Freitag, 9. Mai 2025
Nationalratssaal
Beginn der Veranstaltung: 10.06 Uhr
Die Veranstaltung beginnt mit der Einspielung des Videos „30 Jahre EU-Beitritt“.
Margit Laufer (Moderatorin): Österreich als gleichberechtigtes Mitglied in der Europäischen Union, und das seit 30 Jahren.
Einen wunderschönen Vormittag, meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Schülerinnen und Schüler, es freut mich ganz besonders, dass ich Sie heute Vormittag hier im Parlament begrüßen darf, an jenem Ort, an dem das Herz der österreichischen Demokratie am lautesten schlägt.
Wir haben es gesehen: Am 1. Jänner 1995 ist Österreich Mitglied der Europäischen Union – damals die Europäischen Gemeinschaft – geworden. Dem ist ein sehr langwieriger Prozess vorausgegangen – über Monate, über Jahre –, der durchaus auch einige Hürden bereitgehalten hat, der aber schlussendlich dazu geführt hat, dass Österreich seit nunmehr 30 Jahren Mitglied der Europäischen Union ist. Es sind Jahrzehnte, in denen Österreich von dieser Mitgliedschaft massiv profitiert hat.
Meine Damen und Herren, wir wollen heute auf diese drei Jahrzehnte zurückblicken, mit den Gastgebern der heutigen Veranstaltung, mit dem Präsidenten des Nationalrates Walter Rosenkranz, der Präsidentin des Bundesrates Andrea Eder-Gitschthaler und dem Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich Patrick Lobis. – Schönen Vormittag! (Beifall.)
Begrüßen darf ich außerdem die anwesenden Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung – schönen Vormittag! – und die Staatssekretäre. (Beifall.)
Ein herzliches Willkommen auch dem EU-Kommissar für Inneres und Migration Magnus Brunner, der heute die Europarede halten wird. (Beifall.)
Es freut mich auch ganz besonders, dass sich heute Vormittag drei Personen Zeit genommen haben, die den Beitritt und den gesamten Prozess, den es damals gebraucht hat, um Österreich als Mitglied der Europäischen Union ganz fest zu verankern, mitgeprägt und mitgestaltet haben wie keine anderen – herzlich willkommen! –: Bundeskanzler außer Dienst Franz Vranitzky, Außenministerin und EU-Kommissarin außer Dienst Benita Ferrero-Waldner und Staatssekretärin außer Dienst Brigitte Ederer – schönen Vormittag! (Beifall.)
Des Weiteren darf ich die Vertreterinnen und Vertreter des Diplomatischen Corps, den Zweiten Präsidenten des Nationalrates Peter Haubner und die Dritte Präsidentin des Nationalrates Doris Bures sowie den Vizepräsidenten des Bundesrates Michael Wanner begrüßen. (Beifall.)
Viele Gäste sind heute gekommen. Es freut mich außerdem, die anwesenden Klubobleute des Nationalrates, die ehemaligen Mitglieder der Bundesregierung und EU-Kommissare außer Dienst, alle aktiven und ehemaligen Abgeordneten zum Nationalrat sowie Mitglieder des Europäischen Parlaments und Mitglieder des Bundesrates ganz herzlich zu dieser Festveranstaltung begrüßen zu dürfen. (Beifall.)
Besonders erwähnen möchte ich noch – weil es mich auch besonders freut –, dass heute mehrere Schulklassen den Weg zu uns, zu dieser Festveranstaltung gefunden haben. Ich freue mich auch ganz besonders, Sie in dieser Runde begrüßen zu dürfen.
Schon jetzt ein Dankeschön an das Streichquartett, das Koffeinquartett, das uns heute durch die Veranstaltung begleiten wird. (Beifall.)
Ich kann es auch gleich dazusagen: Koffeinquartett deswegen, weil die vier gerne vor den Proben ein Tässchen Kaffee trinken und dann mit besonders viel Schwung in die Stücke starten. Sie werden uns nachher selbst davon überzeugen.
Margit Laufer: Warum blicken wir gerade heute auf 30 Jahre Österreich in der Europäischen Union zurück? – Der 9. Mai wird EU-weit als Europatag gefeiert und begangen. Er steht auch in diesem Jahr im Zeichen von Frieden und Einheit, denn am 9. Mai vor 75 Jahren hat der französische Außenminister Robert Schuman zum ersten Mal über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die EGKS, gesprochen, diese vorgeschlagen – sozusagen die Vorgängerinstitution der Europäischen Union –, und damit war der Grundstein gelegt.
Damit darf ich das Wort an Herrn Nationalratspräsidenten Walter Rosenkranz übergeben. (Beifall.)
Walter Rosenkranz (Präsident des Nationalrates): Hohe festliche Versammlung! Sehr geehrte Damen und Herren! Exzellenzen! Geschätzte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die heute diese Veranstaltung mitgestalten, und geschätzte Jugend, geschätzte Schülerinnen und Schüler auf den Rängen! Am 12. Juni 1994 traf das österreichische Volk eine weitreichende Entscheidung: In einer freien demokratischen Volksabstimmung stimmten rund zwei Drittel der wahlberechtigten Österreicherinnen und Österreicher für den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft, aus der sich die heutige Europäische Union entwickelt hat. Es war eine Entscheidung für eine offene Zukunft, für Partnerschaft und Zusammenarbeit, getragen vom Wunsch und der Hoffnung, Österreich in einem größeren europäischen Rahmen mit dessen Vorteilen zu verankern.
Mit dem Beitritt am 1. Jänner 1995 begann für Österreich ein neues Kapitel: politisch, wirtschaftlich, kulturell. Drei Jahrzehnte sind seither vergangen. Heute, am Europatag – wir haben bereits den Anlass, nämlich die Schuman-Erklärung vom 9.5.1950, gehört –, nehmen wir diese dreißigjährige Wegstrecke in den Blick: Was hat sich verändert? Was hat uns gestärkt? Welche Kritik wurde laut? Welche Ideen stehen im Wettstreit? Wo stehen wir? Wohin soll der Weg führen?
Der Europatag ist mehr als eine symbolische Geste. Er ist eine Erinnerung an die Grundidee Europas, unseres gesamten – unter Anführungszeichen – „alten Kontinents“: die Überwindung von Grenzen durch Verständigung, die Sicherung des Friedens durch Kooperation und Grundfreiheiten und die Stärkung der Freiheit durch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. – Diese Grundpfeiler sind nicht verhandelbar, sie sind der Maßstab jeder politischen Entscheidung in Europa und auch hier im österreichischen Parlament.
Aus meiner Sicht – ich teile sie mit vielen – ist Europa stark, wenn es die Vielfalt seiner Völker und Kulturen achtet, wenn es nicht Vereinheitlichung erzwingt, sondern Gemeinsamkeit ermöglicht und wachsen lässt, wenn es nicht mit zentralistischen Reflexen antwortet, sondern den Menschen und ihren Regionen vertraut. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle, ein großer Europäer, hat einst betont, dass Europa nur dann dauerhaft Bestand haben könne, wenn es ein Europa der Vaterländer sei – ein Bündnis freier, souveräner Nationen, die freiwillig zusammenarbeiten, ohne ihre Eigenständigkeit aufzugeben. Dieser Gedanke bleibt aktuell. Er mahnt uns: Zusammenarbeit ist wertvoll, wenn sie auf Freiwilligkeit beruht – nicht auf Zwang.
Österreich ist ein aktives Mitglied der Europäischen Union. Wir haben Brücken gebaut, Dialoge geführt, unsere Stimme erhoben – als neutrales Land, als Hort von Kultur, Innovation und Stabilität. Dennoch dürfen wir nicht vergessen: Europa und speziell die EU ist kein statisches Gebilde, es ist ein lebendiger – auch unter Anführungszeichen – „Organismus“, und wie jede lebendige Ordnung muss auch die Europäische Union lernfähig sein, offen für notwendige Veränderung, offen für berechtigte und konstruktive – ich betone: konstruktive – Kritik.
Der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, ein weiterer großer Europäer und Staatsmann, hat es auf den Punkt gebracht: „Demokratie ist kein Zustand, Demokratie ist ein Prozess.“ – Dieser Satz gilt nicht nur für unsere nationalen Parlamente, sondern auch für die europäische Ebene. Wer Reformen fordert, wer Fehlentwicklungen anspricht, handelt nicht gegen Europa und die EU, sondern für ein besseres Europa und eine bessere Europäische Union. Kritik ist kein Angriff, sondern Teil des demokratischen Dialogs. Wer diesen Dialog verweigert, gefährdet die Akzeptanz jeglichen politischen Handelns bei seinen Bürgerinnen und Bürgern auf allen Ebenen: von der Gemeinde, den Regionen, den Staaten und den Staatenverbänden.
Gerade in Zeiten gewaltiger Herausforderungen – von außenpolitischen Spannungen über wirtschaftliche Unsicherheiten bis hin zu Fragen der Souveränität – muss Europa insgesamt widerstandsfähiger, bürgernäher und demokratischer werden. Dazu braucht es auch Ideen und den Mut zur Veränderung sowie zusätzlich den Respekt unterschiedlicher Meinungen – auch in diesem Hohen Haus.
Werte Gäste! 30 Jahre EU-Mitgliedschaft sind nicht einfach nur ein Anlass zum Feiern. Sie sind ein Anlass zum Nachdenken, zum Reflektieren. Die Entscheidung von 1994 war ein Vertrauensbeweis in die eigene Gestaltungskraft. Dieses Vertrauen tragen wir weiter – als Republik, als Parlament, als Bürgerinnen und Bürger.
Eine Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik vom Dezember 2024 weist aus, dass aktuell 60 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher für die Mitgliedschaft in der EU sind; 25 Prozent wünschen sich einen Austritt und 15 Prozent sind unsicher beziehungsweise geben keine Antwort. Das sind statistisch gesehen nahezu die Zahlen wie vor 30 Jahren in der Volksabstimmung. Das kann man als gewisse Stabilität ansehen – oder aus Sicht der EU, dass es über 30 Jahre zu keinen deutlich positiveren Stimmungslagen gekommen ist. Nun, auch das Ziehen von Schlüssen aus Befragungen ist politisches Handwerk.
Viele – auch in Österreich – arbeiten im Sinne der „Politeia“ des Philosophen Platon an einem idealen und vor allem gerechten Staat. Ich danke allen, die auf diesem Weg Verantwortung übernommen haben – in der Politik, in der Verwaltung, in der Gesellschaft. Möge dieser Europatag ein zusätzlicher Impuls sein: für ein Europa, das seine Wurzeln kennt, seine Ideale verteidigt und vor allem den Menschen dient und nützt.
In diesem Sinne darf ich Sie herzlich zum Europatag im österreichischen Parlament willkommen heißen. (Beifall.)
Margit Laufer: Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Margit Laufer: In diesem Sinne, um den Dialog zu fördern und auch ein offenes Ohr bei jenen zu haben, die die Europäische Union mitgestalten, mitprägen, nämlich bei den Bürgerinnen und Bürgern, bei den Mitgliedsländern, hat die Europäische Kommission in den Mitgliedsländern Vertretungen, um noch näher dran zu sein. Die Verbindung zur Europäischen Kommission ist die Ständige Vertretung, deren Leiter ich jetzt begrüßen darf. Meine Damen und Herren: der Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich Patrick Lobis. (Beifall.)
