13.08

Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie Leonore Gewessler, BA: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Ein ganz besonderes Willkommen möchte ich den Abgeordneten des Europaparlaments gerade zu dieser Debatte ausrichten! Liebe EU-Bürgerinnen und ‑Bürger, die Sie uns heute bei dieser Debatte zuschauen! Ich habe nachgeschaut, am 12. Juni 1994, am Tag des Referendums über den EU-Beitritt Österreichs, war ich 16, konnte also noch nicht mitstimmen. Ich kann mich aber noch sehr genau an die Freude erinnern, die ich damals, an dem Tag gefühlt habe, als ich die Entscheidung gehört habe.

Knapp 20 Jahre später – beinahe auf den Tag genau 20 Jahre später – habe ich nach sechs Jahren in Brüssel, wo ich für ein starkes, für ein solidarisches, für ein soziales, für ein ökologisches Europa gearbeitet habe, meine Koffer gepackt und bin wieder nach Österreich zurückgekehrt. Seit damals steht auf meinem Twitter-Profil „Europäische Österreicherin“.

Ja, klar, ich spüre Begeisterung für Europa, wenn ich an unser Europa denke, wenn ich an die EU denke, und an das, was es ist, und noch mehr, wenn ich innehalte und mir überlege, was es noch sein kann. Ich weiß, diese Einstellung teile ich mit vielen Men­schen in Österreich, in Europa, in der gesamten EU, weil wir sehen, was wir an der EU haben. Wir haben es, glaube ich, letztes Jahr deutlich und schmerzlich erlebt, was es heißt, wenn wir die Errungenschaften, die wir gemeinsam erreicht haben, nicht mehr haben. Wie sehr hat uns die Reisefreiheit gefehlt und wie schmerzlich haben wir gespürt, was es bedeutet, wenn Grenzen innerhalb von Europa wieder hochgehen.

Wir sehen aber auch, welches Potenzial wir in unserer Europäischen Union haben. Genau diese Begeisterung, dieses Wissen um das, was die Europäische Union, was Europa für uns bedeutet, ist es, was das Projekt am Laufen hält, und es ist wunderbar und es ist gut so. Andernfalls müsste man es erfinden, damit es weiterläuft. Viele groß­artige Fortschritte, viele großartige Errungenschaften haben wir in dieser EU bereits gemeinsam gemacht, gemeinsam erreicht. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeord­neten der ÖVP.)

Von Zeit zu Zeit ist es aber gut und wichtig und notwendig, dass man ein Projekt nicht nur am Laufen hält, sondern dass man auch kurz die Pausetaste drückt, um zu sehen: Wo stehen wir gerade, wo wollen wir hin, wo drückt der Schuh, welche Veränderungen braucht es, damit wir unsere Ziele erreichen, das, was wir uns gemeinsam vorge­nommen haben, auch wirklich schaffen? Gerade das Überzeugtsein vom europäischen Projekt, gerade das Wissen darum, wie wichtig es ist, hindert uns ja gar nicht daran, zu sehen, was noch nicht optimal läuft. Ganz im Gegenteil: Genau diese Begeisterung, genau dieses Wissen um das, was wir noch tun müssen, gibt uns die Kraft, die notwendigen Veränderungen auch wirklich anzugehen.

Gerade wir hier, gerade wir, die den politischen Diskurs in unserem Land, in der Europäischen Union auch ganz besonders mitbestimmen, haben Verantwortung für diese Diskussion, haben Verantwortung für den Stil dieser Diskussion. Wir sollten nie vergessen: Wenn wir von der EU fordern, dann fordern wir am Ende von uns – denn die Europäische Union, das sind wir, wir machen als Gesamtes die Europäische Union aus. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Genau dieses Innehalten, genau dieses Nachdenken, genau dieses Auf-die-Pausetaste-Drücken und sich überlegen, was wir für die nächsten großen Entwicklungsschritte der Europäischen Union brauchen, das machen wir jetzt wieder einmal in der EU: mit der Zukunftskonferenz, die am 9. Mai eröffnet wurde. Die Zukunftskonferenz bietet uns die Möglichkeit, uns genauer mit den vielfältigen Herausforderungen und offenen Fragen, die sich in den vergangenen Jahren gestellt haben, auseinanderzusetzen und vor allem gute Lösungen, gute Antworten zu finden, denn um gut zu bleiben, muss die EU als Gemeinschaft, als Gemeinschaftsprojekt stets flexibel bleiben, muss lernfähig sein, muss auch Korrekturprozesse zulassen.

