Montag, 5. Mai 2025
Bundesversammlungssaal des Parlaments
Beginn der Gedenkveranstaltung: 11 Uhr
(Die Veranstaltung beginnt mit der Einspielung eines Filmausschnitts aus der ORF-III-Dokumentation „Schloss Hartheim – Die NS-Mordanstalt“.)
Nadja Bernhard (Moderatorin): Sehr geehrtes Präsidium des Nationalrates! Sehr geehrtes Präsidium des Bundesrates! Verehrte Mitglieder der Bundesregierung! Geschätzte Vertreter des Diplomatischen Corps sowie der Kirchen und der Religionsgemeinschaften! Sehr geehrte Abgeordnete zum Nationalrat und Mitglieder des Bundesrates! Sehr geehrte Festgäste hier im Saal und zu Hause vor den Bildschirmen! Ich begrüße Sie recht herzlich zur diesjährigen Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.
Ich freue mich sehr, Sie heute durch diese Gedenkveranstaltung begleiten zu dürfen, und es ist mir wirklich eine große Ehre und Freude, auch Überlebende des Holocaust und des NS-Terrors sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hier begrüßen zu dürfen. – Herzlich willkommen! (Beifall.)
Im Zentrum der diesjährigen Gedenkveranstaltung steht der Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim und damit die Erinnerung an die ebendort ermordeten Menschen. Wir haben es zuvor in der Einspielung gesehen.
Schloss Hartheim war eine von sechs Tötungsanstalten im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms T4. Von 1940 bis 1944 wurden dort 30 000 Menschen ermordet.
Wer waren diese Menschen? – Es waren Menschen mit Behinderung, mit psychischer Erkrankung, es waren auch Bewohnerinnen und Bewohner aus Psychiatrien und Pflegeheimen. Es waren aber auch arbeitsunfähige KZ-Häftlinge aus den Lagern Mauthausen, Gusen, Ravensbrück und Dachau, und es waren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter.
Es ist so wichtig, dass wir dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte nicht in Vergessenheit geraten lassen. Eine lebendige Erinnerungskultur ist Teil einer offenen, einer toleranten und einer reflektierten Gesellschaft, und eine solche Gesellschaft wollen wir sein. Durch die Veranstaltung heute, denke ich, können wir die Erinnerung lebendig halten und sie an die nächste Generation weitergeben.
An dieser Stelle möchte ich die Beitragenden der heutigen Gedenkveranstaltung vorstellen: Johann Andre ist Sohn von Josef Andre, der in Hartheim ermordet wurde. Wolfgang Schuhmann ist Sohn des Widerstandskämpfers Karl Schuhmann. Marianne Schulze ist die Urenkelin von Adolf Böhm, der ebenfalls in Hartheim ermordet wurde. Auch Florian Schwanninger ist hier. Er ist Direktor der Lern- und Gedenkstätte Schloss Hartheim. Sie werden im Rahmen einer Podiumsdiskussion dann gemeinsam mit mir ihre persönlichen Erinnerungen und ihre Geschichte mit Schloss Hartheim mit uns teilen. – Wir freuen uns sehr, dass Sie hier sind. Herzlich willkommen auch Ihnen! (Beifall.)
Zuvor wird Schauspielerin Kristina Sprenger aus der Publikation „Lebensspuren“ lesen. Das sind Opferbiografien von Helene Adler, Vera Pour und Alexander Ammann. Es sind Lebensspuren, und es sind Erinnerungen, die das Grauen und den Terror dieser furchtbaren Tötungsanstalt wieder ein wenig greifbar machen und vielleicht auch ein Stück begreifbar machen sollen. – Herzlich willkommen Kristina Sprenger! (Beifall.)
Ich darf jetzt den Zweiten Nationalratspräsidenten Peter Haubner um seine Eröffnungsworte bitten.
Peter Haubner (Zweiter Präsident des Nationalrates): Was hat das eigentlich mit mir zu tun? Warum erinnern? Warum gedenken, 80 Jahre danach? Ist es nicht längst an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen? – Nein!
Erinnern daran tut weh. Es ist schmerzhaft, weil man als Mensch mit etwas konfrontiert wird, das schwer zu fassen ist und das man manchmal gar nicht fassen will, etwas, das Entsetzen, Fassungslosigkeit, Scham, Wut auslöst: Entsetzen darüber, wozu der Mensch fähig ist. Fassungslosigkeit, weil das Geschehene unsere Vorstellungskraft übersteigt. Scham und Wut, dass es mitten unter uns geschehen konnte.
Sehr geehrte Festgäste! Sehr geehrte Damen und Herren! Geschätzte Schülerinnen und Schüler! Der 5. Mai ist ein Tag des Gedenkens. Wir erinnern an diesem Tag an die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen und damit an das dunkelste Kapitel unserer Geschichte. Doch dieser Tag ist mehr als eine Erinnerung. Er ist eine Mahnung, eine Verantwortung, eine Verpflichtung.
Heute richten wir unseren Blick im Besonderen auf die Zehntausenden Opfer der Tötungsanstalt Hartheim: Frauen, Männer, Kinder; Menschen, die wegen einer Behinderung oder wegen einer Krankheit als lebensunwert erklärt wurden. Was sie brauchten, war Schutz. Was sie bekamen, war Entrechtung, Entmenschlichung und Tod.
Ihr Tod war aber keine Tragödie des Zufalls, sondern ein systematisches und perfides Verbrechen: penibel geplant, emotionslos verwaltet, vollzogen wie eine Statistik; ein Akt des Zynismus; ein Ausdruck des Rassenwahns. Was in Hartheim geschah, war kein isoliertes Verbrechen. Es war Teil eines Systems, das Millionen Menschen das Leben kostete: Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, politisch Verfolgte, Homosexuelle, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Menschen mit Behinderungen, Zeugen Jehovas und viele andere.
Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen ihre Namen, ihre Gesichter und ihre Geschichten zurückzugeben, denn: Unfassbares begann nicht nur hinter den Mauern der Konzentrationslager, es begann in den Gassen unserer Städte, in den Wohnungen und Häusern. Es begann mit dem Wegsehen, dort, wo Hass hingenommen, Vorurteilen nicht widersprochen und Gewalt verharmlost wurde, dort, wo Schweigen zur Zustimmung wurde.
Unser Gedenken darf deshalb nicht stumm und nicht rückwärtsgewandt sein. Es muss lebendig bleiben und es muss wachsam bleiben, denn das Schlimme kommt nicht plötzlich. Es beginnt leise, mit einem Satz wie: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!, mit kleinen Verschiebungen der Grenze, die große Wirkungen haben.
Kurt Tucholsky mahnte damals: „Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.“ Diese Worte sind keine historische Dekoration, sie sind eine Botschaft an uns heute – denn Antisemitismus ist kein Phänomen der Vergangenheit. Er war der Ausgangspunkt, der ideologische Nährboden, auf dem das nationalsozialistische Terrorregime wuchs. Der Hass richtete sich zunächst gegen Jüdinnen und Juden und weitete sich in Folge auf alle Menschen aus, die als anders galten.
Im Jahr 2024 wurden in Österreich über 1 500 antisemitische Vorfälle registriert – das ist ein Anstieg um 30 Prozent – darunter physische Angriffe, Bedrohungen, Hunderte Beschimpfungen, Sachbeschädigungen, Hassnachrichten. Und die Täter werden jünger. Die Opfer werden jünger. Das ist die Realität, die die Israelitische Kultusgemeinde in ihrem Bericht vor wenigen Tagen veröffentlicht hat. Die Antisemitismusstudie des Parlaments zeigt ebenfalls deutlich: Es gibt ein wachsendes Problemfeld unter Jugendlichen, vor allem beim holocaustbezogenen und israelbezogenen Antisemitismus. Der Glaube an Verschwörungsmythen und Wissenslücken über Holocaust, Israel und jüdisches Leben sind die stärksten Einflussfaktoren.
