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Bundesminister für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport Vizekanzler Mag. Werner Kogler: Herr Präsident! Hohes Haus! Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank! Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle, die hier leben! Ge­schätzte Abgeordnete! Der 24.2.2022 wird die Geschichte Europas – zumindest vorü­bergehend – wieder einmal verändern, er wird Europa verändern. Es ist kein guter Tag.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat keine Rechtfertigung, deshalb verurteilen wir diesen auch aufs Schärfste, und unsere Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine. Auf europäischer Ebene werden heute schon wieder gemeinsam mit anderen Partnern weitere Schritte gesetzt. Nun, wir haben im 20. Jahrhundert in Europa fürchterliche Gräu­el durch Vernichtung und Kriegshandlungen erlebt. Eine der Lehren aus der Geschichte war doch die Gründung der Vereinten Nationen und die UN-Charta, die unter anderem die Rechtsgrundlagen für das Gewaltverbot zwischen Staaten bildet. Es wurde festge­halten, dass das Prinzip des Rechts an die Stelle des Prinzips der Gewalt gesetzt wird. Die Basis für diesen jahrzehntelangen Frieden in Europa war eben das Prinzip der ge­genseitigen Anerkennung der Staatsgrenzen.

Der russische Staatspräsident hat schon vorgestern – nach einer an seltsamer und ge­schichtsfälschender Theatralik kaum zu überbietenden Rede – und mit den Angriffen von heute Nacht und heute Morgen die Friedensordnung in Europa infrage gestellt. Na­türlich ist es richtig, dass sich die Nachkriegsordnung Europas seit 1955 immer wieder massiv verändert hat, gerade auch dank des Bemühens der damaligen Sowjetunion. Es ist auch viel anzuerkennen. Ich möchte mich dem ausdrücklich anschließen, auch wenn ich es nicht wiederhole. Es hat sich viel verändert; das ist auch der Sowjetunion und dem letzten Generalsekretär der KPdSU und damaligem Staatspräsidenten der Sowjetunion zu verdanken. Es wurden begründete Hoffnungen auf ein gemeinsames Haus Europa gesetzt, es hieß auch so. Diese Vision Gorbatschows und anderer wurde – bislang je­denfalls – nicht verwirklicht.

Ist es nun die alleinige Schuld der nachfolgenden Russischen Föderation oder des Präsi­denten Putin, dass das nicht gelungen ist? – Sicher nicht! Wir dürfen schon auch diese Seite der Geschichte sehen, dass möglicherweise der nordatlantische Pakt nicht immer ausreichend sensibel vorgegangen ist, in diesen vergangenen  mittlerweile Jahrzehn­ten. Das sollte nicht unerwähnt bleiben. (Abg. Kassegger: Sehr gut ...! Vollkommen richtig!)

Insgesamt haben viele außenpolitische Bemühungen dann nicht mehr dazu geführt, dass es zu weiteren Abrüstungsverträgen oder Rüstungskontrollverträgen gekommen ist. Ja, sie wurden zum Teil sogar sistiert, das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Eines allerdings sei in Bezug auf diese Reden des russischen Präsidenten schon noch klargestellt: Wenn es nun heißt, dass die Russische Föderation unter anderem aus Ei­genschutz die Ukraine einem Angriffskrieg aussetzt, weil sich dort entweder Atomwaf­fen – vielleicht noch aus Restbeständen – befinden würden oder aber jedenfalls die Be­hauptung vernehmbar war, dass die Ukraine Atomwaffen entwickeln könnte und so die Sicherheit der Russischen Föderation bedrohen würde, dann muss man das zurückwei­sen, und zwar als etwas, das wir kennen, als Rhetorik mit 180 Grad Verdrehung von Wahrheit und Wirklichkeit, in einem diktatorischen Regime, so wie wir das kennen.

