spielball zwischen amerikanischen, russischen und chinesischen Interessen verkommen, der nur getreten wird und dem bald einmal die Luft ausgeht, sondern nehmen wir die Dinge selbst in die Hand und die Herausforderungen mit Entschiedenheit an!
Siebentens: Arbeiten wir an einem neuen Bewusstsein! Wir haben etwas zu verteidigen und sehr, sehr viel zu verlieren.
Treten wir beherzt für unsere Errungenschaften, für unsere liberale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein! Schon Aristoteles sagte: Die Demokratie reicht nur so weit wie die Stimme ihrer Herolde.
Seien wir selbstbewusst und gehen wir mit Selbstvertrauen an die Aufgabe heran! Wir können das. Wir sind fleißig. Wir sind kreativ und innovativ. Wir sind beweglich und große Diplomaten und eine Weltmacht in der Kultur. All das wird uns helfen.
Und fürchten wir uns nicht unentwegt! Halten wir es mit dem Apostel Paulus, der in seinem Brief an Timotheus schreibt: Jesus hat uns nicht die Verzagtheit, sondern den Mut, die Kraft, die Liebe und die Besonnenheit gegeben. (Beifall bei der ÖVP.)
Strahlen wir Zuversicht, Lebensfreude und Zuneigung statt Angst, Furcht und Hass aus! Bekanntlich runzelt mit dem Verzicht auf Begeisterung die Seele – Albert Schweitzer.
Rücken wir zusammen! Wir sind einander nicht Feind, sondern lassen Sie uns in Fairness um die besten Lösungen für unser Land ringen!
Lassen Sie uns Österreich als Standort wieder wettbewerbsfähiger machen und mit neuem Pioniergeist in spannende Zeiten aufbrechen, in denen nicht Besitzstandswahrung und Klientelpolitik das Wesentliche sind, sondern der gemeinsame Weg in die Zukunft dieses wunderbaren Landes im Herzen Europas!
All diese Antworten, meine Damen und Herren, können wir nur gemeinsam geben. Den Ländern und Regionen kommt dabei eine wichtige, ja entscheidende Aufgabe zu.
Wir können Zukunft! Lassen Sie es uns einfach versuchen! – Vielen Dank. (Lang anhaltender Beifall bei ÖVP, SPÖ und Grünen sowie der Bundesrätinnen Doppler [FPÖ/Sbg.] und Sumah-Vospernik [NEOS/W].)
9.30
Präsidentin Dr. Andrea Eder-Gitschthaler: Ich danke dem Herrn Landeshauptmann für seine Ausführungen. Ich freue mich auch, dass Herr Staatssekretär für Deregulierung Josef – Sepp – Schellhorn, ein Salzburger, schon eingelangt ist und diese Rede auch mitgehört hat. (Allgemeine Heiterkeit. – Beifall bei ÖVP, SPÖ und Grünen sowie der Bundesrätin Sumah-Vospernik [NEOS/W].) – Lieber Sepp, sei herzlich willkommen!
Wir gehen nun in die Debatte ein.
Als Erster zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Silvester Gfrerer. – Bitte, Herr Bundesrat, ich erteile es Ihnen.