Deshalb sind Wissen und Bildung unser schärfstes Schwert im Kampf gegen Hetze und Hass. Unsere Stimme ist gefragt, gerade jetzt. Wenn Antisemitismus in Europa und weltweit im Steigen begriffen ist – ganz egal, ob von rechts, von links oder aus dem migrantischen Umfeld –, dann gilt es, Jüdinnen und Juden beizustehen. Wenn der Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 als Aufstand oder bewaffneter Widerstand bezeichnet wird, dann ist es unsere Aufgabe, die Dinge klar zu benennen und keine Täter-Opfer-Umkehr zuzulassen. Kein Verständnis für Gewalt, keine Relativierung von Terror, kein Platz für Antisemitismus, in keiner Form!
Der 5. Mai ist kein Tag des bloßen Erinnerns. Er ist ein Bekenntnis: unser Bekenntnis zur Menschlichkeit, unser Bekenntnis zur historischen Verantwortung, unser Bekenntnis zu einem Nie wieder!, das nicht nur Vergangenheit bewahrt, sondern Zukunft gestaltet. Denn: Erinnerung ohne Konsequenz ist leere Geste. Gedenken ohne Haltung ist bedeutungslos.
Was bleibt? – Es bleibt die Aufgabe, die Erinnerung zu bewahren, auch in ihrer Schmerzhaftigkeit. Es bleibt die Pflicht, sich einzumischen, im Kleinen wie im Großen. Und es bleibt der Mut, Nein zu sagen, auch wenn es unbequem ist.
Ich war erst vergangene Woche im Konzentrationslager Mauthausen und habe auf dem Mahnmal für die griechischen Opfer einen Satz gelesen, der mich zutiefst berührt hat: „Vergiss uns nicht, die wir hier getötet wurden, denn das Vergessen des Bösen ist die Erlaubnis zu seiner Wiederholung.“
Ich schließe mit den Worten von Hans Rosenthal: „Hoffen wir, dass das, was Vergangenheit war, keine Zukunft hat.“ (Beifall.)
Nadja Bernhard: Vielen Dank an den Zweiten Nationalratspräsidenten Peter Haubner für die Eröffnungsworte.
Den musikalischen Rahmen der heutigen Gedenkveranstaltung gestaltet die Landesmusikschule Oberösterreich gemeinsam mit dem Institut Hartheim. Das Institut betreut 700 Menschen mit kognitiven oder mehrfachen Beeinträchtigungen. Das erste Lied, das sie heute darbieten, ist „Shalom chaverim“, ein traditionelles hebräisches Volkslied. Es gilt als musikalischer Friedensgruß.
Ich freue mich sehr, jetzt Bernhard Blin, Jan Schöttl, Christina Wakolbinger, Konstanze Jäger und Walter Wagner begrüßen zu dürfen. (Beifall.)
(Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Shalom chaverim“, dargebracht von Musikerinnen und Musikern des Instituts Hartheim und der Landesmusikschule Oberösterreich. – Beifall.)
Nadja Bernhard: Hinter den anonymen Zahlen der Opfer von Schloss Hartheim verbergen sich einzelne Schicksale, verbergen sich Lebenswege von Menschen, die nicht wussten, was mit ihnen passiert. In der Publikation „Lebensspuren“ kommen nicht nur Historiker zu Wort, sondern auch Angehörige von Opfern, die uns durch ihre persönliche Erinnerung und auch durch ihre Reflexion ein wenig Einblick in den gesellschaftlichen, aber auch in den familiären Umgang mit den Opfern des NS-Euthanasieprogramms nach 1945 geben. Aus „Lebensspuren“ liest Kristina Sprenger.
Kristina Sprenger: „Meine Großtante Helene Adler war einundfünfzig Jahre alt, als sie in der Gaskammer der ‚Euthanasie‘-Anstalt Hartheim ermordet wurde. Helene wurde am 16. Dezember 1889 in Wien geboren. Sie bewohnte gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester eine kleine Wohnung im siebzehnten Wiener Gemeindebezirk.
Im Alter von achtundzwanzig Jahren kam Helene zum ersten Mal mit der Psychiatrie in Berührung. Laut einem Eintrag in ihrer Krankengeschichte ging sie am 17. Mai 1917 zur Polizei und forderte: ‚dass man den Leuten verbieten solle, sie zu beschimpfen‘.
Daraufhin wies sie der zuständige Amtsarzt des Polizeikommissariats in die Psychiatrische und Beobachtungsstation des Wiener k. und k. Allgemeinen Krankenhauses ein. Bei der Erstuntersuchung war Helene orientiert und ruhig und berichtete: ‚dass die Leute auf der Gasse sagen, dass sie mit ihrer Mutter und Schwester geschlechtlich verkehre und man sie ‚einen Schlampen‘ nenne‘. Am 18. Mai 1917 wurde Helene in die Niederösterreichische Landes-Heil- und Pflegeanstalt ‚Am Steinhof‘ überstellt. Die Diagnose lautete: Depressiv-paranoide Form der Schizophrenie. Sie blieb sieben Monate in der Anstalt und wurde am 12. Dezember 1917 auf Wunsch ihrer Mutter nach Hause entlassen.
Am 21. März 1928 wurde Helene neuerlich am Polizeikommissariat vorstellig und behauptete, dass ‚die Nachbarn Löcher in die Wände machen und den Fußboden aufreissen, und dass sie daher mit den Kleidern schlafen müsse‘. Wieder wurde sie in die Psychiatrie des Allgemeinen Krankenhauses eingewiesen. Am 23. März 1928 wurde Helene wieder in die Landesheil- und Pflegeanstalt ‚Am Steinhof‘ verlegt. Diesmal lautete die Diagnose: Dementia paranoides. Die Eintragungen in der Krankengeschichte berichten von keinerlei therapeutischen Massnahmen. Am 2. Juli 1931 wurde Helene ins Versorgungsheim Lainz transferiert. Bald darauf wurde sie voll entmündigt. Am 5. September 1940 gibt es in der Krankengeschichte den Vermerk: ‚Anzeige wegen Erbkrankheit erstattet‘. Zuletzt findet sich ein Stempel mit folgender Feststellung: ‚28. November 1940 Aufgrund einer Anordnung des Kommissär für Reichsverteidigung in eine nicht genannte Anstalt versetzt.‘ Tatsächlich wurde Helene zusammen mit 49 anderen Patientinnen aus dem Versorgungsheim Lainz in die Anstalt ‚Am Steinhof‘ transferiert und dann nach Hartheim überstellt. Im Dezember 1940 erhielt Helenes Familie ein Schreiben der ‚Landesanstalt Hartheim‘, in dem mitgeteilt wurde, dass Helene ‚am 10.12.1940 infolge Lungenentzündung verstorben ist‘ und ‚gemäß § 22 der Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten die sofortige Einäscherung der Leiche‘ angeordnet und durchgeführt wurde.
Die Verfolgung der ‚Euthanasie‘ durch alliierte, deutsche und österreichische Gerichte begann bereits unmittelbar nach 1945. Allerdings wurde die Beteiligung am nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Programm nur in Ausnahmefällen vor alliierten Gerichten verhandelt, da es sich um Verbrechen der Kategorie ‚enemy nationals against enemy nationals‘ handelte.
Die ärztlichen Leiter der Tötungsanstalt Hartheim konnten nicht belangt werden. Rudolf Lonauer beging 1945 Selbstmord und Georg Renno konnte flüchten. Renno stritt seine Mitschuld an ‚Euthanasie‘-Verbrechen bis zu seinem Tod am 4. Oktober 1997 ab.
Er verharmloste seine Taten und versuchte sogar, sie im Sinne einer ‚Erlösung‘ der Opfer zu rechtfertigen. Außerdem seien sie ihm befohlen worden.
In meiner Familie wurde über das Thema ‚Nationalsozialismus‘ beharrlich geschwiegen. So war auch das Schicksal meiner Grosstante Helene jahrzehntelang ein ‚Familiengeheimnis‘. Erst als ich in den 1970er Jahren im heutigen Otto Wagner-Spital eine Ausbildung zur Psychiatrischen Krankenschwester absolvierte, erwähnte meine Mutter eines Tages beiläufig, dass meine Großtante Patientin ‚am Steinhof‘ gewesen und von den Nazis umgebracht worden sei. Auch wenn ich Helene Adler nicht persönlich gekannt habe und nur ein paar Fotos von ihr besitze, fühle ich mich sehr eng mit ihr verbunden, und es ist mir wichtig, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.“
Kristina Sprenger: „Eine Sterbeurkunde. Ausgestellt im Februar 1941, in Hartheim/Oberdonau. Vera Pour, ohne Beruf, katholisch, geboren am 25. April 1912 in Graz, ist am 20. Februar 1941 in der Wohnung an Grippe und Sepsis gestorben.