Das ist die Wahrheit, und ich kann es Ihnen auch belegen: Es war doch die Ukraine, die mit den Vereinigten Staaten und mit den Folgestaaten der Sowjetunion einen trilateralen Vertrag geschlossen hat, mit dem Atomwaffen zurückgegeben wurden, gegen das Ver­sprechen zur Sicherheit der Ukraine selbst! Was erleben wir jetzt?  Wir wissen, was passiert, während wir hier diskutieren. Aber jene um 180 Grad verdrehte Behauptung muss an dieser Stelle als solche zurückgewiesen werden. (Beifall bei Grünen und ÖVP.)

Ja, die Spaltung zeichnet sich schon länger ab – das ist schon richtig. Es war eben so: auf der einen Seite die Europäische Union und die Nato, auf der anderen Seite Russland mit den beanspruchten Einflussgebieten. Das werden wir nun nicht alles klären können – auch nicht in der anschließenden Debatte, denke ich. Gibt einem das allerdings das Recht, auf diese Art und Weise einem Nachbarn die Pistole anzusetzen und auch abzu­drücken? Ist das so? Sind wir wieder so weit? – Nein! Deshalb werden wir alle Mittel der Politik, der Diplomatie und auch der Sanktionen – darauf werde ich noch eingehen – ergreifen, um uns dem entgegenzustellen. Diese weitere Spaltung passiert doch mit einer schon lange nicht mehr für möglich gehaltenen und in dem Sinn ungeahnten, für lange Zeit unbekannten Kriegspolitik, einer militärischen Aggression ohne viel Zurück­haltung.

Deshalb sei noch einmal gesagt: Bereits heute wird die Europäische Union gemeinsam mit anderen Partnern weitere massive Maßnahmen entwickeln, beschließen und voran­treiben. Die Rolle Österreichs ist sicher die, diese mit zu entwickeln und auch mitzu­tragen. Es kann nämlich nicht Ziel der Neutralität sein, teilnahmslos zuzuschauen, wenn ein derartiger Aggressionskrieg geführt wird. Das kann es nicht sein. Neutralität heißt eben nicht, sich teilnahmslos zurückzulehnen und jeden Bruch des Völkerrechts hin­zunehmen; es sind ja mehrere in einer Reihenfolge. Das heißt es eben nicht  falls hier jemand meint, Neutralität so interpretieren zu müssen. Sie hat viele Facetten, und eine aktive Neutralität muss gegenwärtig auch eine engagierte Neutralität sein.

Wenn man die Vorgänge in Weißrussland schon länger beobachtet, auch die dortigen Manöverübungen und dass man verkündet hat, dass man dort gleich gar nicht rausgeht, um auch von diesem Staatsgebiet aus den Angriff vorzutragen – das ist ja auch ein ge­sichertes Wissen, von dem der Bundeskanzler gesprochen hat –, und wenn wir uns den Blick auf den – ich weiß nicht wie großen – Kreis erlauben, zu dem jedenfalls Präsident Putin selbst und sicherlich nicht allzu wenige um ihn herum gehören, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich vor etwas ganz anderem fürchten als vor einer Bedrohung durch die Ukraine mit angeblichen Atomwaffenentwicklungen. Die aller­jüngste Geschichte Weißrusslands ist doch ein Beweis dafür, dass wir es da nachgerade mit einem Export, zumindest aber mit einer Stärkung von diktatorischen Systemen als Mittel der Politik und in dem Fall des Präsidenten Putin und Russlands zu tun haben. Das ist doch klar erkennbar!

Warum kann das so sein? – Weil die wirkliche Furcht jene vor einem ganz anderen Le­bensmodell, Demokratiemodell (Abg. Meinl-Reisinger: Wirtschaftsmodell!) – und Wirt­schaftsmodell, richtig!, weil wir ja sehen, was wie erfolgreich ist, aber darauf gehe ich dann vielleicht bei den Sanktionen noch einmal ein –, Rechtsstaatlichkeitsmodell und so weiter und so fort ist. Es ist doch offenkundig – um meine rhetorische Frage zu beant­worten –, dass da auch eine Sorge vorherrscht, dass nämlich in den Nachbarstaaten dieses Modell präferiert wird und dann auf Russland überschwappen könnte.