Patrick Lobis (Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Abgeordnete! Mitglieder der Bundesregierung! Werte Ehrengäste, die Sie sich heute die Zeit nehmen! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Vor allem aber – erlauben Sie es mir – liebe Schülerinnen und Schüler! Vielen herzlichen Dank, es freut mich sehr, dass auch ich Sie zum heutigen Festtag begrüßen darf.
Herr Präsident, Frau Präsidentin, werte Abgeordnete, als Erstes ein großes Dankeschön, dass wir bei Ihnen zu Gast sein dürfen. Das ist ein ganz starkes Zeichen. Es ist eine große Freude und es ist eine große Ehre, dass wir heute Europa im Hohen Haus feiern dürfen. Vielen Dank, dass wir diese Tradition weiterführen können. (Beifall.)
Meine Damen und Herren, schon vorab möchte ich mich bei allen Ehrengästen, den Rednern, den Diskutanten bedanken, natürlich auch bei der musikalischen Untermalung, bei der ausgezeichneten Moderation und nicht zuletzt beim gesamten Team aus dem Parlament und bei den anderen Teams, die diesen Festakt heute möglich machen. – Vielen, vielen herzlichen Dank. (Beifall.)
Wir feiern heute Europa. Wir feiern natürlich besonders das 30-Jahre-Jubiläum. Wir werden dann noch ins Detail einsteigen, viel davon hören, diskutieren, aber klar ist: Europa braucht Österreich, und Österreich profitiert enorm.
Vielleicht nur ein, zwei Schlagzeilen: Über 1 Million Arbeitsplätze in Österreich hängen vom gemeinsamen Binnenmarkt ab. 150 000 junge Österreicherinnen und Österreicher haben am Erasmus-Programm teilgenommen und unschätzbare Erfahrungen gesammelt. Für Österreich ist es auch von unschätzbarem Wert, eine starke Europäische Union auf dem Weltparkett zu haben, die auf Augenhöhe agieren kann. Sie sehen, es gibt zig Beispiele, aber ganz kurz gesagt, auch liebe Schülerinnen und Schüler: Ich glaube, die EU und Österreich, das ist eine richtig gute Sache.
Meine Damen und Herren! Deshalb erlauben Sie mir kurz, mich auch direkt vor allem an die Jugendlichen hier zu wenden und eine kurze persönliche Geschichte zu erzählen. Ich war nämlich vor 30 Jahren genauso alt wie Sie, wie ihr jetzt. Wir haben natürlich intensiv diskutiert, und ich war – und bin es immer noch – ein überzeugter Befürworter, aber mein bester Freund damals, Jürgen, war sehr skeptisch. Wieso ich euch das erzählen möchte? – Weil diese Differenz, diese unterschiedlichen Auffassungen unsere Freundschaft nicht zerstört haben, im Gegenteil. Ich glaube, wir sind engere Freunde geworden, wir sind zusammengewachsen. Wir haben uns ausgetauscht, wir haben einander zugehört, die Argumente aufgenommen, und am Ende hat dieses gemeinsame Debattieren und Diskutieren, glaube ich, unsere Freundschaft stärker gemacht.
Die Erfolgsgeschichte Österreichs in der Europäischen Union, die Stärke Europas: Das hat meinen Freund Jürgen dann Schritt für Schritt überzeugt, und heute kennt er, schätzt er und sieht er die Vorteile, auch und vor allem angesichts der großen, großen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen. Nicht zuletzt ist der Wind in der Weltpolitik deutlich rauer geworden, im Bereich der Sicherheit, im Bereich der Wirtschaft. Wenn wir unsere Zukunft gestalten wollen, dann braucht es die Stärke von 450 Millionen Europäerinnen und Europäern, gemeinsam und geeint in einer Union.
Liebe Jugendliche, deshalb wünsche ich euch, dass ihr auch neue Blickwinkel entdeckt, verschiedenen Meinungen zuhört, intensiv diskutiert. Wir werden uns heute im Haus der Europäischen Union wiedersehen, ihr werdet mit Frau Bundesministerin Plakolm und Herrn Kommissar Brunner diskutieren. Ich freue mich riesig darauf. Bitte seid auch durchaus kontrovers, weil – Herr Präsident, Sie haben es gesagt – Europa von der Debatte lebt. Ihr seid es, die Europa formen werden, und deshalb freue ich mich schon jetzt auf diese Diskussion. Ich wünsche euch wie gesagt die Freude an der Debatte. (Beifall.)
Meine Damen und Herren, diese Freude an der Debatte – das ist hier im Hohen Haus natürlich ganz besonders zu erwähnen –, die respektvolle Auseinandersetzung auf Augenhöhe, am Ende das Gemeinsame über das Trennende zu stellen: Das ist ja der Kern unserer Demokratie, das ist unsere größte Stärke, finde ich, und ich glaube, das ist auch das Fundament der europäischen Idee. Genau das wollen wir heute feiern.
Sie haben es schon angesprochen: Heute vor 75 Jahren hat der damalige französische Außenminister Schuman eine revolutionäre Idee gehabt – völlig unglaublich eigentlich –, dass kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa aus Erz- und Erbfeinden – über Jahrhunderte hinweg Krieg – engste Freunde und Partner werden. Das ist ja eigentlich schon unvorstellbar. Wenn man einmal kurz innehält und sich das überlegt: unvorstellbar! – Aber es hat geklappt.
Ich glaube deshalb, meine Damen und Herren und vor allem liebe Jugendliche: Lassen Sie uns das als Vorbild nehmen, denken wir ab und zu daran! Lassen Sie uns gemeinsam an unserem Europa bauen: friedlich, respektvoll und auf Augenhöhe!
Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen eine interessante Veranstaltung und gute Gespräche. Heute feiern wir in gewisser Weise den Geburtstag einer einmaligen Idee, einer – ich darf es so sagen – genialen Idee, einer Idee, die Österreich in den vergangenen 30 Jahren so viel an Wohlstand, an Sicherheit gebracht hat, einer Idee, dass wir in Vielfalt geeint mehr erreichen können. Daher lassen Sie mich schließen mit einem kräftigen: Happy Birthday, Europäische Union! Hoch lebe unser Europa! – Vielen herzlichen Dank. (Beifall.)
Margit Laufer: Herzlichen Dank, Herr Lobis.
Das ist eine Idee, die Österreich vom Rande der Europäischen Union in die Mitte gerückt hat. Wenn man auf diese 30 Jahre oder auf die 75 Jahre zurückblickt, sieht man doch: Es gab immer wieder einige Herausforderungen. Die Herausforderungen für die Europäische Union sind vor allem in der jetzigen Zeit wohl größer denn je. Es sind ganz andere Herausforderungen als noch vor 30 Jahren: Wirtschaftskrise, Coronakrise und dann vor allem auch der Brexit. Der hat in den vergangenen Jahren schon einiges auf europäischer Ebene bewirkt.
Margit Laufer: Herr Lobis, Sie haben es angesprochen: Auch die Themen Sicherheit, Asyl und Migration gehören derzeit zu den wichtigsten Themen der Europäischen Union. Davon wollen wir jetzt in der Europarede des EU-Kommissars für Inneres und Migration Magnus Brunner mehr hören. – Herzlich willkommen. (Beifall.)
Magnus Brunner (EU-Kommissar für Inneres und Migration): Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Präsident! Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ehemalige Regierungsmitglieder! Regierungsmitglieder im Amt! Exzellenzen! Liebe Jugendliche! Werte Gäste! Ja, es ist Europatag, aber, meine Damen und Herren, es ist ein Europatag, würde ich meinen, wie kein anderer in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Wir erinnern uns 2025 gleich mehrerer historischer Meilensteine, die unser Land und auch unser Europa insgesamt geprägt haben.
Vor 30 Jahren trat Österreich der Europäischen Union bei, vor 40 Jahren wurde das Schengener Abkommen unterzeichnet, eine der größten Errungenschaften, würde ich meinen, der Europäischen Union, und vor 80 Jahren begann mit der Gründung der Zweiten Republik insgesamt ein ganz neues Kapitel unserer Geschichte.
Möglich wurde all dies, weil Europa die Versöhnung gewählt hat, angesichts dieses verheerenden Krieges, an dessen Ende heuer natürlich auch gedacht und erinnert wird, weil es Versöhnung und Frieden gewählt hat. Dem Tag der Befreiung folgt der Europatag, was uns daran erinnert, dass Frieden und europäische Integration seit 80 Jahren durchaus Hand in Hand gehen. Das sind mehr als historische Daten. Das ist auch ein Ausdruck unseres Willens, unser Leben in Freiheit, in Demokratie und auch in Wohlstand zu führen.
Diese Entscheidungen von damals bieten sozusagen den Anker in der Welt von heute, in einer Welt, die nicht als selbstverständlich angesehen werden kann, in einer Welt, in der unsere Sicherheit auf der einen Seite im Osten bedroht ist und auf der anderen Seite im Westen neu gedacht werden muss.
An diesem heutigen Europatag wird, glaube ich, überdeutlich: Die Europäische Union ist heute so wichtig wie seit ihrer Gründung nicht mehr. Ich glaube, als aktives Mitglied einer starken Europäischen Union können wir durchaus mit Zuversicht und auch mit Selbstvertrauen in die Zukunft blicken, egal wie groß die Herausforderungen sind.
Lassen Sie mich eines auch hier ganz klar sagen – und ich sage es, glaube ich, wie es ist –, ganz besonders an diejenigen gerichtet, die die Erfolge der europäischen Integration insgesamt infrage stellen: Wir hätten vor 30 Jahren keine bessere Entscheidung treffen können, als dieser Europäischen Union beizutreten. (Beifall.)
Aus meiner Sicht haben die Architektinnen und Architekten des österreichischen EU-Beitritts großartige Arbeit – natürlich gegen viel Skepsis – im Interesse unserer gesamten Bevölkerung geleistet. Unser damaliger Bundeskanzler Franz Vranitzky, den ich auch sehr herzlich begrüßen darf, hat es einmal so ausgedrückt: „Es war ungefähr so, als hätte ich einen Schneeball zum Grillen aufgelegt.“ – Am Ende wurde dieser Schneeball tatsächlich gegrillt. Ich möchte Ihnen und allen anderen Beteiligten wie natürlich auch der damaligen Europa-Staatssekretärin Brigitte Ederer an dieser Stelle wirklich den tiefsten Dank aussprechen. (Beifall.)
Klar ist auch, es würde unseren ureigenen Interessen widersprechen, sich nicht an der europäischen Integration zu beteiligen. Allein wirtschaftlich, wir haben das vorhin gehört, haben wir als Republik Österreich nur gewonnen. Mehr als 63 000 österreichische Unternehmen, vor allem Klein- und Mittelbetriebe, profitieren von diesem Binnenmarkt, nahezu jeder zweite Arbeitsplatz hängt von diesem europäischen Binnenmarkt ab. Knapp 70 Prozent unserer Ausfuhren gehen in EU-Partnerländer. Dass mittlerweile 20 EU-Staaten den Euro eingeführt haben, erleichtert den Handel natürlich auch noch zusätzlich.
EU-Förderungen haben die regionalen Wohlstandsunterschiede, die wir natürlich auch in Österreich gesehen haben, dramatisch und drastisch verringert, angefangen bei Infrastrukturprojekten im Bereich Verkehr oder Digitalausbau über Forschung und Naturschutz bis hin zur Unterstützung von kulturellen und sozialen Programmen. In all diesen Bereichen kommen EU-Gelder den Österreicherinnen und Österreichern ganz direkt zugute. Manchmal erkennt man das vielleicht an der europäischen Fahne, aber viel zu häufig ist es eigentlich überhaupt nicht zu erkennen. Wenn EU drin steckt, dann muss, wie ich finde, auch EU draufstehen – und zwar so, dass man es auch sieht. Das kommt leider oft zu kurz.