Wir finden diese Sterbeurkunde im Frühjahr 1999, in einem dicken Ordner mit verschiedenen Dokumenten zur Familie.
Im Familiengedächtnis war die Erinnerung an Vera – die Tochter, die Schwester, die Schwägerin, die Tante, die Großtante – verankert wie an andere Familienmitglieder, die schon vor langer Zeit verstorben waren. Doch nur wenige wussten, dass sie viele Jahre in einer psychiatrischen Anstalt lebte. Kaum etwas ist zu ihrem Leben bekannt. Niemand sprach bis dahin von ihrem gewaltsamen Tod.
Vera Pour wurde am 25. April 1912 als Tochter von Eugen Pour und Rosalie Komp geboren. Gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Eugen junior und ihrer älteren Schwester Lydia wuchs sie in der Stadt Cilli auf, wo ihr Vater Eugen Bahnhofsvorstand der kaiserlich-königlichen privaten Südbahn war.
1918, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall der Habsburgermonarchie, zog die Familie Pour ins nahe Graz und der Vater nahm eine Arbeitsstelle bei der österreichischen Bahn an. Die Umstände dieser Übersiedlung, warum Graz als neuer Wohnort ausgesucht wurde und wie schnell sich die Familie in ihrem neuen sozialen Umfeld einlebte, dazu gibt es keine Familienerzählung.
1922 erkrankt Veras Bruder Eugen im Alter von 14 Jahren an Gehirnhautentzündung und stirbt daran. Der Tod des Stammhalters in so jungen Jahren war ein schwerer Schicksalsschlag. Trotzdem oder gerade deshalb pflegte die Familie soziale Kontakte.
Wenige Jahre später zeigte Vera erste Symptome einer psychischen Krankheit. Ende der 1920er Jahre wird Vera in der Psychiatrischen Klinik Graz-Feldhof stationär aufgenommen. Die ärztliche Diagnose lautete Jugendschizophrenie.
Wie Veras Eltern und Ihre Schwestern auf ihre Erkrankung reagierten, welche anderen Möglichkeiten der Behandlung Veras Eltern suchten, ob sie hofften, dass es nur eine kurzfristige Behandlung wäre, dazu gibt es keine Familienerzählung.
Auch nicht, in welchem Ausmaß Vera trotzdem noch am Familienleben teilnehmen konnte bzw. eingebunden war. Veras Schwester Lydia heiratete und zog mit ihrem Mann in ein anderes Bundesland und Vera wurde in den nächsten Jahren dreifache Tante.
1933 starb Veras Vater im Alter von 54 Jahren – an Grippe, die in diesem Jahr in Graz epidemisch aufgetreten war.
Veras Mutter lebte nun allein in Graz – Sohn und Mann waren verstorben, eine Tochter lebte in einer psychiatrischen Anstalt, die zweite in einem anderen Bundesland. Die Mutter besuchte beide Töchter regelmäßig.
Mangels Krankengeschichte ist unbekannt, wie Vera in den vielen Jahren ihres stationären Aufenthaltes behandelt wurde, ob es Behandlungserfolge gab, und wenn ja, welche, ob ein Antrag auf Zwangssterilisation nach dem nationalsozialistischen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses gestellt wurde, ob es Überlegungen zu ihrer Entlassung gab – all diese Fragen können nicht beantwortet werden.
Als langjährige Psychiatriepatientin galt Vera im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie als ‚wertlos‘, als ‚unnütz‘. Gemeinsam mit vielen Mitpatientinnen und -patienten wurde sie von nationalsozialistischen Ärzten begutachtet, ‚ausgesondert‘ und daraufhin in die Tötungsanstalt Hartheim deportiert – laut Rapportbuch der Anstalt Graz entweder am 7., 8. oder 14. Februar 1941.
Veras Mutter und Veras Schwester dachten, sie wäre zur weiteren Behandlung in eine andere Anstalt gebracht worden.
Was sie dachten, als sie die Sterbeurkunde mit der Todesursache Grippe und Sepsis, ausgestellt am 20. Februar 1941, erhielten, ist in der Familienerzählung nicht verankert, auch nicht, ob Veras Mutter eine Urne mit Asche erhielt, wann die Familie erfuhr, dass Vera nicht wie ihr Vater an einer Grippe starb, sondern getötet, vergast wurde, und wann Veras Name und ihre Lebens- und Sterbensdaten auf dem Grabstein des Familiengrabes in Graz eingraviert wurden.“
Kristina Sprenger: „Alexander Ammann kam am 1. Oktober 1896 in Barcelona als Sohn der Kaufleute Johann und Antonia Ammann auf die Welt. Obwohl seine Mutter Spanierin war, erhielt er über seinen Vater die österreichische Staatsbürgerschaft.
Alexander Ammanns Eltern starben sehr früh – 1904 und 1905. Nach dem Tod der Eltern wurden die sechs jungen Geschwister getrennt, die Schwestern kamen zu Verwandten nach Spanien, die Brüder zu Verwandten nach Hohenems in Vorarlberg.
Dort besuchte Alexander Ammann das Internat. Nach der Schule begann er eine kaufmännische Lehre. Im Ersten Weltkrieg war Alexander Ammann an der Front in Südtirol eingesetzt.
Nach dem Ersten Weltkrieg ging Alexander Ammann nach Nürnberg, um dort an der Handelshochschule zu studieren. Während seines Studiums lernte er seine spätere Ehefrau Maria Sindel kennen.
Nach der Hochzeit versuchte das Paar in Wien Fuß zu fassen. Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage übersiedelten sie aber nach Barcelona, der Geburtsstadt von Alexander Ammann. In Barcelona kamen 1925 und 1926 ihre Kinder Dorothea und Alfredo auf die Welt.
Alexander Ammann erhielt eine Anstellung bei Siemens-España. Auf einer Geschäftsreise nach Berlin erlitt er in Paris einen ersten Nervenzusammenbruch und hatte nachts im Hotel Verfolgungsängste. Der frühe Tod seiner Schwester 1927 belastete ihn ebenfalls sehr.
In der Folge verschlechterte sich sein psychischer Zustand und er wurde schließlich aus dem Dienst bei Siemens entlassen.
Aufgrund der finanziell schwierigen Situation entschloss sich seine Ehefrau, im Jahr 1932 mit den Kindern nach Nürnberg zu ihren Eltern zurückzukehren. Ihr Ehemann Alexander blieb noch in Spanien. Vier Jahre vor dem Bürgerkrieg herrschte dort bereits große Unruhe.
Alexander Ammann wurde bei einer Polizeikontrolle festgenommen, da er eine Pistole bei sich trug. Als ausländischer Staatsbürger wurde er nun des Landes verwiesen. Er ging daraufhin zu seiner Familie nach Nürnberg und kam dort in ein Krankenhaus.
Bei einem Freigang beschimpfte er in der Nähe des Reichsparteitagsgeländes eine SS-Kolonne als ‚schwarze Teufel‘, so dass er von ihnen verprügelt wurde.
Da er Österreicher war, wurde Alexander Ammann am 2. November 1933 in die Heil- und Pflegeanstalt Valduna bei Rankweil überwiesen. Er hatte in seiner Zeit als Patient in Valduna freien Ausgang und pflegte dort gute Kontakte zum Anstaltsarzt und zu seinen Verwandten in Hohenems. Ammann, der sehr gebildet war und mehrere Fremdsprachen beherrschte, fertigte auch zahlreiche Schriften zur Geschichte, Naturwissenschaft, Politik, Philosophie und Theologie in einer ausgesprochen schönen und genauen Handschrift an. Leider ging ein bedeutender Teil der handschriftlichen Manuskripte im Zweiten Weltkrieg verloren.
