14.56
Abgeordnete Dr. Gudrun Kugler (ÖVP): Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel dieser Gedenkschrift der Erzdiözese Wien lautet (das genannte Buch in die Höhe haltend): „Die Wahrheit überlebt nicht von alleine“. Diese Gedenkschrift handelt vom sogenannten Holodomor.
Der Holodomor war ein systematisch organisierter Hungermord, hauptsächlich in den Jahren 1932 und 1933, dem im Großraum Ukraine bis zu sieben Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Das waren vorwiegend Bauern, die sich gegen die Kollektivierung ihres Besitzes gewehrt haben, die sich nicht in Kolchosen eingliedern lassen wollten. Die Ukraine verwendet dafür den Begriff Holodomor.
In dieser Gedenkschrift schreibt der große Historiker Timothy Snyder, dass es keine würdige Art zu verhungern gebe. Er beschreibt das so: „[...] es ist eine Art des Sterbens, bei der die Überlebenden den Kalorienwert der Verstorbenen in Betracht ziehen mussten.“ Und er schreibt weiter: Diese Art des Tötens zerstört die Überreste jeglicher Solidarität, „der dörflichen Solidarität, der familiären Solidarität, der Solidarität in Ehen und Freundschaften.“ Sie tötet nicht nur die Menschen, sondern macht ihre Art zu leben unmöglich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute erkennen wir einstimmig das stalinistische Verbrechen des Holodomor an. Warum tun wir das? – Heute gab es dazu eine Debatte im Europäischen Parlament, und dort ist ein wichtiger Satz gefallen: Nicht verurteilte Verbrechen werden sich wiederholen!
Der Holodomor wurde von der Sowjetunion geleugnet. Das Leugnen der Hungersnot des Holodomor war die erste große Lüge des 20. Jahrhunderts, so Timothy Snyder.
Das Leugnen so einer Katastrophe hebt den Horror auf eine weitere Dimension: Die individuelle Erfahrung wird nicht nur verschwiegen, sondern sie wird bestritten und sie wird diffamiert. Schlimmer noch: Sie wird als politische Provokation dargestellt – das war die These der Kommunisten in der Sowjetunion, dass nämlich die vom Hunger aufgedunsenen Bäuche nichts anderes als eine bewusste Provokation gegen das Sowjetregime waren.
Ich selbst musste erst Abgeordnete werden, bis ich den Begriff Holodomor das erste Mal gehört habe, und selbst der Begriff Gulag, die Lager in der Sowjetunion, ist mir in meiner Gymnasialzeit vorenthalten worden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, es ist Zeit, dass wir das Wissen um die stalinistischen Verbrechen auch im österreichischen Allgemeinwissen verankern! (Beifall bei der ÖVP sowie der Abgeordneten Disoski und Schwarz.)
„Die Wahrheit überlebt nicht von alleine“, und wer die Geschichte nicht kennt, der versteht auch die Gegenwart nicht. In unserem Antrag, dem wir heute alle zustimmen werden, ziehen wir eine Parallele zwischen Geschichte und Gegenwart, und wir verlangen, dass Hunger und Mangel nie wieder als Kriegswaffen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden. Heute sehen wir in der Ukraine Parallelen, nämlich die Zerstörung kritischer Infrastruktur, die Zerstörung der Energieversorgung als Kriegswaffe gegen die Zivilbevölkerung; und das ist ein Kriegsverbrechen.
Wir müssen das beitragen, was wir beitragen können, damit die Ukraine durch diesen Winter kommt, aber auch, dass so etwas nie wieder vorkommt, denn die Wahrheit überlebt nicht von alleine. Dass wir alle heute hier diesem Antrag zustimmen, ist ein kleiner Beitrag, dass solche Verbrechen nicht wieder vorkommen. (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Grünen.)
15.00
Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Abgeordneter Laimer. – Bitte sehr, das Wort steht bei Ihnen.