Wir sollten auch nicht nur fragen, was die Europäische Union für uns tun kann, und sie immer für selbstverständlich hinnehmen, sondern eben auch fragen, was wir zur EU beitragen können. Was können wir als Mitgliedstaaten beitragen? – Dazu gehört auch, Europa in Österreich, in jedem Mitgliedsland sichtbarer zu machen, deutlicher und vielleicht auch besser über Europa zu sprechen, natürlich nicht nur am heutigen Europatag.
Österreich ohne die Europäischen Union ist heute aus meiner Sicht gar nicht mehr vorstellbar, aber ebenso wenig ist die Europäische Union ohne Österreich vorstellbar. Unser Land setzt durchaus wichtige Impulse in Europa wie zum Beispiel bei der Osterweiterung. Nur um ein Beispiel herauszunehmen: Unsere Lage und auch unsere Geschichte haben uns zum, würde ich einmal sagen, idealen Brückenbauer gemacht. Damit haben wir entscheidend zur Überwindung der Teilung Europas beigetragen, sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Jetzt unterstützen wir dabei, den Westbalkan, Südosteuropa näher zu holen, näher an die europäischen Werte heranzuholen, was für Stabilität in unserer Nachbarschaft und damit auch in der gesamten Europäischen Union sorgt.
Österreich ist auch ein Beispiel dafür, dass nicht nur große Mitgliedstaaten die Geschicke der Europäischen Union prägen. Für das, was uns lieb und teuer ist, setzen wir uns teilweise mit sehr großem Erfolg ein – wenn ich zum Beispiel an die ländliche Entwicklung denke –, was einen sehr positiven Einfluss auf das Leben der Menschen in ganz Europa hat. Wir scheuen auch nicht davor zurück, unangenehme Wahrheiten wie beispielsweise bei der Migrationspolitik auszusprechen. Österreich hat schon früh damit begonnen und auf Probleme hingewiesen, deren Lösung dann in Brüssel auf den Weg gebracht wurde.
Letztendlich spielen dabei natürlich auch die großartigen Persönlichkeiten eine Rolle, die uns in Europa vertreten und vertreten haben. Einige sind heute Gott sei Dank unter uns wie Benita Ferrero-Waldner, die mit ihrem enormen diplomatischen Geschick persönlich auch maßgebliche Brückenbauerin Richtung Osten war, oder Johannes Hahn – Gio Hahn, wie wir ihn freundschaftlich nennen –, der 15 Jahre die europäische Politik für uns prägte und auch wichtige Reformen innerhalb der Europäischen Union auf den Weg brachte, die am Ende allen Österreicherinnen und Österreichern, allen EU-Bürgern zugutekamen. Franz Fischler, der heute nicht hier sein kann, hat mit der Agrarreform Maßstäbe gesetzt und sprichwörtlich das positive Bild Österreichs in Europa und umgekehrt Europas in Österreich geprägt.
An dieser Stelle möchte ich aber auch alle jenen danken, die sich jeden Tag aufs Neue mit ihrem vollen Engagement für Europa einsetzen, sei es im Kreis der Mitgliedstaaten, als Regierungsmitglieder, als EU-Gemeinderäte – auch eine wesentliche Errungenschaft – oder seien es die Österreicherinnen und Österreicher, die in den EU-Institutionen und deren unmittelbarem Umfeld dafür sorgen, dass unsere Stimme, die österreichische Stimme in Europa gehört wird. Ich glaube, darauf können wir aufbauen. Die Europäische Union kann in einiger Hinsicht sicher noch ein bisschen mehr Österreich oder ein paar Österreicherinnen und Österreicher mehr vertragen.
Wir haben also gemeinsam schon viel erreicht, würde ich meinen, aber natürlich gibt es noch Baustellen bei uns in Österreich und auch in der Europäischen Union. Vieles könnte selbstverständlich besser klappen, auch schneller klappen. Die Wirtschaft beispielsweise muss dringend angekurbelt werden. In Brüssel wird kräftig an dieser Kurbel gedreht. Das kommt vielleicht in den Mitgliedstaaten auch nicht immer so schnell und so unmittelbar an.
Der freie Handel, von dem die Europäischen Union, der Binnenmarkt insgesamt lebt, war immer ein Motor des globalen Wohlstands. Er hat auch den Lebensunterhalt von Millionen europäischer Familien gesichert. Jetzt sind die globalen Märkte durch die, ich würde mal sagen, unvorhersehbare Zollpolitik der US-Regierung durchaus erschüttert. Da hat schon ein Wandel stattgefunden. Wir wissen es alle, Zölle sind wie Steuern, sie schaden den Unternehmen, sie schaden aber auch am Ende des Tages natürlich den Konsumentinnen und Konsumenten.
Wie es aber so schön heißt: In jeder Krise liegt auch eine Chance. Wir müssen an dem festhalten, was uns stark, was uns global attraktiv macht, nämlich offene Märkte, Handels- und Investitionspartnerschaften, ein freier und ein fairer Handel, den wir dringend brauchen. Wir haben jetzt bereits das größte Netzwerk von Freihandelsabkommen mit 76 Ländern weltweit, und jetzt wendet sich uns die Welt des Handels weiter zu. Das ist das Positive: dass wir lernen, mit Ländern wie Malaysia, Indonesien, Indien oder auch mit Staaten aus Zentralasien zu kooperieren. Sie stehen eigentlich Schlange, um mit uns als Europäischer Union wirtschaftlich enger zu kooperieren.
Wir sind nicht nur aufgrund unserer Wirtschaftsstärke – die Einwohner wurden erwähnt: 450 Millionen Europäerinnen und Europäer im Gegensatz zu 350 Millionen US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner; um auch da den Zusammenhang aufzuzeigen – ein gefragter Geschäftspartner. Gerade in turbulenten Zeiten wie diesen stehen wir als Europäische Union für Zuverlässigkeit, gegenüber unseren Partnern aber auch für Vertrauen.
Der Schlüssel für unseren Wohlstand liegt aber auch darin, unser eigenes Haus, unser eigenes europäisches Haus in Ordnung zu bringen und den Handel innerhalb Europas zu erleichtern, zu verbessern. Noch gibt es in unserem Binnenmarkt zu viele Barrieren, zu viele nationale Barrieren auf der einen Seite, und auf der anderen Seite natürlich auch Fragmentierung und Bürokratie, und das gilt es, in Angriff zu nehmen.
Wir haben die inzwischen berühmten Omnibusse ins Leben gerufen, um zu vereinfachen und zu beschleunigen, weil wir als Europäische Union insgesamt natürlich aufwachen müssen. Alleine die Berichtspflichten, über die oft gesprochen wird, werden damit für kleinere und mittlere Unternehmen um 35 Prozent verringert. Wir müssen es nur auch in den Mitgliedstaaten umsetzen, das ist klar, und nicht nur darüber sprechen. Das ist natürlich auch für Österreich und die Unternehmenslandschaft innerhalb Österreichs besonders wichtig.
Wenn wir alle Handelshemmnisse, um noch kurz bei dem Thema zu bleiben, innerhalb des europäischen Binnenmarktes abbauen würden – theoretisch natürlich –, könnten wir unser Bruttoinlandsprodukt um 10 Prozent steigern. Ich sage das nur, damit wir auch die Notwendigkeiten und die Hausaufgaben sehen, die wir innerhalb Europas auch noch zu meistern haben. Es ist, glaube ich, wirklich Zeit, diese Fesseln abzuwerfen. Deswegen werden wir als EU-Kommission noch in diesem Monat ganz konkrete Vorschläge dazu machen, wie wir diesen Binnenmarkt stärken können, was Österreich als exportorientiertem Land selbstverständlich auch die gewünschten Effekte bescheren wird.
In die Zukunft investieren heißt aus meiner Sicht auch, in Wissenschaft und Innovation zu investieren und in die Forscherinnen und Forscher zu investieren, die Europa bei Schlüsseltechnologien – von KI bis Quantenphysik, von Halbleitern bis Mikroelektronik, auch bis zu digitaler Gesundheit und Biotechnologie – nach vorne katapultieren können. Wir wollen, dass die Klügsten und die Besten nach Europa kommen und Europa wählen. In anderen Teilen der Welt, würde ich meinen, wird die Rolle der Wissenschaft momentan infrage gestellt – nicht so in Europa.
Wir stehen für stabile Bedingungen, wir stehen für Fortschritt und wir stehen auch für Offenheit gegenüber neuen Ideen. Deswegen haben wir Choose Europe – Wähle Europa! – ins Leben gerufen, damit Forscherinnen und Forscher in der Europäischen Union die richtigen Bedingungen vorfinden und auch die entsprechende finanzielle Förderung erhalten. Am Ende des Monats kommt deswegen auch die EU-Strategie für Start-ups und Scale-ups. Regulatorische und andere Barrieren müssen abgebaut und der Zugang zu Risikokapital erleichtert werden.
Jetzt liegt es durchaus an uns, unsere gemeinsamen Stärken in Europa noch besser zu nutzen, unser Gewicht auf der Weltbühne zu erhöhen, indem wir intern – innerhalb Europas, zwischen den Mitgliedstaaten – enger zusammenstehen. So stehen wir, glaube ich, stürmische Zeiten auch in der Weltwirtschaft gemeinsam durch.
Diese enge Zusammenarbeit gilt natürlich auch, wenn es um unsere Sicherheit geht – die Moderatorin hat das vorhin auch angesprochen. Zu Recht wollen die Menschen in Europa, dass die Europäische Union auch in diesem Bereich eine gewisse Führungsrolle übernimmt. Ein weiterer Architekt unseres EU-Beitritts, unser damaliger Außenminister Alois Mock, hat angemerkt, dass die Europäische Union uns die höchste Sicherheit für Frieden und gegen Krieg bietet. Freilich hat damals niemand geahnt, was heute unmittelbar vor unseren europäischen Grenzen geschieht und auf welche Weise dieses Friedensversprechen von damals nun auf die Probe gestellt wird. Heute besteht aber kein Zweifel daran, dass wir die Situation nicht aussitzen können, sondern selbst für unsere Sicherheit in der Europäischen Union sorgen müssen.
Es ist deshalb auch gut und richtig, dass wir nun in ganz großen Schritten vorangehen und dafür sorgen, dass wir als Europäische Union verteidigungsfähig sind. Das ist doch ein neuer Zugang, würde ich meinen. Auch wenn es uns nicht gefällt, die Sicherheitsfrage wird die europäische Politik auch in den kommenden Jahren dominieren; und auch Österreichs Sicherheit hängt natürlich davon ab, wie wir das auf der europäischen Ebene, auf der EU-Ebene voranbringen.
Wir haben – auch das fällt in meine Verantwortung in Brüssel – erst kürzlich eine Sicherheitsstrategie vorgestellt, die ein neues Prinzip einführt: dass Sicherheit in allen Bereichen mitgedacht werden muss und mitgedacht wird, sei das bei Energie, sei das bei Infrastruktur oder bei der Digitalisierung, weil die Bedrohungen sich einfach auch verändert haben. Diese externen und internen Bedrohungen vermischen sich auch immer mehr, worauf wir als Europäische Union und als Mitgliedstaaten natürlich auch vorbereitet sein müssen, damit Sicherheit eine Selbstverständlichkeit bleibt.