Am 17. März 1941 wurde Alexander Ammann im Alter von 45 Jahren mit 86 weiteren Patientinnen und Patienten der Anstalt Valduna zur Ermordung nach Hartheim gebracht.
Laut seinem Sohn Alfredo wurden in diesem Fall den Insassen des Transports noch vor der Abfahrt die Goldzähne gezogen, denn ein Pfleger der Anstalt Valduna übergab ihm nach dem Ende der NS-Zeit die Goldzähne sowie einige Fotos seines Vaters Alexander Ammann.
Der Familie wurde als offizielles Todesdatum der 2. April 1941 mitgeteilt. Nach dem Tod des Vaters drohte man der 16-jährigen Tochter Dorothea damit, dass sie sterilisiert werden würde, da sie ‚erblich vorbelastet‘ und ‚politisch unerwünscht‘ sei.
Sie kam stattdessen allerdings in ein Reichsarbeitsdienstlager, während ihr Bruder als Soldat in der Wehrmacht kämpfte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten die Witwe und die Tochter von Alexander Ammann in die USA aus, wo Dorothea Ammann den Abschluss ‚Master of fine arts‘ erwarb und 6 Kinder und 16 Enkel bekam.
Der Sohn von Alexander Ammann schlug nach 1945 ebenfalls eine künstlerische Laufbahn ein. In einigen Kunstwerken setzte er sich auch mit der Geschichte und dem gewaltsamen Tod seines Vaters auseinander. Alfredo Ammann lebte in Sindelfingen und starb im Jahr 2022. Er stand mit dem Lern- und Gedenkort in intensivem Kontakt, um die Erinnerung an seinen Vater wach zu halten. Die Enkel- und Urenkelkinder von Alexander Ammann leben heute in den USA und Deutschland.
Dorothea Ammann formulierte mit fast 80 Jahren im Gedenken an das Schicksal ihres Vaters noch einen Wunsch an die Zukunft: ‚Möge so viel Schmerz, Angst und Grausamkeit von unserer Welt verschwinden. Momentan sieht es nicht so aus. Warum kann der Mensch nicht lernen?‘“ (Beifall.)
(Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Schiarazula Marazula“ von Giorgio Mainerio, dargebracht von Musikerinnen und Musikern des Instituts Hartheim und der Landesmusikschule Oberösterreich. – Beifall.)
Nadja Bernhard: Danke für diese Interpretation von „Schiarazula Marazula“, einem Renaissancelied, geschrieben von Giorgio Mainerio.
Bei meiner Recherche und bei meiner Auseinandersetzung mit Schloss Hartheim war ich sofort mit der Frage konfrontiert – einer Frage, die uns alle, Generationen, beschäftigt –: Wozu ist der Mensch eigentlich fähig?
Die Menschen, die dort ermordet wurden, wurden als Parasiten bezeichnet, wurden von den Nazis als lebensunwertes Leben klassifiziert, und Hitler selbst hat ihre Ermordung einmal als Gnadenakt bezeichnet.
Über diese so perfide Vorgangsweise und dieses so erschütternde Kapitel unserer Geschichte möchte ich jetzt mit unseren Gästen Johann Andre, Marianne Schulze, Florian Schwanninger und Wolfgang Schuhmann sprechen. – Herzlich willkommen! Bitte. (Beifall.)
Nadja Bernhard: Ich darf Sie einmal noch ganz kurz vorstellen.
Johann Andre: Sein Vater Josef Andre hat einen schweren Verkehrsunfall gehabt, einen Fahrradunfall, hatte eine Gehirnerschütterung, von der er sich nie mehr erholt hat, und wurde dann nach Gugging und in der Folge nach Hartheim gebracht und dort ermordet.
Marianne Schulze ist die Urenkelin von Adolf Böhm. Er war Unternehmer und Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde und wurde von SS-Obersturmbannführer Eichmann unter massiven Druck gesetzt, ihm eine Liste mit Namen von prominenten Jüdinnen und Juden auszuhändigen. Er dürfte daraufhin einen Nervenzusammenbruch erlitten haben, wurde nach Hartheim deportiert und dort ebenfalls ermordet.
Wolfgang Schuhmann, Ihr Vater hat direkt neben dem Schloss Hartheim gewohnt. Er wurde dann Widerstandskämpfer, und Sie arbeiten seit Jahrzehnten an der Familienchronik, um eben diese Widerstandsarbeit Ihres Vaters, aber auch Ihres Onkels zu dokumentieren.
Und Florian Schwanninger ist seit 2014 Leiter des Lern- und Gedenkortes Schloss Hartheim. – Sie haben auch die Opferdatenbank betrieben und haben die zuvor von Kristina Sprenger gelesenen Opferbiografien zusammengefasst und herausgegeben.
Herr Schwanninger, ich würde auch gleich gerne mit Ihnen beginnen.
Das nationalsozialistische System ist ein grundsätzlich mörderisches, das sein Grauen und den Terror auf vielfältigste Weise durchgesetzt hat. Wenn wir in der Geschichte zurückblicken: Es gibt ja viele Gewaltregime, aber wohl kein anderes, das so eine Idee wie das NS-Euthanasieprogramm hatte.
Welche spezifische Unmenschlichkeit und Verwerflichkeit liegt in dieser Idee des Euthanasieprogramms, das letztlich in Schloss Hartheim umgesetzt wurde?
Florian Schwanninger (Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim): Also es ist sicherlich ein Spezifikum des NS-Regimes, dass es diese Zwangssterilisationen in diesem Umfang und in dieser Radikalität betrieben hat und später auch, vor allem ab Kriegsbeginn, wirklich dazu überging, quasi physisch die Leute zu beseitigen, zu vernichten, zu ermorden, die man zuvor schon in der Propaganda ja auch entmenschlicht hat, denen man den Wert abgesprochen hat, das Menschsein abgesprochen hat, das Dasein abgesprochen hat.
Eugenische oder rassenhygienische Ideen gab es ja schon vorher – das geht ja zurück ins 19. Jahrhundert –, auch in verschiedenen Ländern, auf verschiedenen Kontinenten. Eugenische Ideen gab es auch in unterschiedlichen politischen Lagern, muss man dazusagen.
In Deutschland, im Deutschen Reich wurde das dann aber, eben vor allem in Folge des Ersten Weltkriegs, radikalisiert, hat sich der Diskurs radikalisiert, auch der Euthanasiediskurs.
Das wurde schon von Anfang an von den Nationalsozialisten aufgegriffen – natürlich auch radikalisiert – und ab 1933 sofort in die Tat umgesetzt.
Es gab das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses; bestimmte Bevölkerungsgruppen wurden in der Folge aufgrund dieses Gesetzes sterilisiert. Man geht davon aus, dass es bis 1945 ungefähr 300 000 Menschen waren, die zwangsweise sterilisiert wurden – das waren sogenannte erbkranke Menschen, also man hat sie als erbkrank definiert. Natürlich wurden in diesen Bereich dann aber auch Menschen einbezogen, die – ich sage einmal – einen unkonventionellen Lebensstil hatten, die als asozial definiert wurden und Ähnliches. Dieser Kreis war also letzten Endes vom NS-Regime auch sehr offengehalten.
Im Rahmen der Kriegsvorbereitungen Richtung Herbst 1939 – am 1. September 1939 begann ja der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen – ging man auch daran, die NS-Euthanasie zu planen, also diese Aktion zu planen, mit der man wirklich Zehntausende Menschen ins Visier nahm, vor allem jene, die sich in den Heimen der Behindertenbetreuung und auch in den Heil- und Pflegeanstalten befanden. Es begann mit der Kindereuthanasie. In einer ersten Aktion wurden behinderte Säuglinge, Kleinkinder ins Visier genommen, die in sogenannte Kinderfachabteilungen kamen, wie sie in Wien beispielsweise Am Spiegelgrund war. Im Laufe des Herbst 1939 ging man dazu über, auch erwachsene Patientinnen und Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten ins Visier zu nehmen. Das war in der Folge die sogenannte Aktion T4 – T4 wegen der Zentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Die wurde beispielsweise in Schloss Hartheim von Mai 1940 bis August 1941 betrieben. Es wurden in Hartheim etwas über 18 000 Menschen durch Kohlenmonoxid ermordet – das waren eben Menschen mit Behinderungen, Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Nadja Bernhard: Diese Opfergruppe, über die wir heute sprechen wollen – Menschen mit Behinderung –, steht in der öffentlichen Betrachtung der NS-Opfergruppen eher am Rande, wenn wir öffentliche Gedenkveranstaltungen oder Ausstellungen und auch Publikationen ansehen. Warum, Frau Schulze, glauben Sie, ist das so, dass diese Opfergruppe eher am Rande steht? Und wie wurde denn das Schicksal Ihrer Urgroßvaterfamilie aufgearbeitet?