Deshalb scheint es jedenfalls so zu sein, dass für den russischen Präsidenten gilt, die Nachbarstaaten möglichst frei davon zu halten. – Das ist die verkehrte Freiheit! Das ist auch wieder genau um 180 Grad verkehrt herum. Diese Selbstbestimmtheit von Staa­ten – ich lasse mich gar nicht auf die historischen Herleitungen, die wir da vor zwei Tagen hinnehmen mussten, ein, denn das steht ja jedem zu, auch dem russischen Staats­präsidenten –, diese Grenzen hat die Nachkriegsordnung ganz genau festgelegt. Es gibt Verträge, und die sind gebrochen worden. Das ist auch – noch einmal – der Grund, wa­rum unsere Neutralität an dieser Stelle eben genau keine teilnahmslose sein kann.

Das Gesetz des Handelns: Wer das hat, ist schwierig zu beantworten, wenn wir ehrlich sind, aber dass dieses aggressive Treiben nicht unbeantwortet bleiben kann, das ist hoffentlich hier herinnen den allermeisten klar. Wer auf diese Art und Weise, auf diese kriegerische Art und Weise, die europäische Ordnung zerstört, der stellt ja alles infrage, und deshalb muss es auch Antworten geben.

Damit bin ich jetzt tatsächlich bei den Sanktionen: Ja, das sind jetzt einmal vor allem auch Wirtschaftssanktionen, die massiv sein werden, und sie sind nicht nur glaubwürdig vorzutragen, sondern auch durchzuhalten. Wir haben mit den eingeleiteten Sanktionen noch nicht das Ende erreicht – noch lange nicht. Deshalb wird es heute eben ein neues, massives Paket geben, auch in dem Wissen, dass es europäische Staaten, gerade auch Österreich, ökonomisch – im Rückschlag – treffen kann. Das wird so sein, aber die Frei­heit, die Souveränität und auch das Lebensrecht der Bürgerinnen und Bürger der Ukraine dürfen kein Preisschild haben. Das muss klar sein. (Beifall bei Grünen und ÖVP sowie bei Abgeordneten der NEOS.)

Dort, wo wir in der Ukraine noch souveräne Entscheidungsmöglichkeiten erkennen – diese Passage muss man ja offen gestanden über Nacht überdenken –, werden wir auch weiterhin Wirtschaftshilfen leisten. Wir werden aber sicher nicht Sanktionen verhängen und dann dort Wirtschaftshilfen leisten, wo sie in die falschen Hände gelangen. Wir ha­ben leider diesen dramatischen Zustand erreicht, der sich ja auch stündlich verändert. Wirtschaftshilfe, die jene Gebiete der Ukraine betrifft, die noch souverän bleiben könn­ten, wäre aber angedacht, da gibt es auch Pakete; und das wird auch dazu führen, dass Österreich in seiner Rolle in Zukunft weiterhin gewisse Möglichkeiten hat, gerade mit unserer Tradition – auch da schließe ich mich dem Bundeskanzler an –, auch in dieser schwierigen, schier ausweglos erscheinenden Situation, bei aller Klarheit, dass da in jeder Hinsicht die Grenzen überschritten wurden, aber auch in dem Bewusstsein, dass Brücken weiter bestehen bleiben und nicht eingerissen werden sollen.

Da hat Österreich doch gewisse Möglichkeiten, aber immer im Rahmen und abgestimmt mit der Politik der Europäischen Union. Das ist auch unsere Bereitschaft, genauso wie wir in der Ukraine zunächst einmal auch humanitäre Hilfe zu leisten haben – da ist ges­tern erst wieder ein Millionenpaket im Ministerrat verabschiedet worden –, das wollen wir natürlich aufrechterhalten und zielgerichtet reinbringen, aber das gelingt uns in Öster­reich meistens sehr gut, weil wir die humanitären Organisationen, die vor Ort sind, sehr gut kennen und einschätzen können. Das hat eine hervorragende Tradition – danke dafür auch dem Außenminister, dass wir da derart schnell und zielgerichtet unterwegs sein können.

Ja, die Ukraine ist ein Nachbarland. Das wird erst recht bedeuten, dass Vertriebene und Flüchtlinge entweder auf direktem Wege oder auf indirektem Wege nach Österreich kommen werden und wir uns als guter und solidarischer Nachbar erweisen werden.