Auch bei der Migration, meinem zweiten Schwerpunkt, zeigt sich, wie sich europäische Kooperation auszahlt. Eigentlich nach Jahren der Blockade haben wir das Gemeinsame Europäische Asylsystem beschlossen. Unser jüngster Vorschlag zu schnellen Rückführungen findet in der gesamten Europäischen Union durchaus großen Zuspruch. Sehen wir also der Wahrheit ins Auge: Gemeinsam, als Europäische Union, als Mitgliedstaaten sind wir stärker.
In meiner neuen Funktion treffen wir regelmäßig auch Regierungsvertreter aus anderen Staaten, aus sogenannten Drittstaaten, außerhalb der Europäischen Union – meine Vorgänger natürlich über die vielen Jahre noch intensiver –, und bei jedem dieser Kontakte wird klar, wie die Europäische Union – jetzt noch mehr – von außen wahrgenommen wird, nämlich schon als stark, als seriös, als verlässlich, als glaubwürdig, und das sollte uns, glaube ich, allen bewusst sein. Wir können durchaus stolz darauf sein. Das soll uns insgesamt auch Zuversicht und Selbstvertrauen geben.
Am Europatag 2025 – in einem Jahr, das uns alle ganz besonders fordert, würde ich meinen – sehen wir es deutlicher denn je, wie wertvoll und wie wichtig dieses Europa ist, geworden ist – es immer mehr wird. Die Devise muss lauten: Choose Europe!, wie vorhin erwähnt. Gerade jetzt, glaube ich, ist dieses Choose Europe von entscheidender Bedeutung.
Nun gebe ich schon zu, der europäische Weg ist nicht immer der einfachste. Er verlangt Kompromisse, er verlangt Geduld, manchmal auch Mut, aber am Ende ist es immer der bessere Weg, denn Europas Kraft und Österreichs Zukunft liegen durchaus in der Einheit, nicht im Alleingang. Wer Europa stärkt, stärkt nicht nur das jetzige Europa, sondern stärkt auch zukünftige Generationen. Unsere Verantwortung geht nicht nur über diesen Europatag oder dieses Jahr hinaus. Wir tragen auch Verantwortung dafür, dass unsere Kinder und Enkelkinder auf diesem Kontinent, so wie wir es auch erlebt haben, in Frieden, in Sicherheit, in Wohlstand aufwachsen können, leben können.
Am Europatag 2025 sagen wir auch deshalb nicht nur: Wir feiern Europa! – ja das tun wir auch –, sondern wir sagen auch: Europa ist unser Zuhause, und unsere Aufgabe ist es, dieses Zuhause zu schützen, nach innen zu schützen, nach außen zu schützen! – Österreich hat in diesem Europa seinen festen Platz, und zwar genau dort, wo unser Herz schlägt: in der Mitte. Österreich liegt in der Mitte Europas, nicht am Rand, nicht mit Abstand, sondern eben mittendrin. – Herzlichen Dank. (Beifall.)
Margit Laufer: Herzlichen Dank, Herr Kommissar.
Nach diesen durchaus mahnenden Worten wollen wir jetzt in eine andere Welt eintauchen, in die Welt der Musik. Wir begeben uns auf eine Reise in ein malerisches Dorf in Dänemark. Gespielt wird das Stück vom Koffeinquartett, von Anna Huber, Daniel Fischer, Dominik Fischer und Gunther Skala. Sie zeigen uns – wir hören es dann gleich – ein facettenreiches wie melancholisches Stück, ein dänisches Volkslied aus Sonderho: „Brudestykke“. – Bitte schön.
(Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Sonderho Bridal Trilogy Part II“, dargebracht vom Koffeinquartett. – Beifall.)
Margit Laufer: Einen herzlichen Dank an das Streichquartett. Diesen Schwung wollen wir jetzt auch gleich mitnehmen.
Wir wollen uns jetzt Raum und auch Zeit nehmen, um auf diese 30 Jahre zurückzublicken, aber auch, um eine kleine Standortbestimmung der Europäischen Union vorzunehmen. Dazu darf ich jetzt zu mir bitten: Bundeskanzler außer Dienst Franz Vranitzky, Außenministerin und EU-Kommissarin außer Dienst Benita Ferrero-Waldner und Staatssekretärin außer Dienst Brigitte Ederer. – Bitte schön. (Beifall.)
Ich darf Sie, Herr Bundeskanzler, gleich an meine Seite bitten, dann Frau Ferrero-Waldner und Frau Ederer gerne ganz außen – herzlichen Dank.
Ich möchte ganz kurz mit einer kleinen Einordnung beginnen. Wir haben heute sehr viele Schülerinnen und Schüler da, für die diese 30 Jahre schon sehr lange zurückliegen, deswegen möchte ich ganz kurz erklären, wie Ihre Rolle damals war.
Herr Bundeskanzler, Sie waren in dieser Zeit und auch schon in der vorbereitenden Zeit des EU-Beitritts Bundeskanzler, waren dann auch während der Beitrittsverhandlung, während der Volksabstimmung in führender Funktion – eben als Bundeskanzler –, und haben diesen ganzen Zeitraum sehr intensiv begleitet. Sie haben nicht nur innerhalb Ihrer eigenen Partei, der SPÖ, sondern vor allem in der Bevölkerung in Österreich, aber auch über Österreichs Grenzen hinaus um Zustimmung für Österreichs Mitgliedschaft in der Europäischen Union geworben.
Frau Ferrero-Waldner, Sie waren bis kurz vor dem EU-Beitritt Österreichs bei der UNO, waren davor lange Diplomatin, kannten das internationale Parkett und haben dort auch festgestellt, dass nicht alle immer ganz damit einverstanden waren, dass Österreich der Europäischen Union beitritt. Sie haben dann aus New York diesen Beitrittsprozess mitverfolgt, von dort aus mitgefiebert und waren dann auch dabei, als Österreich seine Rolle am europäischen Parkett eingenommen und gefunden hat.
Frau Brigitte Ederer, Sie waren sozusagen in diesen entscheidenden Stunden und Tagen in Brüssel dabei. Sie haben tagelang, nächtelang mitverhandelt, als es wirklich um das Eingemachte, um das Inhaltliche gegangen ist, und waren sozusagen an vorderster Front. Sie werden uns von dort ein bisschen berichten.
Sie haben alle drei sehr unterschiedliche Zugänge zu dieser Zeit damals. Deswegen erlauben Sie mir, dass ich ganz kurz einen Blick in die Runde mache und ganz kurz um Ihre Mitarbeit bitten darf. Ich darf Sie fragen: Wer von Ihnen kann sich denn noch ganz aktiv an den EU-Beitritt Österreichs erinnern, wer war dabei, an diesem 1. Jänner 1995? (Viele der Anwesenden heben die Hand.) – Das waren einige.
Keine Sorge, ich möchte das jetzt nicht auseinanderdividieren, ich möchte nur auch die Gegenfrage stellen: Wer kann sich nicht erinnern – weil er vielleicht noch gar nicht auf der Welt war, weil das einfach noch nicht die Zeit war, in der Sie sich auch für das politische Geschehen interessiert haben? (Einige der Anwesenden heben die Hand.) – Ich blicke da auch in die Augen der Schülerinnen und Schüler ganz oben, und genau darum geht es.
Ich möchte hervorstreichen: Für ganz viele ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Österreich einen fixen Platz in der Europäischen Union hat, aber es war nicht immer eine Selbstverständlichkeit, es war ein ganz schönes Stück Arbeit. Auch der Herr EU-Kommissar hat es gesagt: Nichts ist selbstverständlich!, und es war auch nicht selbstverständlich, dass Österreich diesen Platz findet.
Frau Ederer, ich habe es angesprochen: Das waren damals sehr, sehr harte und zähe Verhandlungen in Brüssel, drei Tage, zwei Nächte, wenig Schlaf, wenig Essen – oder zumindest kein sehr gutes, wurde überliefert.
Brigitte Ederer (Staatssekretärin a. D.): Pizza.
Margit Laufer: Das ist dann nach der Zeit wahrscheinlich auch sehr viel.
Gab es irgendwann in diesen Verhandlungen einmal einen Moment, an dem Sie sich gedacht haben: Ui, ui, das wird nichts mehr?
Brigitte Ederer: Ja, sicher, natürlich. Das gibt es in allen Verhandlungen, dass man sich denkt: Das wird jetzt nichts mehr!
Es war aber insgesamt – ich glaube, das können sich die wenigsten hier vorstellen – eine Stimmung, auch vorher, die es, glaube ich, in diesem Land danach leider – leider! – selten gegeben hat: Es war klar, das eigentlich alle Kräfte der Europäischen Union beitreten wollten. Es gab eine gemeinsame Vorgangsweise und ein Zusammenhalten, das ich dann nachher selten erlebt habe. Das, glaube ich, war ein Grund, warum die Abstimmung dann so positiv ausgegangen ist, weil die Leute gemerkt haben, denen ist es jetzt ernst, wenn die so zusammenhalten und nicht streiten, muss das wirklich wichtig sein. Das, glaube ich, war der Hauptgrund für die damalige positive Beurteilung.
Margit Laufer: Wir blicken dann nachher noch auf die Zeit nach diesen Verhandlungstagen. Geben Sie uns noch einmal einen Einblick: Sie waren damals eine sehr große Delegation, die Sozialpartner waren mit, einige Vertreter der Bundesregierung. Was war das für eine Stimmung, wenn man weiß, da steht so viel auf dem Spiel und es droht dann doch zu kippen? Wie ist das, auch zwischenmenschlich?
Brigitte Ederer: Na ja, das war angespannt. Wir haben dann immer wieder im Bundeskanzleramt angerufen, wenn es eng geworden ist. (In Richtung Franz Vranitzky:) Ich weiß nicht, ob du dort geschlafen hast, aber du hast im Bundeskanzleramt abgehoben. Wir haben dann gesagt: Da gibt es jetzt diese Schwierigkeiten, können wir das irgendwie meistern?
Das war letztendlich auf der einen Seite eine Mischung aus Auf-die anderen-Druck-machen: Jetzt gib nach oder jetzt schau doch, dass wir da weiterkommen!, und auf der anderen Seite haben wir alle gewusst: Wir müssen ein gutes Ergebnis zusammenbringen, weil wir die Volksabstimmung danach gewinnen müssen – diese Mischung. Es war Spitz auf Knopf. Beim Transitverkehr war es natürlich ganz schwierig, bei der Frage der Landwirtschaft, bei der es eine schlagartige Öffnung gegeben hat, war es auch ganz eng. Der Landwirtschaftskammerpräsident war natürlich betroffen, ist ja ganz klar, aber letztendlich haben wir das, glaube ich, gut bewerkstelligt.
Ich glaube, was am besten zeigt, wie die Stimmung war, ist: Die Schweden waren vor uns fertig, und Botschafter Wolte, der damals dabei war, hat am Gang zum Weinen angefangen. Ich habe gefragt: Herr Botschafter, warum weinen Sie denn jetzt?, und er sagt: Jetzt sind die Schweden in der EU und wir nicht. – Dieses Bild sehe ich immer noch vor mir, weil er an sich nicht jemand war, der gleich geweint hat – also ich habe ihn nur einmal weinen gesehen –, und das, glaube ich, sagt Ihnen viel über die Stimmung, die damals vorhanden war.
Margit Laufer: Herr Bundeskanzler Vranitzky, Sie haben zu dieser Zeit im Bundeskanzleramt ausgeharrt. Ich kann mir vorstellen, dass es dann auch gar nicht so einfach ist, dass man dort die Füße stillhält, weil – Frau Ederer hat es angesprochen – dann doch ein Anruf aus Brüssel kam, eine Art Hilferuf, denn man kam bei der Transitfrage nicht weiter.