Marianne Schulze (Urenkelin von Adolf Böhm): Vielleicht zunächst zu meinem Urgroßvater, der ein Fabrikant in der Wilhelminenstraße war und die Geschäftsführung des familieneigenen Unternehmens bereits an meinen Großvater übergeben hatte: Er widmete sich seinem Hobby, dem Zionismus, in einer Bibliothek, die sich in der Fabrik befand. Das war offensichtlich der Auslöser für die täglichen Besuche durch Eichmann, die Sie schon erwähnt haben. Mein Urgroßvater galt rund um den Kreis von Theodor Herzl als dieser zionistischen Idee sehr nahe. Er hatte ein Standardwerk zum Zionismus, genannt „Die zionistische Bewegung“, verfasst – das dürfte Eichmanns Aufmerksamkeit gefunden haben. Er ist in weiterer Folge zusammengebrochen und wurde über Umwege nach Hartheim gebracht und dort ermordet.
Wir haben davon erst in den 90er-Jahren erfahren. Es gab einen Eintrag in der Encyclopaedia Judaica über meinen Urgroßvater, die, wie wir heute schon öfters gehört haben, irreführend war. Wir haben dann erst nach und nach die Tatsachen in dieser Form erfahren.
Zu Ihrer ersten Frage: Warum stehen Menschen mit Behinderungen, warum stehen psychisch Kranke so am Rand der Gesellschaft? Das ist, glaube ich, eine sehr komplexe Frage. Es ist aber grundsätzlich so, dass wir sehr oft separierte Lebenswege haben, dass Menschen mit Behinderungen sehr getrennt von der Allgemeinbevölkerung ihrem Leben nachgehen und es wenig selbstverständliche Interaktion gibt. Die Idee, dass man Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft integriert, inkludiert, gibt es zwar schon länger, aber sie hat erst in den letzten Jahren wirklich an Fahrt aufgenommen.
Das Bewusstsein über psychische Belastungen ist erst in den letzten Jahren – zum Glück, endlich – ein Stück weit besser geworden, aber rund um Psychiatrie gibt es nach wie vor sehr, sehr viele Vorurteile in Richtung vermeintliche Gefährlichkeit, in Richtung Schwierigkeiten, eine entspannte, selbstverständliche Interaktion möglich zu machen. Was erfreulich ist: Es gibt in der Zwischenzeit nicht nur einen Erste-Hilfe-Kurs für Unfälle, sondern auch einen Erste-Hilfe-Kurs für Menschen in psychischen Notlagen. Das sind Programme, die, glaube ich, sehr helfen, um gerade Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in die gesellschaftspolitische Mitte zu holen.
Politisch, glaube ich, werden aber nach wie vor eher kleine Kieselsteinchen verschoben als die ganz großen gesellschaftspolitischen Felsbrocken aus dem Weg geräumt, was es uns möglich machen würde, Menschen mit Behinderungen im Sinne einer repräsentativen Demokratie selbstverständlich in der gesellschaftspolitischen Mitte zu haben.
Nadja Bernhard: Es gibt auch in Deutschland die Debatte, dass eben diese Opfergruppe in der öffentlichen historischen Aufarbeitung zu wenig Beachtung erfährt. Ist diese Kritik berechtigt, Frau Schulze?
Marianne Schulze: Ich würde meinen, ja. Die Art und Weise, wie wir heute mit Menschen mit Behinderungen umgehen, und die Tatsache, dass wir nach wie vor segregierte Bildung haben, dass wir nach wie vor keine Inklusion am Arbeitsmarkt haben, dass es nach wie vor so schwierig ist, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt leben können, dass wir in Österreich rund um persönliche Assistenz – das ist die Methodik, mit der Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt in der Gemeinschaft leben können – noch immer Pilotprojekte haben: All diese Faktoren zeigen uns, dass wir noch immer in der Kieselsteinverschiebungszone sind und nach wie vor große Felsbrocken zu verschieben hätten.
Nadja Bernhard: Herr Andre! Frau Schulze hat gesagt, sie hat relativ spät vom Schicksal ihres Urgroßvaters erfahren. Auch Sie wussten nicht viel über Ihren Vater, es wurde nicht viel darüber gesprochen. Wie haben Sie denn erfahren, dass er Opfer des NS-Euthanasieprogramms in Schloss Hartheim wurde?
Johann Andre (Sohn von Josef Andre): Von Gugging kam ein Schreiben, dass er überstellt wird. Nach ein paar Tagen kam dann die Nachricht, er sei bereits an Lungenentzündung gestorben und eingeäschert und die Urne wäre im Urnenhain in Linz zu besichtigen. Den richtigen Vorgang haben wir erst später dann hinter vorgehaltener Hand, geheim erfahren.
Nadja Bernhard: Wie haben Sie es dann erfahren?
Johann Andre: Mündlich, von irgendwelchen vom Regime abseits Stehenden.
Nadja Bernhard: Aber zu Hause wurde darüber nicht viel gesprochen?
Johann Andre: Nein, nein. Es wurde zu der Zeit das Ganze überhaupt übergangen und wurde überhaupt nichts gesprochen.
Nadja Bernhard: Das scheint in vielen Familien so gewesen zu sein.
Herr Schuhmann, auffallend oder beachtlich in Hartheim war, dass die Bevölkerung nicht wegschauen wollte. Sie wurde dann irgendwie irgendwann stutzig und wollte wissen, was hinter den Mauern im Schloss passiert. Ihr Vater war Anwohner, er hat direkt neben dem Schloss gewohnt. Wie sehr haben denn seine Dokumentationen und seine Beobachtungen dazu beigetragen, dass die historische Aufarbeitung von Schloss Hartheim fortgesetzt wurde?
Wolfgang Schuhmann (Sohn von Karl Schuhmann): Ich darf ein bisschen ausholen. Wie Sie schon gesagt haben: Das Elternhaus meines Vaters stand und steht in Hartheim, nur durch eine Straße vom Schloss getrennt. Das heißt, bei den ganzen Vorgängen konnte die Familie einfach nicht wegsehen. Man hatte zu den Bewohnern des Schlosses, zu den Schwestern, zum Pflegepersonal, aber auch zu den Pfleglingen ein sehr gutes Verhältnis. Mein Vater war als Ministrant sehr, sehr oft in der Sonntagsmesse, bekam dort ein tolles Frühstück, was für ihn nicht alltäglich war.
Im Jahr 1939 wurden dann auf einmal die Pfleglinge weggebracht, die Schwestern auch, und das Pflegepersonal wurde gekündigt. Anschließend wurde das Schloss hermetisch abgeschlossen, speziell für die Einheimischen, und es wurden Arbeiter gesehen, die im Schloss aus- und eingingen, es wurden Baustoffe transportiert. So entstanden die ersten Gerüchte im ganzen Ort darüber, was denn da gemacht wurde. Man erfuhr es aber nicht. Sprechen konnte die Bevölkerung untereinander auch kaum, man wusste ja nicht, ob nicht der beste Freund ein Spitzel oder ein Verräter war.
Nach dem Umbau kamen dann im Jahr 1940 im Frühjahr die ersten Busse, und zwar kamen die ersten Busse mit den Pfleglingen, die vorher weggebracht wurden. Warum kann man das so genau sagen? – Mein Vater und die ganze Familie hat diesen Vorgang durch das Schweinestallfenster, das direkt gegenüber dem Eingangstor des Schlosses war, beobachtet. Und die Busse mussten dort stehen bleiben und konnten erst, nachdem das Tor von innen geöffnet wurde, hineinfahren.