Abschließend zur Energiesituation und zur Wirtschaftssituation: Ja, es ist nicht neu – ich werde der Versuchung nicht erliegen, besserwisserisch auf das hinzuweisen, was einige schon vor 15 Jahren gesagt haben, denn jetzt geht es um die nächsten 15 Jahre –, aber es ist evident, dass Energiepolitik – das ist im Übrigen auch nicht neu, aber das zu sagen erlaube ich mir – etwas mit Geopolitik zu tun hat und damit jedenfalls mit Sicherheits­politik und Sicherheitsinteressen, auch jenen Österreichs. Deshalb ist zunächst einmal – weil nicht alles über Nacht auf die Versorgung mit heimischer Energie umgestellt werden kann, da dürfen wir nicht naiv sein – so rasch wie möglich die Diversifizierung zu stei­gern. Da geht Gott sei Dank mehr, als man glaubt – danke in dem Fall auch der Ener­gieministerin –, das wird aber logischerweise umso mehr gelingen, je mehr Unabhängig­keit von den fossilen Rohstoffen wir erreichen.

Jetzt zur angekündigten Einschätzung der ökonomischen Fähigkeiten der Russischen Föderation: Diese sind in Wahrheit, gemessen an üblichen Indikatoren und Strukturen, nicht sehr hoch. Die Haupteinnahmen und die Hauptwertschöpfung sind doch dort gele­gen  und das ist gleichzeitig die Krux , wo Bodenschätze und vor allem auch fossile Energieträger herausgeholt und zum Beispiel nach Europa verkauft werden. Hochtech­nologie aber, Forschung und Entwicklung, anderes, was weiter oben in der Wertschöp­fungskette angesiedelt ist, wird man seltener finden.

Das heißt, es entsteht eine seltsame wechselseitige Abhängigkeit: Die Russische Föde­ration lebt vor allem davon, dass das, was man dort rausbuddelt, andere zahlen, nämlich wir. Darauf wurde immer hingewiesen. Darin liegt aber natürlich auch der Rückschlag, wenn die Sanktionen noch viel ernster werden. Das kann die Zahlungssysteme betreffen et cetera, et cetera. Wenn das aber die Wirtschaftsgüter sind, die dort gehandelt werden, können wir davon ausgehen, dass es am Schluss immer um die Energieträger gehen wird, das ist doch völlig logisch. Das heißt, wir haben uns hier auf einiges einzustellen, die Diversifizierung auch kurzfristig voranzutreiben; einiges geht, und langfristig ist da, glaube ich, die Perspektive klar, und zwar nicht nur aus Klimaschutzgründen, wie an dieser Stelle wohl vermerkt werden darf. Insofern wird es sich auch als gut erweisen, dass wir mit vielen Paketen viele Milliarden in diese, wenn Sie so wollen, Energiediversi­fizierung und in Richtung Erneuerbare investieren.

Abschließend noch ein letztes Mal zur Neutralität: Diese ist eben keine Teilnahmslos-Ideologie. Es ist diese Neutralität einem Werte- und Rechtsverständnis unterworfen, das wir hier vorgetragen haben, der Bundeskanzler und ich. Zuschauen, wie eine militärische Großmacht einen Nachbarn überfällt, gehört nicht zu den Neutralitätsverpflichtungen, mit Sicherheit nicht. (Beifall bei Grünen und ÖVP sowie bei Abgeordneten der NEOS.) Es freut mich, dass das sehr viele hier herinnen teilen. Es wird wichtig und zentral sein, auch für Österreich, wenn möglichst viele hier und jetzt – auch im Interesse Öster­reichs – an einem Strang ziehen. Die Entwicklungen sind dafür ernst genug.

Österreich bleibt den Prinzipien von Freiheit, Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokra­tie verpflichtet. – Vielen Dank. (Beifall bei Grünen und ÖVP sowie bei Abgeordneten der NEOS.)

11.18

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Wir gehen nun in die Debatte ein.

Zu Wort gemeldet ist Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner. Bitte, das Wort steht bei ihr.