Da ging es darum: Zwei Jahre zuvor hat Österreich mit Brüssel den Transitvertrag abgeschlossen. Der hat geregelt, wie viele Lkw durch Österreich und dann auch über den Brenner fahren dürfen. In diesen Verhandlungen wollte Brüssel diesen Transitvertrag weghaben, Österreich hat natürlich darauf beharrt, und das war schon ein großer Knackpunkt. – Wie ist es Ihnen da in Wien gegangen?
Franz Vranitzky (Bundeskanzler a. D.): Es kam nicht ein Anruf, man kann sagen, es war ein Anruf pro zwei Stunden, und das war auch notwendig und wichtig.
Ich bleibe gleich bei der Transitfrage: Das Verhandlungsteam in Brüssel ist, wie schon gesagt wurde, hängengeblieben. Ein Anruf war der des Außenministers Mock, der sagt, er zieht in Erwägung, überhaupt nach Hause zu fahren. Ich habe ihm dann gesagt: Na, probiert es doch noch einmal und noch einmal!, und ich habe ihn dann dazu gebracht, nicht nach Hause zu fahren. Auf einmal ruft mich Viktor Klima an und sagt, er fährt nach Hause. Auch das konnte dann abgewendet werden.
Geendet hat das in einem mitternächtlichen Telefongespräch mit dem französischen Präsidenten Mitterrand, denn die Franzosen waren am ausdrücklichsten und stärksten dagegen, dass Österreich eine Sonderregelung, eine Ausnahmeregelung bekäme. Er hat mir gesagt: Der französische Straßenverkehr, Schwerlastverkehr, leidet unter anderem darunter, dass der Nord-Süd-Verkehr – weil die Schweiz einen Riegel vorgeschoben hat – in den Westen abgelenkt wird, die Franzosen leiden unter den Schweizern.
Er sagte mir außerdem – natürlich, heute kann ich das sagen, weil es so lange her ist –: Eine Schweiz in Europa genügt mir schon! – Ich habe ihm dann aber erklären können, dieses Ableiten des Nord-Süd- oder Süd-Nord-Verkehrs rund um die Schweiz trifft auch Österreich, weil die aus dem Norden Kommenden abbiegen und dann über die Inntal-Autobahn, den Brenner – hauptsächlich über den Brenner, aber auch die Tauern-Autobahn war in gewisser Hinsicht tangiert – fahren. Ich habe ihm gesagt: Wir sind da sozusagen eine Schicksalsgemeinschaft.
Es war also wirklich sehr zäh, aber es ist gelungen. Um so, ich weiß nicht, halb eins, dreiviertel eins in der Nacht habe ich dann die Kollegen in Brüssel angerufen und habe ihnen gesagt, Mitterrand wird seinen Verhandler, seinen französischen Verhandler, anweisen oder dazu gewinnen, dass da eine Einigung möglich sein wird.
Ähnlich schwierig war es in der Landwirtschaft. Unsere Landwirte waren sehr froh, dass Franz Fischler als unser Agrarminister und als ausgewiesener Experte auf seinem Gebiet die Verhandlungen geführt hat, weil sie sagten: Er ist einer von uns, er wird uns richtig vertreten! – Was hätte er vertreten sollen: Er hätte unser damaliges Exportpreissystem vertreten sollen. Wir haben viel mehr produziert, als wir im Inland verbrauchen konnten – Sie werden sich vielleicht erinnern: die Butterberge, die Milchseen und so weiter –, und das musste exportiert werden. Unsere Preise waren aber höher als in den Absatzländern – hauptsächlich Italien, aber auch andere.
Was haben wir also gemacht? – Wir haben unsere Preise gestützt, also das, was die Bauern im Ausland nicht verdienen konnten, aus unserem Bundesbudget zugeschossen. Das ist laut EU verboten. Daher musste Fischler eine Ersatzlösung bringen, und seine Ersatzlösung war eine höchst schlaue: Er hat nämlich finanzielle Zuschüsse für Umweltinvestitionen in der Landwirtschaft herausverhandelt. Damit waren die Bauern zwar – das haben sie nicht gekannt – noch nicht ganz zufrieden, aber es hat funktioniert.
So sind sie dann an einem dieser Märztage zurückgekommen, und alles war, wie man neudeutsch sagt, paletti und wir konnten den positiven Abschluss der Verhandlungen feiern.
Margit Laufer: Dass aber Österreich vor allem bei Frankreich nicht immer gut angeschrieben ist, das haben auch Sie mitbekommen, Frau Ferrero-Waldner. Sie waren im diplomatischen Dienst und haben da auch einiges zu spüren bekommen. 10.45
Benita Ferrero-Waldner (Bundesministerin für auswärtige Angelegenheiten a. D., EU-Kommissarin a. D.): Ich glaube, Frankreich ist für mich ein gutes Stichwort gewesen, denn bevor ich zur UNO kam, war ich natürlich Diplomatin in Paris. Tatsächlich: Zuerst, als Mock das Beitrittsansuchen an den damaligen Außenminister Dumas übergeben hat, war ich anwesend. Ich war Diplomatin, und ich muss Ihnen sagen, von da an war ich eine glühende Befürworterin.
Aber die Franzosen waren nicht einfach, auch im Vorfeld nicht. Da gab es eine Achse Mitterrand und Kommissionspräsident Delors, und die wollten eigentlich keinen von uns – es waren ja damals Österreich, Finnland, Schweden und auch die Schweiz als Kandidatenländer – in der Europäischen Union haben. Daher haben sie etwas Neues erfunden, und das war der Europäische Wirtschaftsraum.
Ich erinnere mich, als Diplomatin saß ich in diesem Auditorium, in dem der damalige Generalsekretär des Quai d’Orsay, also des französischen Außenministeriums, eine große Rede gehalten hat, der gesagt hat: Wir wollen den Europäischen Wirtschaftsraum, und das soll dann genug sein. – Ich habe sofort – Botschafter Schallenberg, der Vater, war mein Botschafter – eine große politische Rede nach Wien geschrieben und Schallenberg informiert. Wir waren alle sehr aufgeregt. Gott sei Dank hat das aber eigentlich geholfen, sozusagen vieles aus dem Binnenmarkt schon zu ermöglichen. Wir haben also sehr viele Reformen in Österreich durchgeführt, und das hat uns dann geholfen, den Beitritt eigentlich schneller zu erledigen. Das war das eine.
Das Zweite in New York: Als dann endlich das Referendum war, wollte ich natürlich unbedingt mitstimmen, aber das ist natürlich immer schwierig, wenn du im Ausland bist. Der damalige Generalkonsul hat, wie ich erst nachher erfahren habe, einen Fehler gemacht, mir irgendetwas gesagt, was nicht gestimmt hat, als ich meinen Stimmzettel ausgefüllt habe. Dann habe ich gesagt: Wenn der Formfehler dazu führt, dass wir verlieren, dann werde ich das anfechten! – Es ist Gott sei Dank nicht so weit gekommen.
Margit Laufer: Das musste damals zum Glück nicht sein.
Herr Vranitzky, lassen Sie uns auch noch einmal kurz sprechen. Sie hatten auch noch ein sehr persönliches Erlebnis mit Präsident Mitterrand. Da ging es eben um diese Transitfrage, da ist Ihnen etwas passiert, das durchaus ein bisschen unglücklich war – am Brenner.
Franz Vranitzky: Das ist auch ein Thema, das ich im Jahr 2025 erwähnen kann; damals hätte ich es nicht erwähnt. Ich habe jedes Jahr in den einzelnen Hauptstädten der EU-Mitglieder – 12 an der Zahl – meine Vorstellung gemacht und dort immer erzählt, wie weit unsere Vorbereitungen gediehen sind und dass wir im Hohen Haus nur mehr Gesetze beschließen, die EU-konform sind und so weiter. Das ist grosso modo angekommen. In London hat mir Frau Thatcher gesagt: Aber ja, es wird schon gut sein, kommt nur! – In Wirklichkeit war es ihr ganz egal, aber so war es halt.
Mitterrand war anders, Mitterrand hat immer gesagt: Ihr müsst euch vorbereiten, aber die Entscheidenden sind das österreichische Volk, die österreichische Bevölkerung! – Er hat nie gesagt, er wird unser Beitrittsansuchen unterstützen. An einem bestimmten Tag, ich glaube, es war der vierte oder fünfte Besuch, begleitet er mich im Élysée diese Stiege hinunter, bleibt mitten auf der Stiege stehen und sagt: Also ich stimme zu und unterstütze euch, aber eines musst du wissen: Ich unterstütze heute den dritten deutschen Staat!
Das war natürlich eigentlich eine Kampfansage, und ich habe dann gesagt: Entschuldigung, aber wir sind kein dritter deutscher Staat, wir sind der erste und einzige österreichische Staat, bitte das zur Kenntnis zu nehmen! – Dann sagt er: Entschuldigung, ich nehme das natürlich zurück!, aber gesagt war es. Das hat schon einen Teil der französischen Attitüde unterstrichen – und so war es eben, und, wie Frau Doktor sagt, auch in den Vorbereitungen. Vielleicht nur: Meine Erfahrung war, dass Kommissionspräsident Jacques Delors eigentlich Österreich besser gesonnen war als der Präsident der Republik Frankreich.
Margit Laufer: Nun ging es aber nicht nur darum, auf europäischer Ebene für Zustimmung für den Beitritt Österreichs zu werben. Nach den gelungenen Verhandlungen in Brüssel musste dann nämlich auch die Bevölkerung in Österreich davon überzeugt werden, dass das, was man in Brüssel verhandelt hat, sozusagen auch in Österreich ankommt – für die Volksabstimmung am 12. Juni 1994. Da sind Sie durch ganz Österreich gefahren und haben direkt mit den Menschen gesprochen. Was waren denn da die größten Bedenken?
Franz Vranitzky: Die Bedenken waren vielfältig, aber es war eine aufgeregte und aufregende innenpolitische Situation. Wir hatten eine Zweierregierung, SPÖ/ÖVP, und die ÖVP war in ihren Vorbereitungen und in ihren Meinungsbildungen weiter vorangeschritten, was den Beitritt betraf, als die SPÖ. In der SPÖ war man zuvor mit der Efta zufrieden. Dann hat es Stimmen gegeben, die gesagt haben: Der Beitritt zur EU würde ja gleichzeitig den Nato-Beitritt bedeuten, und den wollen wir nicht!, und andere haben gesagt: Weil Deutschland so dominierend ist, würde das einem Anschluss, einem Wiederanschluss gleichkommen! – Dritte haben wieder gesagt: Eine supranationale Behörde, also ein Parlament, eine Kommission et cetera, wollen wir auch nicht!
Es war also sehr viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Wie geschah das? – Das geschah erstens so, dass die Mitglieder der Bundesregierung eine vollkommen einheitliche Meinung hatten, dass aber auch die Wirtschaftsforscher und, sagen wir, die Nationalbank und andere das sehr stark auf der fachlichen Seite unterstützt haben, also mit vielen Statistiken und Berechnungen nachweisen konnten, dass für unsere Wirtschaft die Mitgliedschaft viel besser als die Nichtmitgliedschaft wäre.