Circa zwei bis drei Stunden nach der Ankunft des Busses strömte dann aus einem nicht einsehbaren Rauchfang dicker schwarzer Rauch heraus, der bei ungünstiger Wetterlage zu Boden gedrückt wurde und sich über das ganze Dorf und über die Gegend verteilte, was nicht sehr angenehm für die dort lebenden Menschen war.
Mein Vater hat dann, bevor er im Jänner 1941 zur Wehrmacht eingezogen wurde, ein Foto von diesem schwarzen aufsteigenden Rauch gemacht. Er hatte seit Dezember 1939 einen Fotoapparat besessen, mit dem er alle möglichen Sachen, unser anderem aber des Öfteren auch das Schloss fotografierte. Er wurde dann eben zur Wehrmacht eingezogen, musste den Russlandfeldzug mitmachen und kam erst im Mai 1944, nach einer schweren Verwundung 40 Kilometer vor Stalingrad, zurück nach Hartheim.
In der Zwischenzeit hat sein älterer Bruder Ignaz, zusammen mit Herrn Hilgarth, den Widerstand aktiviert, indem sie Mauerbeschriftungen machten und Flugblätter erzeugten, die sie in der Gegend und auch in Linz verteilten. Aufgeflogen ist die ganze Geschichte dann durch einen Spitzel. Die Familie, Herr Hilgarth und Herr Keppelmüller wurden im Juni 1944 festgenommen, nach Linz gebracht, dann weiter nach Wien, wo am 3. November im Landesgericht die Verhandlung war. Herr Hilgarth und mein Onkel Ignaz wurden am 9. Jänner 1945 hingerichtet, mein Vater zu zehn Jahren Zuchthaus und Ehrverlust verurteilt.
Die Geschichte hört für meinen Vater aber nicht da, nach Ende des Weltkriegs, auf, sondern er bemühte sich – und das war meines Erachtens der zweite Teil, den er neben dem Foto für die Aufarbeitung dieser grauslichen Geschichte geleistet hat –: Er versuchte - -
Nadja Bernhard: Das ist das einzige fotografische Dokument vom Schornstein?
Wolfgang Schuhmann: Das ist das einzige Dokument, ja. Es gibt noch ein zweites Foto, das wurde hier auch schon gezeigt, wo dieser Busschuppen auch sichtbar ist, der dann später gemacht wurde, weil die Busse größer wurden und nicht mehr durch das Tor durchfahren konnten.
Er bemühte sich nach dem Krieg um Anerkennung der Tätigkeit der Widerstandsgruppe, wurde aber von Gesellschaft, Politik abgewiesen. Man sprach nicht darüber. Man sprach auch bei uns in der Familie nicht darüber. Ich stelle mir vor, er wollte uns Kinder ganz einfach vor diesen Grauslichkeiten bewahren.
Etwas Bewegung kam in die Sache: Er bekam 1978 das Ehrenzeichen für die Befreiung von Oberösterreich, und dann begann gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Sache mit Hartheim. Es wurden Zeitungsartikel geschrieben und das Letzte, sein letzter Beitrag war zum Buch von Tom Matzek, „Das Mordschloss".
2003 kam dann ein für unsere Familie sehr überraschendes Schreiben: Alle vier Beteiligten der Widerstandsgruppe wurden freigesprochen. Leider hat das kein Mitglied der Widerstandsgruppe erlebt.
Nadja Bernhard: Eine späte Wiedergutmachung sozusagen.
Wolfgang Schuhmann: Es war eine späte Wiedergutmachung, sie haben die Ehre wiedererlangt, aber leider nicht persönlich.
Nadja Bernhard: Man sprach aber nicht darüber, haben Sie gesagt, Herr Andre. Eben auch nicht bei Ihnen, da hat man nicht darüber gesprochen, aber es hat Sie trotzdem nicht in Ruhe gelassen. Sie wollten wissen, was mit Ihrem Vater passiert ist, und Sie sind ja auch deswegen zum Schloss Hartheim gereist, oder?
Johann Andre: Ja. Ich wollte sehen, wo mein Vater seine letzten Stunden verbracht hat.
Nadja Bernhard: Wie war das für Sie, Herr Andre?
Johann Andre: Sehr beeindruckend.
Nadja Bernhard: Dass es den Leuten, den Nachfahren wichtig ist, Schloss Hartheim zu besuchen, das hat mir auch eine Tochter eines dort ermordeten Mannes im Gespräch erzählt: Lucia Bellolo ist eine rüstige 96-Jährige, der es wirklich auch ein großes Anliegen war, Teil dieser Veranstaltung zu sein. Ich habe sie im Altersheim besucht und dort hat sie mir erzählt, wie wichtig Schloss Hartheim für sie ist. Sie hat es auch besucht. – Wir wollen da jetzt ganz kurz reinhören, was sie uns, was sie mir da gesagt hat.
(Die Videoaufzeichnung eines Gesprächs von Nadja Bernhard mit Lucia Bellolo wird abgespielt.)
Lucia Bellolo: Schloss Hartheim bedeutet mir wahnsinnig viel. Sie bemühen sich wahnsinnig um die Vergangenheit, irrsinnig. Und ich habe auch das Foto meines Vaters gefunden.
Nadja Bernhard: Wie war das?
Lucia Bellolo: War ein schöner junger Mann, mehr kann ich nicht sagen. Jetzt ist für mich Schloss Hartheim ein gewisser Kontakt mit meinem Vater. Und ganz selbstverständlich ist, dass ich bei jeder Veranstaltung und allem, was es irgendwie dazu gibt, da bin, solange ich noch bei vollem Hirn bin, und das hoffe ich noch sehr, sehr lange zu haben. Ich hoffe, dass ich den Hunderter noch genau so erlebe und dass man mich noch fragen kann, dass ich so wenig wie möglich vergesse und dass ich meine Unterlagen dann noch einmal überarbeite. Es macht Spaß, in der Welt noch so involviert zu sein.
Nadja Bernhard: Lucia Bellolo – gerne auch einen Applaus! (Beifall.)
Ich weiß, Frau Bellolo schaut uns jetzt zu. Es war wirklich berührend, zuzuhören, wie sehr sie noch partizipieren und Teil der Erinnerungskultur sein und etwas beitragen will.
Aber, Herr Schwanninger, die Stimmen der Zeitzeugen werden weniger und an Bedeutung gewinnen archäologische Funde. Da gab es sozusagen auch im Garten von Schloss Hartheim einen Fund: Sie sind zufällig auf Objekte von Opfern gestoßen. Was erzählen uns diese Objekte, Herr Schwanninger?
Florian Schwanninger: Genau. Zeitzeugen gibt es leider immer weniger, und bei uns im Ort, also Hartheim beziehungsweise Alkoven, das ist die Gemeinde, zu der Hartheim gehört, gibt es eigentlich nur mehr eine Frau, die uns aus eigener Erinnerung etwas über die Beobachtung der Tötungsanstalt erzählen kann, das ist Frau Olga Stoiber, die auch in der ORF-III-Doku zu sehen ist. Auch sie ist natürlich schon hochbetagt, aber sie kann noch etwas erzählen. Sonst werden die Zeitzeugen aber leider immer weniger.
Die archäologischen Fundgegenstände, die Sie angesprochen haben, wurden 2001/2002 eigentlich durch Zufall gefunden, kann man sagen, bei Grabungen für ein Heizungsrohr am Außengelände des Schlosses, auf der Ostseite des Schlosses. Da waren Gruben, die plötzlich aufgetaucht sind, als der Bagger da aufgegraben hat. Diese Gruben beinhalteten Überreste der Tötungsanlagen, Reste des Krematoriumofens, auch noch andere bauliche Reste, aber eben sehr viele persönliche Objekte, Habseligkeiten, größtenteils vermutlich aus dem Besitz der Ermordeten, die da in den Gruben drinnen waren.