Natürlich gibt es Verbesserungspotenzial, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Nicht zuletzt die vergangenen Monate haben gezeigt, wo wir Schwachpunkte haben, wo wir vor allem auch in Krisensituationen sehen, dass wir noch Luft nach oben haben: im guten Umgang in der Union miteinander, mit Krisensituationen.

Wir haben im Jahr der Pandemie, in einem Jahr, das sicher ein historisches war, das viel Leid verursacht hat, in Österreich, in Europa, auch gesehen, dass das ein Moment in unserer Geschichte war, in dem wir auch sehr klar Schwächen wahrgenommen haben – aber es kann genauso der Moment in unserer Geschichte gewesen sein, in dem sich Europa zusammengesetzt und einen weiteren Schritt Richtung Zukunft gemacht hat. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Wir müssen unsere Grundsätze, die Mechanismen der Union und ihre Strukturen wirklich ambitioniert reflektieren, manches neu überdenken. So können wir, wo notwendig, auch Anpassungen und Reformen in Gang setzen. Das kann allerdings nur geschehen, wenn wir wirklich zu innovativen und wirksamen Ergebnissen kommen. Diese Ergebnisse wer­den wir nur erreichen – davon bin ich überzeugt –, wenn wir einen breiten Mitwirkungs­prozess beim Nachdenken, beim Reflektieren, beim Diskutieren und beim Evaluieren im Rahmen dieser Zukunftskonferenz und ihrer unzähligen Einzelveranstaltungen schaffen. Alle Bürgerinnen und Bürger Europas sind eingeladen, sich daran zu beteiligen, denn über Europa und über Europas Zukunft nachzudenken heißt, über unsere eigene Zukunft nachzudenken.

Mit dieser Zukunftskonferenz wollen wir die Arbeit der Europäischen Union auf frische, auf fitte, auf verlässliche Beine stellen. Wir wollen eine EU gestalten, die fair ist, die nachhaltig ist, ressourcenschonend, umwelterhaltend, aber eben auch bürgerinnen- und bürgernahe auf die großen Herausforderungen der Zeit eingeht und diesen begegnet, indem wir politische und gesellschaftliche Modelle finden, deren praktische Umsetzung auch unser aller Vertrauen in dieses Jahrhundertprojekt Europäische Union wieder stärkt.

Es ist klar, dass das nur gelingen kann, wenn dieser Reformprozess von allen mitge­tragen wird, die von den Ergebnissen betroffen sein werden. Europa denkt über sich nach heißt also insbesondere auch, dass die europäischen Bürgerinnen und Bürger es sind, um die es eigentlich geht.

Eine der zentralen Fragen der Zukunftskonferenz ist die Demokratie in Europa. Diese Frage ist im Grunde nicht neu, sie drängt vor allem immer wieder in Zeiten von Krisen hervor. Wir wissen, die große, aktuelle Herausforderung ist die Bewältigung der medizi­nischen, der sozialen, der ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie und damit zu­sammenhängend der Aufbau unserer Wirtschaft auf ökologischen Grundlagen – und vor allem der historische Auftrag unserer Generation, nämlich der Klimakrise und der Krise der Biodiversität etwas entgegenzusetzen. Darum geht es genau jetzt. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Mit dem Green Deal haben wir uns in der EU bereits ein hervorragendes Werkzeug in die Hand gegeben. Die große gemeinsame Aufgabe, die sich jetzt auf ganz viele und sehr unterschiedliche Politikbereiche erstreckt, ist die Umsetzung. Wenn man sich anschaut, was wir im Umweltminister-, -ministerinnenrat gerade auf der Tagesordnung haben – Kreislaufwirtschaft, die Maßnahmen und Wege zur Erreichung unserer Klima­ziele, das Nullverschmutzungsziel, die Förderung für ökologisch nachhaltige Inves­titio­nen in Wirtschaft und Industrie, die Erzeugung von sauberer Energie, nachhaltigen Gütern, ein klimaneutrales Mobilitätssystem, der Erhalt und Schutz unserer ökologi­schen Lebensgrundlagen, wie wir die globalen Nachhaltigkeitsziele, die SDGs, auch auf europäischer und globaler Ebene weitertreiben –, zeigt das: Für eine lebenswerte Zukunft in Europa, in Österreich, auf diesem Planeten ist gerade viel zu tun und da tut die Europäische Union gerade sehr, sehr viel.