Das hat wieder dazu geführt, dass die Sozialpartner, also in diesem Zusammenhang vor allem der Österreichische Gewerkschaftsbund und die Arbeiterkammer, gewonnen werden konnten. Die Wirtschaftskammerleute waren sowieso dafür, aber die Arbeitnehmervertreter mussten erst gewonnen werden, und das war ein Meilenstein, weil die dann über die Betriebsräte in die Unternehmungen, in die Betriebe hinein gewirkt haben. Daher haben die Arbeiter und Angestellten schon auch einen Schimmer davon bekommen, dass das eine positive Sache ist.
Dann gab es noch etwas – die Kollegen von der ÖVP mögen das durchgehen lassen –: Eine gewisse Stimmung war auch: Na, wenn die ÖVP das so dringend will, dann wollen wir es schon gar nicht! – Auch das musste überwunden werden.
Und Sie haben recht: Das kann man natürlich nicht allein vom Ballhausplatz aus machen, sondern da muss man ins Land reisen. So sind wir alle, die Frau Staatssekretärin, Ferdinand Lacina, Viktor Klima, Rudolf Streicher und so weiter – die, die halt damals in der Regierung waren –, ausgeschwärmt. Ich erinnere mich, ich habe in weltpolitisch so bedeutenden Orten wie dem Kärntner Metnitztal einen EU-Beitrittsnachmittag veranstaltet, in der Hauptwerkstätte der ÖBB in Sankt Pölten oder bei der Pensionistenversammlung in Mittersill im Pinzgau. Ich muss jetzt nicht die österreichische Landkarte durchgehen, Sie können es sich vorstellen.
Das hat natürlich Monate gedauert, und es war eigentlich wie ein Wahlkampf. Warum sage ich das? – Weil es ja nicht nur die zwei Regierungsparteien gab, sondern es gab ja auch Oppositionsparteien. Oppositionspartei waren zum einen die Grünen. Die haben sich überhaupt zurückgezogen und gesagt: Das alles ist umweltpolitisch katastrophal! – Die Freiheitliche Partei war am Anfang sehr dafür. Ich bin sogar aufgefordert worden, sogar hier im Parlament, nicht so lange herumzutun, sondern endlich das Beitrittsansuchen zu stellen. Als sich aber die Stimmung geneigt hat, als man nämlich in den Meinungsumfragen, in den Pressemeldungen feststellen konnte, dass die Stimmung schön langsam in Richtung Zustimmung geht, haben die freiheitlichen Kollegen auf einmal umgedreht und begonnen, dagegen zu sein. – Aber 66 Prozent ist die Antwort. (Beifall.)
Margit Laufer: Genau. Diese Volksabstimmung war dann am 12. Juni. 66,6 Prozent haben sich für den EU-Beitritt ausgesprochen, 33,4 Prozent dagegen.
Frau Ederer, wie ging es Ihnen, als dann sozusagen durch war: Auch Österreich steht hinter dem, was Sie in Brüssel verhandelt haben?
Brigitte Ederer: Darf ich nur noch einen Satz zur Freiheitlichen Partei sagen? Ich habe es Jörg Haider selber gesagt, insofern darf ich es sagen. Die Blutschokolade und die Schildläuse im Campari: Ich weiß, Jörg Haider hat damals wie so oft in seinem Leben übertrieben, er hat gesagt, wenn wir der EU beitreten, müssen wir Blutschokolade essen und es werden Schildläuse in Getränken sein. Ich habe nachher die Meinungsforscher gefragt, was uns das insgesamt gebracht hat. 3, 4 Prozent hatten wir Jörg Haider zu verdanken. Ich habe es ihm selber gesagt, also darf ich das hier auch anmerken.
Zu der Frage, wie es mir damals gegangen ist: Ich habe zweimal in meinem Leben das Gefühl gehabt, ich gehe einen Meter über dem Boden. Das eine Mal war, als ich die Matura gemacht habe, und das zweite Mal war, als wir die Volksabstimmung positiv bewältigt haben. Mir ist es also sehr gut gegangen, weil das auf der einen Seite einfach eine enorme Erleichterung war und auf der anderen Seite das Gefühl war, dass man einen kleinen Beitrag dazu leisten durfte, dass Österreich der Europäischen Union beitritt. Das kann man nicht beschreiben: einfach wunderbar.
Franz Vranitzky: Ich möchte vielleicht der Vollständigkeit halber noch etwas einfügen, nämlich an welch entscheidender Zäsur sich die Weltpolitik damals befand. Alles, worüber wir hier reden, hat sich zwischen dem Juni 1989 und dem Herbst 1989 und folgende vollzogen. Was meine ich? – Wir hatten, also Kollege Mock, unser Beitrittsansuchen, wie die Frau Doktor schon sagte, Dumas im Juni überreicht, und im Herbst haben die osteuropäischen Staaten begonnen, das kommunistische System abzuwerfen. Das war gleichzeitig das Ende des Kalten Krieges, die Öffnung der Grenzen zu osteuropäischen Staaten und der Einzug der Demokratie, einer liberalen Demokratie gegenüber der Volksdemokratie von vorher.
Das hat schon auch wieder etwas mit uns zu tun gehabt, weil in Österreich auch in der Bundesregierung, bei meinen Vorgängern die Vorsicht – um nicht zu sagen: die Angst – bestand: Machen wir da lieber nicht zu viel, sonst reden uns die Russen drein! – Das war ein echter Vorbehalt.
Ich habe mir dann gesagt, es gibt eigentlich nichts anderes, als den Stier bei den Hörnern zu packen, und bin mit einer sehr großen Wirtschaftsdelegation nach Moskau gereist. Warum mit einer Wirtschaftsdelegation? – Erstens haben die Interesse gehabt, aber zweitens, um auch zu dokumentieren, wie wichtig uns die Wirtschaft im Zusammenhang mit einer EU-Mitgliedschaft ist. Ich kam dort hin, in den Kreml, und die Wirtschaftsvertreter kamen mit mir hin, und der Ministerpräsident – der hieß damals Ryschkow – hat mich sehr höflich begrüßt und gesagt: Ja, alles wird gut besprochen und behandelt werden, aber eines möchte ich gleich am Anfang sagen: Ich lese da in den Zeitungen, Sie wollen der EWG beitreten, das kommt natürlich nicht infrage!
Meine Wirtschaftsvertreter sind gleich einen Kopf kleiner geworden. Es hat mich dann vier Tage gekostet, Herrn Ryschkow immer wieder zu sagen: Uns geht es hauptsächlich um unsere Wirtschaft, weil die exportabhängig und investitionsabhängig ist und so weiter! – Ich habe ihn dann dazu gewonnen. Er hat der Tass ein Interview gegeben und gesagt: Der österreichische Bundeskanzler ist in Moskau, und er hat versichert, Österreich wird alle seine internationalen Verpflichtungen einhalten! – Das war sozusagen der Durchbruch.
Ich hätte mir schwer vorstellen können, mit einem Njet der Russen in Schwechat zu landen – wie dann die österreichische Öffentlichkeit reagiert hätte. Es wäre gleich alles wieder zusammengebrochen.
Für den vierten Tag – zum Schluss – meines Besuchs dort war der Zeitplan bei Gorbatschow organisiert. Wie man das in Moskau kennt: Wenn man in ein Ministerium und dann ins nächste geht, wissen die im nächsten schon, was man im ersten gesprochen hat, weil die sofort alle kommunizieren. Ich habe mir gedacht: Was wird Gorbatschow mir wieder über das Problem erzählen? – Ich habe eine Stunde mit ihm gesprochen, und er hat kein einziges Mal unseren Beitritt überhaupt wörtlich erwähnt. Damit war die Ankunft in Schwechat gesichert. (Beifall.)
Margit Laufer: Da sieht man auch, wie umfangreich alle diese Bemühungen waren.
Frau Ferrero-Waldner, lassen Sie uns im Blick zurück in der Geschichte ein bisschen weitergehen. Sie waren dann als erste Frau Außenministerin, unter Schüssel, von 2000 bis 2004, und das war auch die Zeit der EU-Sanktionen gegen die schwarz-blaue Bundesregierung. Das haben Sie in Brüssel auch persönlich zu spüren bekommen.
Benita Ferrero-Waldner: Das war am Anfang tatsächlich eine sehr schwierige Zeit, wobei ich Ihnen sagen muss: Ich kannte meinen Chef – ich war ja vorher fünf Jahre Staatssekretärin –, und daher wusste ich, dass er nichts Illegales machen würde. Das hat mich unheimlich bestärkt.
Ich habe dann begonnen, zu versuchen, mit den Kollegen zu sprechen. Man hat mir ja den Dialog total verweigert. Erstens wurde in den Sitzungen des Außenministerrates Österreich unter Any Other Business, also ganz zum Schluss, behandelt. Da habe ich natürlich immer wieder versucht, unsere Argumente vorzubringen.
Der damalige EU-Präsident, der portugiesische Außenminister da Gama – die hatten die Präsidentschaft –, hat überhaupt nicht darauf reagiert, ganz bewusst. Normalerweise spricht man sich dort mit Vornamen an, zu mir haben sie gesagt: Austria. Dabei haben sie mich natürlich alle sehr gut gekannt, denn ich habe sehr oft den damaligen Vizekanzler und Außenminister Schüssel vertreten.
Es gibt eine lustige Geschichte, die ich immer wieder gerne erzähle: Beim ersten Außenministerrat, das war am 14. Mai 2000 – da war ich natürlich schon ein bisschen aufgeregt, aber nichtsdestotrotz – hat jemand von meinen Leuten zu mir gesagt: Die werden dir die Hand nicht geben!, und da habe ich gesagt: Okay, geht in Ordnung! – Dann habe ich in der einen Hand alle Akten gehabt und in der anderen Hand meine Aktentasche. Da konnte mir niemand die Hand geben. Dann bin ich also so in den Saal gegangen und habe gemerkt, es war fast niemand da. Die sind dann später, als die Sitzung schon begonnen hatte, langsam hereingetröpfelt, damit sie mir nicht die Hand geben müssen. – Solche köstlichen Geschichten hat es auch gegeben, aber es war tatsächlich eine sehr schwierige Situation.
Ich habe dann auch bei der ersten Pressekonferenz zuerst Deutsch gesprochen und dann gesagt, sie können mich in allen Sprachen, die ich spreche, nämlich Englisch, Französisch und Spanisch, fragen und ich werde ihnen in diesen Sprachen antworten. Denn man hat uns gesagt, wir sind alle xenophob, fremdenfeindlich. Ich war auch die einzige, die mit einem Ausländer, mit einem Spanier, verheiratet war oder es ist. Es waren so viele Vorurteile.
Ich habe dann versucht, auch in sehr vielen Pressegesprächen – ich glaube, am Anfang habe ich bis zu 30 Pressegespräche am Tag gehalten; dann wird man natürlich routiniert, dann wusste ich schon die Argumente und so weiter –, langsam zu zeigen, dass Österreich keineswegs in eine halbe Revolution oder in einen Bürgerkrieg verfallen ist, was nämlich manche geglaubt hatten.
Dann gab es einen Moment, in dem wir gesagt haben, die Wirtschaftstreibenden waren immer offener. Ich habe dann tatsächlich mit einer Wirtschaftsdelegation Österreichs eine Reise nach Paris, nach London und nach Madrid gemacht. Ich muss Ihnen sagen, dort sind die Leute viel offener gewesen. Ich habe natürlich immer sehr viele Pressetermine gehabt, und peu à peu hat sich die Stimmung gewandelt.