Daneben wurden auch noch zahlreiche Gruben mit sterblichen Überresten, also mit Asche und Knochenstücken, gefunden. Diese menschlichen Überreste wurden dann in einer eigenen Friedhofsanlage auf der Ostseite des Schlosses bestattet. Die anderen Gruben wurden geborgen.
Genau kann man es nicht sagen, aber es sind etwa 8 000 Gegenstände, die sich jetzt in Schloss Hartheim in einem Depot befinden. Und das sind natürlich sehr berührende, persönliche Habseligkeiten, beispielsweise religiöse Devotionalien, Rosenkränze, dann natürlich auch Brillen, Zahnbürsten - -
Nadja Bernhard: Ein Lippenstift von Helena Rubinstein, habe ich gelesen.
Florian Schwanninger: Genau, oder auch Cremedosen, Schnupftabakfläschchen und ähnliche Dinge, Pfeifenköpfe. Das waren also wirklich diese Dinge, die Menschen mit sich nahmen, als sie weggebracht wurden, als ihnen gesagt wurde, dass sie jetzt auf Transport kommen.
Sie mussten ja schnell zusammenpacken. Ihnen wurde gesagt, sie kommen jetzt in ein Sanatorium, in eine neue, schönere Anstalt und so weiter. Sie haben die paar Sachen, die sie bei sich hatten – viel war das ja nicht in den Heil- und Pflegeanstalten oder in den Heimen –, mitgenommen, und die wurden dann, vermutlich Ende 1944, von den Täterinnen und Tätern quasi achtlos weggeworfen, vergraben.
Das sind sozusagen schon auch die letzten Spuren dieser Menschen, von denen sonst ja sehr wenig Spuren blieben. Und man kann anhand der Objekte sehen, dass das zum Teil Dinge sind, an denen sicher das Herz der Besitzerinnen oder der Besitzer gehangen ist: Medaillons, letzte kleine Erinnerungen auch an Ausflüge, an die Familie, beispielsweise ein Kaffeehäferl mit einem bestimmten Aufdruck vom Sonntagberg in Niederösterreich, wohin man wahrscheinlich einmal einen Ausflug gemacht hat, und so weiter.
Leider können wir nur ganz wenige dieser archäologischen Objekte persönlich zuordnen. Es gibt nur ganz wenige, bei denen wir genau sagen können, das hat dieser oder jener Person gehört. Aber trotzdem ist das ein besonders außergewöhnlicher Bestand.
Nadja Bernhard: Frau Schulze, wir stellen uns unserer Geschichte jetzt seit 80 Jahren – 80 Jahre Erinnerungskultur –, und trotzdem müssen wir gerade jetzt beobachten, dass antidemokratische Tendenzen zunehmen. Der Zweite Nationalratspräsident hat es erwähnt: 30 Prozent Zunahme bei antisemitischen Übergriffen. Was sagt das, Frau Schulze, über die Qualität unserer Erinnerungskultur aus? Oder provokant gefragt: Sind wir gescheitert?
Marianne Schulze: Das ist als Angehörige sehr schwierig zu beantworten. Für uns ist es, glaube ich, wie jetzt schon mehrfach durchgekommen ist, einfach einmal der erste wichtige Schritt, dass wir geschützt gedenken können. Es ist – wie meine Mutter, die heute auch hier anwesend ist, immer wieder sagt – einfach auch wichtig, einen Ort zu haben, an dem man das tun kann.
Und dass man sich da jetzt zusehends schutzlos fühlt, ist ein Indiz dafür, dass wir da, ja, etwas zu verbessern haben. Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, wir sind gescheitert – das wäre anmaßend –, aber ich glaube, wir haben noch viel zu tun, um sicherzugehen, dass sich das nicht nur nicht wiederholt, sondern dass uns allen einfach bewusst ist, welche Errungenschaft es ist, dass wir das überwunden haben, was dazu in unser aller Alltag beiträgt.
Ich glaube, ein Faktor ist sicher der, dass viel zu viele Menschen keine Möglichkeit haben, sich das Abstraktum von Demokratie zu vergegenwärtigen: was alles dazu im Alltag beiträgt, was für eine Errungenschaft das ist, dass das keine Selbstverständlichkeit ist.
Es wäre ein Faktor, dass wir gemeinsam darüber mehr sprechen.
Etwas, das mir persönlich auch immer wieder auffällt, ist: Wir haben in dieser Erzählung über unsere Geschichte wenig gemeinsam. Also es ist etwas, das in Österreich für meinen Begriff sehr parteipolitisch geprägt ist. Das ist dann immer der Konsens der Lagerstraße und so weiter, aber das ist immer so: Es kommt aus zwei Richtungen.
Und das, was ich mir als Angehörige wünschen würde, ist, dass es einen viel, viel faktischeren Umgang mit der Geschichte gibt, dass ich, wenn ich zu erkennen gebe – und mit dem Nachnamen Schulze ist das jetzt nicht so naheliegend –, dass ich sowohl über meinen Urgroßvater als auch über die andere Familienseite ein Enkelkind des Holocaust bin, dann nicht gleich abfangen muss, wie die Geschichte der anderen Familie war. Also das sind so Indizien, dass es genug zu tun gäbe, um dem Nie-wieder tatsächlich eine Bedeutung zu geben.
Und als Menschenrechtsexpertin ist es mir wichtig, dass wir jeglicher Form von Gewalt entgegentreten – und wir haben in Österreich viele Baustellen in dieser Richtung –, um sicherzugehen, dass sich auch wirklich alle sicher fühlen, dass wir aufhören, Menschen zu entwerten und zu bewerten – das kommt mir schon auch recht verbreitet vor –, und dass wir vor allem die eine Frage ultimativ nicht beantworten müssen, und das ist die: Wo hast du hingeschaut, als du weggeschaut hast?
Nadja Bernhard: Herr Schuhmann, was wünschen Sie sich für die Zukunft? Wie kann die Erinnerungskultur aufrechterhalten bleiben?
Wolfgang Schuhmann: Ich war in meinem Berufsleben mehr als 30 Jahre im Bildungsbereich tätig. Daher geht mein erstes Ansinnen an die Jugend. Schulsprecherin Lisa Hiebl hat bei der Feier 80 Jahre Republik Österreich am Sonntag vor einer Woche genau dies formuliert: Die Schülerinnen und Schüler sollten Gedenkstätten besuchen, die Geschichte sollte wach bleiben, sollte aktiv bleiben, man sollte es nicht unter den Teppich kehren, man sollte es nicht vergessen.
Was ich mir wünsche, sind – das mag vielleicht jetzt etwas komisch klingen – mehr Widerstandskämpfer: Widerstandskämpfer gegen das Vergessen, Widerstandskämpfer gegen das Verharmlosen, Widerstandskämpfer gegen die Uminterpretation von belasteten Begriffen, von Verharmlosung (Beifall), und das sollten wir, glaube ich, unseren Jugendlichen beibringen.
Zum Abschluss möchte ich noch den Vater der Schauspielerin Maria Hofstätter zitieren. Maria Hofstätter ist eine Verwandte von uns, unsere beiden Väter waren Cousins. Ihr Vater Michael hat meinen Vater immer sehr bewundert, weil er etwas getan hat. Auf die Frage, warum er als einfacher Bauernsohn im Mühlviertel über diese Dinge Bescheid wusste, sagte er: Das war ganz einfach. Man musste nur genau hinschauen und genau hinhören.
Und das ist es, was meines Erachtens in der heutigen Zeit ganz, ganz wichtig ist. Wir sollten uns nicht durch Plattformoligarchen, durch Algorithmen verleiten lassen, sondern wir müssen ganz einfach kritisch sein und diese individuelle Urteilskraft stärken. Das gilt für die Schüler, aber auch für alle Erwachsenen: dass wir in dieser Form einfach kritisch sind.
Nadja Bernhard: Herr Schwanninger, noch eine Frage an Sie mit der Bitte um eine kurze Antwort: Sie versuchen mit Ihrer Lern- und Gedenkstätte einen Bogen in die Gegenwart zu spannen. Kann aber Schloss Hartheim mit dieser dunklen Geschichte auch ein Ort gelebter Inklusion sein?