Für eine lebenswerte Zukunft – und das ist mir in diesem Zusammenhang auch be­son­ders wichtig, zu erwähnen –: In jedem dieser Umweltbereiche geht es darum, dass wir in Europa niemanden zurücklassen. Leave no one behind! – Das darf nicht nur eine Überschrift sein, das muss sich auch in konkreten Ergebnissen widerspiegeln. (Beifall bei den Grünen sowie des Abg. Sieber.)

Wir brauchen auch ein Mitdenken der internationalen Dimension, das versteht sich von selbst. Wir sind uns alle, glaube ich, dessen bewusst, dass wir letztlich nur zusammen mit unseren Partnern, mit unseren MitstreiterInnen große Lösungen für unseren Planeten entwickeln können. Unser gemeinsames Nachdenken über Europa und seine Strukturen soll dazu dienen, den Herausforderungen, die ich beschrieben habe, mit den passenden Maßnahmen und Mitteln zu begegnen, unserer Gemeinschaft Europäische Union auch das strukturelle Rüstzeug mitzugeben, das für die Bewältigung gegen­wärtiger und zukünftiger Krisen geeignet ist.

Die besten Lösungen zu finden, das ist jetzt die Aufgabe, und das geschieht am besten durch die Mitsprache möglichst vieler Menschen. Die EU-Zukunftskonferenz – lasst uns das nie vergessen! – ist als zivilgesellschaftlicher Prozess ausgelegt. Alle Bürgerinnen und Bürger, zivilgesellschaftlichen Akteure aus allen Mitgliedstaaten sind zur Beteiligung aufgerufen. Ja, wir wollen, und ja, wir müssen alle diese Stimmen hören, denn ein Europa, eine Europäische Union, die nur manche Stimmen hört, wird blinde Flecken nicht vermeiden können.

Wir sind deshalb auf die Bürgerinnen und Bürger angewiesen, und deshalb mein Appell an Sie, an alle, die uns heute zuschauen: Nützen Sie diese Chance, ergreifen Sie diese Chance, machen Sie diesen Schritt und unterstützen Sie die EU, unterstützen Sie uns alle bei unserem Weg und bei unserem neuen Schritt Richtung Zukunft! (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Am 19. Juni findet das erste Konferenzplenum der Zukunftskonferenz statt. Ein Event für Bürgerinnen und Bürger wird stattfinden, auch eine Österreicherin ist vertreten: Valentina Gutkas wird am 17. Juni in Lissabon für uns die Stimme erheben. Ich glaube, es ist eine Einladung an Sie alle, dass Sie ihr mit offenen Ohren zuhören, was uns vor allem junge Menschen über die Zukunft der Europäischen Union zu sagen haben. (Präsident Hofer gibt das Glockenzeichen.)

Die Zukunftskonferenz wird sich mit vielen Fragen beschäftigen, aber ich hoffe vor allem auch darauf, dass die Zukunftskonferenz ein bisschen etwas von der Begeisterung für dieses großartige europäische Projekt weiter belebt oder auch neu auslöst. Da geht es um eine Begeisterung für die Menschen in Europa, für die Diversität, für den Zusam­menhalt, für das Voneinanderlernen, für die gemeinsame Zukunftsgestaltung – eine Begeisterung für das Projekt Europäische Union. (Beifall bei den Grünen und bei Abge­ordneten der ÖVP.)

13.19

Präsident Ing. Norbert Hofer: Wir gehen nun in die Debatte ein.

Ich mache darauf aufmerksam, dass laut der Vereinbarung in der Präsidialkonferenz kein Redner länger als 5 Minuten sprechen soll.

Zu Wort gelangt nun Herr Dr. Reinhold Lopatka. – Bitte, Herr Abgeordneter.