In Österreich war es so: Die Österreicher oder Österreicherinnen selber – Studentinnen und Studenten, Wirtschaftstreibende – sind zum Teil im Ausland schlecht behandelt worden. In Paris hat man sie nicht ins Taxi einsteigen lassen – lauter Übertreibungen natürlich. Das hat geholfen, dass die Bevölkerung auch hinter der Regierung zusammengerückt und stärker geworden ist. Dann war die große Frage: Wie kann es weitergehen, gibt es eine Exitstrategie?
Dann gab es ein sogenanntes Gymnich-Treffen – das ist das informelle Außenministertreffen – auf den Azoren. Dort, muss ich sagen, waren irrsinnig viele Presseleute, die Causa Austria war die primera Causa, und da hat man – uh, uh, uh – lauter Blitzlichter auf mich gerichtet. Ich war ein bisschen aufgeregt, denn das hatte ich auch nicht erwartet. Wie auch immer, alle wollten nur zu Österreich etwas wissen. Das hat den portugiesischen Außenminister furchtbar geärgert, denn er kam kaum irgendwie vor.
Dann, ganz zum Schluss bei dieser Sitzung, habe ich unter any other business dann noch einmal unsere Anliegen vorgetragen. Ich habe gesagt, das ist lächerlich, wir haben ja überhaupt nichts gemacht, alles ist legal. Wir haben keine Menschenrechtsverletzungen durchgeführt et cetera, die Demokratie hat auch nicht gelitten. Dann haben fünf Außenminister begonnen, mir zum ersten Mal zu antworten – ich erinnere mich –, der Italiener Dini, der Finne Tuomioja, auch der Spanier, Josep Piqué, auch der Brite Robin Cook und dann noch einige andere. Damit war zumindest einmal – das habe ich dann immer gesagt – ein sogenanntes Loch in der Mauer. Das war tatsächlich das sogenannte Azorenhoch.
Etwas war lustig: Joschka Fischer war ja ein besonders starker Gegner, vor allem von mir persönlich. Der hat mir dann – es hat draußen geregnet, wir hatten das Gruppenfoto – den Schirm halten müssen. Das war auch ein sehr tolles Foto, das unser Fotograf gemacht hat.
Wir haben also versucht, mit allen möglichen Mitteln darauf einzugehen. Dann kam wirklich die offizielle Möglichkeit, sozusagen, den Exit zu bewältigen. Das waren die drei Weisen, die dann tatsächlich in Österreich waren – das ist, glaube ich, im Juni, Juli gewesen –, die uns alle befragt haben und dann am Ende einen Bericht gemacht haben, in dem klar stand, dass Österreich überhaupt nichts verletzt hatte. Damit ist dann im September klar, übrigens wieder unter französischer Präsidentschaft – Chirac hatte ja bei den Sanktionen auch stark mitgeholfen, und da musste er das eigentlich zugeben –, es ist in Ordnung. Dann sind diese sogenannten Maßnahmen wieder aufgehoben worden. – Es war schon eine sehr anstrengende Zeit.
Margit Laufer: Das ist in sehr interessanter Einblick, den Sie uns da geben konnten.
Lassen Sie uns auch noch auf die Gegenwart zu sprechen kommen, denn bei all den Herausforderungen, die es damals und auch in den vergangenen 30 Jahren gegeben hat, steht die Europäische Union auch derzeit vor großen Fragen, auf die es gilt, Antworten zu finden.
Frau Ederer, wenn wir jetzt zurückblicken: Finanzkrise – ich habe es vorhin schon angesprochen –, Coronakrise, auch der Brexit. Es gab in den vergangenen, sagen wir, zehn Jahren doch sehr, sehr viele große Themen, die mitunter auch sehr plötzlich auf die Europäische Union zukamen, und sie dann handeln musste. Haben diese Krisen die Europäische Union geschwächt?
Brigitte Ederer: Wir feiern ja im Moment 1945, 1955, 1995, und das sind ja drei gute Events oder Sachen gewesen. Ich war heute da oben (in Richtung Plenarium blickend); da (in Richtung einer Gruppe anwesender Schüler:innen blickend) sitzen die jungen Kolleginnen und Kollegen von der Pichelmayergasse aus dem 10. Bezirk. Ich habe den jungen Mann gefragt, was für ihn die Europäische Union ist. Er hat gesagt – ich hoffe, ich bringe es jetzt hin –: Zusammenarbeit und Friede! – Ich denke mir: Ich weiß nicht, wenn er in 20 Jahren oder in 30 Jahren hier sitzt und es ist jetzt 1945, 1955, 1995 und 2025, dann bin mir nicht ganz sicher, ob das vierte auch so eine positive Entwicklung macht. Im Moment mache ich mir Sorgen um die Europäische Union. Im Moment mache ich mir Sorgen, dass es nicht diese notwendigen Integrationsschritte und den Zusammenhalt gibt – Dinge, die eigentlich jetzt total notwendig wären.
Ich glaube, so komisch und so grotesk das klingt, diese Aktivitäten des amerikanischen Präsidenten helfen, zu merken, dass man sich als einzelner Staat – selbst das größte Deutschland kann das nicht – nicht alleine gegen solche Sachen wehren kann. Da braucht es eine gemeinsame Europäische Union. Das hilft fast ein bisschen in dem gemeinsamen Finden von Aktivitäten. Ich meine, das könnte der Herr Kommissar viel besser ausführen, als ich das kann.
Letztendlich ist es aber so, dass schon dieser Zug der Integration und Europa eine ganz große Bedeutung spielen. Mein Lebensmotto, seitdem ich politisch denken kann: Ich war immer der Meinung, wenn man gemeinsam Handel treibt, wenn man gemeinsam wirtschaftet, dann kann man nicht Kriege gegeneinander führen. (Beifall.)
Wäre ich in die Pichelmayergasse gegangen und hätte ich dort maturiert, hätte ich das damals schon gesagt, dass das wichtig wäre. Das ist plötzlich alles infrage gestellt. Ich weiß hier sitzend nicht genau, was die richtigen Antworten des Jahres 2025 sind. Im Moment sagen wir alle miteinander: Wir rüsten auf! – Mein Lebensmotto: Schauen wir, dass wir uns wirtschaftlich und politisch so verzahnen, dass das gar nicht mehr stattfindet!, ist schlagartig ein bisschen infrage gestellt.
Ich möchte jetzt nicht negativ sein. Es kann ja auch gut ausgehen und es können gute Effekte daraus entstehen. Letztendlich sind wir im Moment an einer ziemlichen Kippfrage angelangt.
Margit Laufer: Frau Ferrero-Waldner, die Stärke, die Frau Ederer angesprochen hat, dieses Geeinte, das Gemeinsame, bröckelt ja auf europäischer Ebene.
Benita Ferrero-Waldner: Tatsächlich glaube ich, dass die Einheit innerhalb der Europäischen Union eine der ganz großen wesentlichen Elemente ist. Leider ist die Einheit nicht immer gegeben. Irgendwie hat es die Union bis jetzt aber doch geschafft, auch bei schwierigen Fragen, manchmal mit einer coalition of the willing, diese Frage zu umgehen. Die Einstimmigkeit ist ja nur mehr in drei wichtigen Punkten gefordert, nämlich zum einen bei den Beitritten – wenn jemand beitritt, müssen alle zustimmen –, zum anderen bei den großen Verträgen, also Handelsverträgen und so weiter, und zum Dritten beim Budget. Sonst ist es ja grundsätzlich schon möglich, mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden. Ich glaube, es ist auch notwendig.
Generell würde ich aber auch sagen – also so, wie Staatssekretärin Ederer gesagt hat –, wir sind natürlich in einer sehr schwierigen Situation. Es gibt eine vollkommene geopolitische Änderung. Es ist eine Verwerfung, könnte man sagen. Es sind jetzt die Großmächte, die gegeneinander irgendwie im Wettbewerb stehen, vor allem natürlich die USA und China, was wir natürlich stark merken, dann die Russen, leider durch diesen furchtbaren Angriffskrieg, und, immer mehr aufstrebend, auch die Inder – insofern sehr interessant. Die Union muss sich einfach, glaube ich, neue Partner suchen, und das tut sie auch immer mehr: die Inder auf der einen Seite, aber auch Japan, Kanada und Mexiko auf der anderen Seite
Mercosur wird jetzt kommen – ich bin absolut dafür, dass man diesen Vertrag endlich abschließt, weil er so wichtig für uns ist (Beifall) und weil er uns Möglichkeiten gibt, diese Tarifsteuern, die Trump einführt, zu kompensieren – und viele, viele andere, die auch so Middle Power sind. Das halte ich für enorm wichtig.
Trotzdem bin ich zuversichtlich, denn wir haben immer aus Krisen gelernt. Diesmal ist die Krise vor allem auch die in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, dass wir viel zu wenig gemacht haben. Wir haben immer groß darüber geredet – ESVP war schon damals, als ich Kommissarin war, das große Thema –, aber passiert ist relativ wenig. Jetzt ist es eben notwendig geworden, und ich glaube, dass wir es auch derheben, wie wir Österreicher sagen – ich hoffe schon.
Ich gebe aber zu: Wir sind in einem echt komplizierten Moment, und wir müssen einfach zusammenhalten. Wenn wir jetzt zusammenstehen, sind wir stark. Wir sind immerhin 450 Millionen Menschen und wir haben eine tolle Wirtschaft, auch wenn sie manchmal hier und dort kränkelt – wir tun ja einiges dagegen, damit sie in der Zukunft nicht mehr kränkelt.
Es gibt natürlich auch andere große Herausforderungen: die Frage des Klimawandels und was da alles zu tun ist, die Energiepreise, dadurch die höhere Inflation, die Digitalisierung. – Es sind also enorm viele Dinge, die gleichzeitig auf uns zukommen und die wir bewältigen müssen, aber ich glaube, diese Kommission ist eigentlich auf gutem Wege. – Danke. (Beifall.)
Margit Laufer: Herr Bundeskanzler, einfach zusammenstehen sagt Frau Ferrero-Waldner. Ist das tatsächlich so einfach? Sind Sie auch optimistisch oder eher pessimistisch, was die Zukunft der Europäische Union betrifft?
Franz Vranitzky: Letztendlich ist jede Politik Innenpolitik. Man wird sich in der Integrationspolitik und in den Aktivitäten der Kommission umso eher durchsetzen, wenn die innenpolitische Unterstützung, also eine starke Unterstützung der jeweiligen Regierungen durch die Bevölkerung, gegeben ist.
Warum ist das so wichtig? – Weil wir in Österreich, aber auch in fast allen Mitgliedsländern – das ist also kein Austriacum allein – zum Teil anfängliche, zum Teil erhebliche politische Strömungen feststellen, die sehr stark Anti-EU, Antintegration aufgestellt sind und so auch vorgehen. Ich muss jetzt keine Beispiele nennen, Sie kennen sie alle in den einzelnen Mitgliedsländern.
Ich meine auch, jetzt was uns Österreicher betrifft, dass wir die Europapolitik, die Integrationspolitik noch stärker betonen müssen, um unserer Bevölkerung, unseren Bürgern, unserem Wahlvolk doch so viel Vertrauen mitzugeben, dass sie, die Bürger, bei Abstimmungen, bei Wahlen den jeweiligen Regierungen, die mit einer überzeugenden Europapolitik auf sie zukommen, immer wieder die Unterstützung geben.
Wenn das nicht der Fall wäre, dann könnte es passieren, dass sich in einem Land zwei verschiedene Außenpolitiken, zwei verschiedene Europapolitiken in irgendeiner Weise entwickeln, sich dann bei den Volksentscheidungen auswirken, und dadurch wird die Europäische Union, wie die beiden Damen angesprochen haben, nicht stärker.