Florian Schwanninger: Wir versuchen eben in unserer Ausstellung „Wert des Lebens“, diesen Bogen von den Themen der Vergangenheit zu spannen. Also der Erzählbogen beginnt ungefähr in der Zeit der Aufklärung und geht bis in die Gegenwart.
Wir versuchen da, zu vermitteln: Wie ist die Gesellschaft mit Menschen mit Behinderungen umgegangen, mit Menschen mit psychischen Erkrankungen, mit Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen und die aus unterschiedlichen Gründen nicht die Leistung bringen konnten, die von ihnen gefordert wurde, oder die Unterstützung und Hilfe brauchten?
Wir versuchen das von der Vergangenheit bis in die Gegenwart zu vermitteln, und wir sehen uns auch die Zeit nach 1945 an. Wir behandeln auch Fragen aus dem Bereich Ethik in der Medizin, Sozialpolitik, eben wie gesagt auch Situationen von Menschen mit Behinderungen heute.
Wenn man das auf diese Art und Weise versucht und behandelt, dann, glaube ich, kann man schon auch den jüngeren Generationen nahebringen, warum es wichtig ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das ist kein Selbstzweck, sondern das ist sicher für die Gegenwart besonders wichtig.
Nadja Bernhard: Herr Schwanninger, Herr Schuhmann, Frau Schulze und Herr Andre, vielen Dank für das Gespräch. Das ist Ihr Applaus. Danke. (Beifall.)
Unsere Gedenkveranstaltung neigt sich dem Ende zu. Ich darf jetzt Bundesratspräsidentin Andrea Eder-Gitschthaler um die Abschlussworte bitten.
Abschlussworte
Andrea Eder-Gitschthaler (Präsidentin des Bundesrates): Niemals wieder! Gedenken bleibt unsere Aufgabe, eine immerwährende Verantwortung, eine Verpflichtung, die uns alle angeht. Hohe Gedenkversammlung! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Schülerinnen und Schüler! Im Mittelpunkt unserer heutigen Veranstaltung stand der Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim, ein Ort, der uns auf schmerzliche Weise mahnt. Wir haben heute sehr eindringlich über bedrückende Ereignisse und Vorgänge dort gehört. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist, sehr geehrte Damen und Herren – ich bin erschüttert.
Dort wurden zwischen 1940 und 1944 fast 30 000 Menschen ermordet, Menschen mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen, arbeitsunfähige KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Schloss Hartheim erinnert uns eindringlich daran, wohin Ausgrenzung, Menschenverachtung und Entmenschlichung führen können und wie dünn die Schicht der Zivilisation sein kann, wenn Menschenwürde und Mitmenschlichkeit verloren gehen.
Heute tragen wir nicht nur die Erinnerung an diese Opfer weiter, sondern auch die Verantwortung, ihre Geschichte lebendig zu halten. Die Stimmen der Überlebenden werden leiser, wir haben es heute schon gehört, darum sind die Erinnerungen ihrer Kinder und Enkelkinder heute umso wichtiger, und auch diese Erinnerungen dürfen nicht verstummen, denn sie sind ein kostbares Erbe, das wir bewahren, schützen und weitergeben müssen.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir denken heute auch an die Frauen, die nach dem Zusammenbruch des Krieges oft diejenigen waren, die Verantwortung für ihre Familien übernahmen, für das gesellschaftliche Leben, für den Wiederaufbau einer zerstörten Welt. Inmitten von Trümmern und Verlust haben sie Mut bewiesen, sie haben getragen, gepflegt und zusammengehalten, oft unsichtbar, oft unbeachtet, aber unermüdlich. Ohne den Mut und die Stärke dieser Frauen wäre der Wiederaufbau unserer Gesellschaft kaum möglich gewesen. (Beifall.)
Wir denken an die Jugend, damals wie heute. Die Jugend von damals wuchs in einer Welt der Zerstörung, der Schuld und der Sprachlosigkeit auf, oft ohne eigene Verantwortung für das, was geschehen war. Auch heute dürfen wir sie nicht vergessen. Kein junger Mensch trägt Schuld an den Verbrechen der Vergangenheit, aber jeder junge Mensch hat das Recht, über sie zu lernen. Wir haben es heute schon gehört: Bildung ist der Schlüssel dazu, damit sich die Geschichte niemals wiederholt. Unsere Aufgabe ist es nicht, Schuld zu vererben, sondern Bewusstsein zu fördern; nicht, Anklage weiterzugeben, sondern Verantwortung. Wir müssen weiter hinschauen und miteinander reden.
Gerade junge Menschen müssen Zugang zu diesen Erinnerungen haben. Es ist ihre Zukunft, die auf dem Fundament unserer Geschichte gebaut ist. Es ist unsere Aufgabe, Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den Erfahrungen der Überlebenden und dem Leben der Jugend heute zu schlagen – nicht durch erhobenen Zeigefinger, sondern durch echte Begegnung, durch Geschichten, die berühren, und durch Räume des Zuhörens und Verstehens. Wir hier im Parlament haben schon eine sehr gute Einrichtung, die Demokratiewerkstatt, wo viel, viel gemacht wird. Dafür möchte ich mich auch an dieser Stelle herzlich bedanken. (Beifall.)
Das österreichische Parlament bekennt sich nicht nur symbolisch zur Inklusion und zu den Menschenrechten, wir gestalten diese Werte aktiv mit, politisch, gesellschaftlich und ganz konkret. Das barrierefreie Parlamentsgebäude ist Ausdruck davon, dass Demokratie alle braucht, wirklich alle, und wir können stolz auf unsere Besucherinnen- und Besucherzahl hier sein. Doch Demokratie ist mehr als Gebäude und Gesetz, sie lebt von Menschen, die einander achten, sie lebt vom Dialog zwischen Generationen, von der Bereitschaft, zuzuhören, zu lernen und zu handeln.
Und wir alle, speziell wir Erwachsenen, tragen eine große Verantwortung, unsere Kinder und Kindeskinder, Enkelkinder beobachten uns, sie lernen von unserem Umgang miteinander, von unserer Haltung in Momenten der Herausforderung und Krise. Unsere Verantwortung geht also weit über bauliche Barrierefreiheit hinaus, sie fordert eine lebendige Erinnerungskultur von uns, einen offenen Dialog der Generationen. Es ist also unsere Pflicht, das Wissen um die Schrecken der Vergangenheit an die Jugend weiterzugeben, nicht als Last, sondern als Auftrag, Konflikte friedlich zu lösen, Unterschiede zu respektieren und die Würde jedes Menschen zu achten. Halten wir die Erinnerungen aufrecht.
Unser Handeln, unser Umgang miteinander prägt das Bild vom Zusammenleben für kommende Generationen. Lassen wir unsere Worte und Taten von Respekt, Empathie und Verantwortung leiten. Schloss Hartheim mahnt uns: Jeder Mensch ist wertvoll, kein Leben darf jemals wieder als unwert betrachtet werden. Möge unsere gemeinsame Erinnerung heute ein Versprechen sein, dass wir die Würde jedes einzelnen Menschen achten, dass wir wachsam gegenüber jeder Form von Ausgrenzung bleiben und dass wir für den Frieden arbeiten – nicht nur in großen Worten, sondern im Kleinen, im täglichen Miteinander, in unserem Zusammenleben.
Ich danke Ihnen allen für Ihr Dasein, Ihre Anteilnahme und Ihren Einsatz für eine Welt, in der Menschlichkeit siegt. Leben wir es auch! (Beifall.)
Nadja Bernhard: Vielen Dank für diese Abschlussworte, Bundesratspräsidentin Eder-Gitschthaler.
Wir wollen die heutige Gedenkveranstaltung musikalisch beenden. Wir hören ein Lied von Lorenz Maierhofer: „Gewalt hat keinen Sieg“.
Es war mir eine große Ehre, Sie durch diese Gedenkveranstaltung zu führen. Vielen Dank für Ihr Interesse. (Beifall.)
(Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Gewalt hat keinen Sieg“ von Lorenz Maierhofer, dargebracht von Musikerinnen und Musikern des Instituts Hartheim und der Landesmusikschule Oberösterreich. – Beifall.)
Schluss der Gedenkveranstaltung: 12.30 Uhr