Sie muss aber stärker werden, denn, wie die beiden Damen angesprochen haben – und auch ich kann das nicht oft genug betonen –: Europa kann nicht in einem Gigantenkampf zwischen USA, China, Indien, Russland und dem globalen Süden überleben. Österreich allein kann da nicht standhalten, ja nicht einmal Deutschland allein – ökonomisch, politisch, kulturell et cetera. Wir müssen uns immer wieder im eigenen Interesse dessen bewusst sein, dass wir hinsichtlich der großen Bevölkerungszahlen im globalen Süden und sonst wo nicht unseren eigenen Wert, unsere eigene Position, unsere eigene Stärke übersehen dürfen.
Wir staunen über 1,2 beziehungsweise 1,3 Milliarden in Indien, China und so weiter. Wir sind immerhin 460 Millionen, und das ist nicht wenig. Und wir haben unser intellektuelles und kulturelles Potenzial, das wir aber nur dann entfalten können, wenn wir, wie Sie sagen, zusammenstehen, wenn nicht einer mit 9 Millionen Einwohnern daherkommt und etwas durchsetzen will, sondern wenn alle mit ihren 450, 460 Millionen Einwohnern daherkommen. Das gilt es, noch stärker auch in der innenpolitischen Kommunikation zu vermitteln.
Das gilt auch für die großen Fragen, die ja noch gar nicht geklärt sind, gedanklich nicht: etwa die Sicherheitspolitik oder auch die allgemeine Anerkennung einer Klimapolitik, die mit der Wirtschaftspolitik Hand in Hand gehen kann und muss.
Last, but not least muss man ja mit einer starken und überzeugten Europapolitik den Menschen im eigenen Land auch die Sorge nehmen, was denn auf sie etwa mit der Trump’schen erratischen Politik zukommt, was auf sie zukommt, wenn durch diese weltpolitischen Entscheidungen die eigene Stärke geringer wird. Beispielsweise ist Österreich wie auch Deutschland immer ein Exportland gewesen. Wir leben vom Export, wir leben von den gegenseitigen Investitionen.
Um es abzuschließen: Was wir brauchen, ist eine gut ausgewogene, innenpolitisch gut abgestimmte und formulierte Europapolitik und damit auch ein gutes Verständigungspotenzial mit Brüssel, denn von denen muss man natürlich genauso zusätzlich zu ihren Aktivitäten Volksnähe verlangen. Wenn das nicht der Fall ist, dann kommen ja wieder die Vorwürfe: Bürokratisierung, Büromonster, Überfremdung, Bevormundung, Freiheitsentzug, und das dürfen wir uns doch im Jahr 2025 angesichts der weltpolitischen Situation und der Umbrüche nicht leisten. – Schluss. (Beifall.)
Margit Laufer: Das bedeutet also, im Dialog bleiben. Das schließt auch wieder an das an, was Herr Lobis in Bezug auf seinen Freund Jürgen gesagt hat, der damals anderer Meinung war. Immer ein bisschen miteinander sprechen, um gemeinsam auch ein starkes Zeichen setzen zu können; auf jeden Fall eine Arbeit und ein Tun, das nicht aufhört und das auch immer wieder Verantwortung bedarf.
Ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen dreien dafür bedanken, dass Sie uns einen Einblick in das Historische gegeben haben, das erreicht wurde, das Österreich erreicht hat, denn auch so kann man die jetzige Situation ein bisschen besser verstehen.
Wir beenden damit diese Diskussionrunde und hören jetzt noch ein weiteres musikalisches Stück, das für den Cellisten Pablo Casals eine Hymne für Freiheit und Frieden war – es könnte also zum heutigen Tag kaum besser passen. Meine Damen und Herren, das Stück „El cant dels Ocells“. Ich hoffe, ich habe es richtig ausgesprochen. – Bitte schön.
(Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „El cant dels ocells“, dargebracht vom Koffeinquartett. – Beifall.)
Margit Laufer: Die Europäische Union, das sind wir alle, und sie wirkt auch in alle Ebenen unserer Gesellschaft hinein. Mit diesem Gedanken darf ich jetzt die Präsidentin des Bundesrates, Andrea Eder-Gitschthaler, um ihre Abschlussworte bitten. (Beifall.)
Andrea Eder-Gitschthaler (Präsidentin des Bundesrates): Sehr geehrte Festgäste! Liebe Schülerinnen und Schüler! Vor allem aber liebe Freundinnen und Freunde Europas! Als reife Salzburgerin sind mir noch die Grenzkontrollen zwischen Salzburg und Freilassing, aber auch zwischen meiner Heimatgemeinde Wals-Siezenheim und Bad Reichenhall am Walserberg sehr gut in Erinnerung, auch der Nervenkitzel und das schlechte Gewissen, wenn wir dann Einkäufe herübergeholt haben. Gott sei Dank ist das jetzt alles vorbei, kann ich nur sagen.
Die 30 Jahre Österreichs in der EU sind für mich daher eine Erfolgsgeschichte. Das sind ja nicht nur Daten, Fakten und Verträge, das sind Lebensgeschichten, Hoffnungen, mutige Entscheidungen, wirtschaftliche Erfolge, gelebte Verantwortung über Generationen hinweg.
Wir haben es heute schon gehört: Am 12.6.1994 – ich bin auch Zeitzeugin, ich habe viel Überzeugungsarbeit gemacht – hatten wir diese Abstimmung, und unser Land hat ein klares Votum getroffen. Wir – 66 Prozent – sagten Ja zu einem neuen Miteinander, zu einem Europa der offenen Herzen und Hände, und wir sagten auch alle Ja zu einer Zukunft, in der Frieden nicht nur eine ferne Sehnsucht, sondern tägliche Wirklichkeit sein sollte.
In der Diskussion vorhin haben wir schon gehört, dass wir heute, 30 Jahre später, sehen: Diese Entscheidung hat unser Land, unsere Gesellschaft, ja, unsere Identität verändert, ich sage – immer noch –, zum Positiven. Wir sind 450 Millionen Menschen, eine wichtige Menge im globalen Zusammenleben. Als Salzburgerin kann ich auch wieder auf die vielen positiven Effekte im Tourismus hinweisen; die Frau Staatssekretärin hat heute ja auch schon eine Aussendung dazu gemacht.
Eine ganze Generation junger Menschen ist in einem Europa aufgewachsen, das keine Grenzen kennt. Es ist alltäglich, im Ausland zu studieren, zu leben, und das ist gut so. Doch, sehr geehrte Damen und Herren, wir dürfen nicht vergessen: Diese Freiheit, diese Offenheit ist keine Selbstverständlichkeit. Das haben wir auch in der Coronazeit gesehen, als bei uns auf einmal wieder Grenzzäune aufgestellt wurden und wir zum Beispiel in Salzburg in den Wäldern auf einmal nicht mehr durchgehen konnten. Diese Freiheiten sind Errungenschaften, sie sollen erhalten bleiben. Wir müssen dazu etwas tun, jeden Tag, jeder von uns.
Europa hat sich verändert und natürlich wir auch mit ihm. Die Welt ist unruhiger geworden, Krisen und Kriege an den Grenzen Europas führen uns schmerzlich vor Augen, dass dieser Friede leider zerbrechlich ist. Nur, wenn wir zusammenstehen, zusammenhalten – wir haben es heute auch schon sehr deutlich gehört –, können wir unsere Werte gegen Hass, gegen Spaltung, gegen die Versuchungen des Nationalismus verteidigen. Gemeinsam sind wir stark.
Gleichzeitig, sehr geehrte Damen und Herren, möchte ich anmerken, dass wir die Augen nicht davor verschließen dürfen, dass dieses Europa nicht perfekt ist, denn zu oft verlieren sich europäische Institutionen in Bürokratismus und schwer verständlichen Verfahren. Manchmal scheinen Entscheidungen fernab der Lebensrealität der Menschen getroffen zu sein. Daher ist es unsere gemeinsame Aufgabe, Europa zurückzuholen – wir hier im Parlament haben aktive Ausschüsse, wir machen aktiv etwas dafür –, zu den Bürgerinnen und Bürgern, in ihre Städte, in ihre Dörfer, in ihre Lebenswelten.
Europa lebt von Vielfalt und es lebt vom Prinzip der Subsidiarität, das ist mir als Bundesrätin natürlich ganz wichtig. Entscheidungen sollen dort getroffen werden, wo sie die Menschen am besten verstehen und tragen können: vor Ort, in den Regionen, in den Herzen der Gemeinschaft. Daher kann ich nur immer wieder die Arbeit des Ausschusses der Regionen hervorheben, der sich tagtäglich regional sehr, sehr engagiert dafür einsetzt.
Europa steht heute, 2025, vor Chancen, aber auch vor großen Herausforderungen. Unser Weg muss der der Geschlossenheit sein, im Bewusstsein um unsere Vielfalt, im Respekt vor unserer Vergangenheit und Verschiedenheit. Die europäische Einheit ist also nicht bloß ein Ideal, sie ist ein Gebot der Vernunft und der Verantwortung. Wir brauchen heute mehr denn je den Mut zur Gemeinsamkeit, wir brauchen den Willen, gemeinsam jene Werte zu verteidigen, auf denen die Europäische Union gegründet wurde: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde.
Österreich war und ist ein überzeugtes Mitglied der europäischen Familie, mit unserer Geschichte, unserer Kultur, unserer aktiven Stimme und unseren aktiven Kommissarinnen und Kommissaren. Wir werden diese Stimme auch weiterhin einbringen: klar, mutig und konstruktiv. Europa ist kein ferner Kontinent, Europa, das sind wir alle.
Sehr geehrte Festgäste, dieser Europatag soll ein neuer Aufbruch sein, ein Aufbruch zu einem Europa, das seine Vielfalt liebt – ein Europa, das den Menschen dient, nicht der Bürokratie; ein Europa, das stolz auf seine Werte ist und sie entschlossen verteidigt; ein Europa, das Heimat und Hoffnung zugleich ist; ein Europa des Zusammenhalts. Europa lebt durch uns, machen wir es. – Vielen Dank. (Beifall.)
Margit Laufer: Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
Die einfachste gemeinsame Sprache ist die der Musik, deswegen darf ich Sie jetzt bitten, sich für die österreichische Bundeshymne zu erheben – Sie können auch gerne mitsingen –, danach folgt die Europahymne in einer instrumentalen Version.
(Es folgt die musikalische Darbietung der Bundeshymne sowie der Europahymne, dargebracht durch das Koffeinquartett. – Beifall.)
Margit Laufer: Das war das Koffeinquartett. – Herzlichen Dank für die musikalische Umrahmung dieses wunderschönen Festaktes. (Beifall.)
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende des Festaktes anlässlich des Europatages und anlässlich 30 Jahre Österreich in der Europäischen Union. Ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen allen für Ihr Kommen bedanken. Ganz herzlich bedanke ich mich auch noch einmal bei Ihnen dreien, Herr Bundeskanzler, Frau Außenministerin und EU-Kommissarin und Frau Staatssekretärin – danke, dass Sie uns an Ihrem Wissen teilhaben lassen.
Ich bedanke mich bei Ihnen noch einmal und wünsche Ihnen noch einen wunderschönen Freitagnachmittag. Ich hoffe, Sie können den europäischen Gedanken dieser Festveranstaltung heute Vormittag mit in Ihren Nachmittag, auch in das Wochenende und die kommende Zeit tragen. Ich bedanke mich herzlich. – Alles Liebe, auf Wiedersehen. (Beifall.)
Schluss der Veranstaltung: 11.53 Uhr