Festakt 70 Jahre Staatsvertrag

Stenographisches Protokoll

 

Donnerstag, 15. Mai 2025

XXVIII. Gesetzgebungsperiode

Bundesversammlungssaal

 

Beginn der Veranstaltung: 11.05 Uhr

Die Veranstaltung beginnt mit der Einspielung eines Filmausschnitts der Staatsvertragsunterzeichnung aus dem Jahr 1955.


Tobias Pötzelsberger (Moderator): Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Damen und Herren der Präsidien von Nationalrat und Bundesrat! Geschätzte Mitglieder der Bundesregierung!

Susanne Höggerl (Moderatorin): Exzellenzen, hohe Geistlichkeit und Vertreter und Vertreterinnen der Kirchen und der Religionsgemeinschaften! Werte Abgeordnete zum Nationalrat und Mitglieder des Bundesrates!

Tobias Pötzelsberger: Sehr geehrte Festgäste und Ehrengäste hier im Saal und natürlich geschätztes Publikum vor den Fernsehern oder auch via Internet! Wir begrüßen Sie ganz herzlich zum heutigen Festakt anlässlich des 70. Jahrestages der Unterzeichnung des Staatsvertrages.

Susanne Höggerl: Ja, dieses Jahr 2025, das ist ein ganz besonderes Gedenkjahr. Es steht im Zeichen dreier ikonischer Ereignisse: Vor 80 Jahren ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen, die Nazis waren geschlagen.

Tobias Pötzelsberger: Österreich ist seit 30 Jahren Teil der Europäische Union, und ganz genau heute, am 15. Mai, feiern wir 70 Jahre Staatsvertrag, den Vertrag also, der unter diesem Motto läuft, das wir ja gerade gehört haben: Österreich ist frei!

Susanne Höggerl: Bis dahin waren es lange und schwierige Verhandlungen bis die Alliierten und Österreich sich dann am 15. Mai 1955 im Schloss Belvedere geeinigt haben und den Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich unterschrieben haben. Es war ein Meilenstein unserer österreichischen Geschichte.

Tobias Pötzelsberger: Ja, ein Meilenstein, den wir heute auch mit zwei ganz besonderen Gästen besprechen möchten, die ich an dieser Stelle gerne persönlich begrüßen möchte: den Bundespräsidenten und Nationalratspräsidenten a. D. Heinz Fischer sowie den Nationalratspräsidenten a. D. Andreas Khol! Herzlich willkommen! Schön, dass Sie da sind! (Beifall.)

Susanne Höggerl: Bevor ich dann die Ehre habe, mit Ihnen zu sprechen, bitten wir jetzt noch um die offiziellen Eröffnungsworte. Den Beginn macht Nationalratspräsident Walter Rosenkranz. – Bitte.

Eröffnungsworte

Walter Rosenkranz (Präsident des Nationalrates): Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Geschätzte so zahlreich versammelte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens! Exzellenzen! Liebe Österreicherinnen und Österreicher, die Sie diese Feierstunde zu Hause vor den Bildschirmen verfolgen! Zu Beginn bedanke ich mich an dieser Stelle bei allen, die zum Gelingen dieser Feier beitragen, von der Moderation über die musikalische Umrahmung durch die Wiener Sängerknaben, über die Redebeiträge bis hin zur Gebärdendolmetschung und natürlich auch zu allen Verantwortlichen im Parlament, den Bediensteten, die zum Gelingen dieser Veranstaltung in der Vorbereitung beigetragen haben. 

Heute vor 70 Jahren wurde der Staatsvertrag von Wien unterzeichnet, jenes Dokument mit den feuerroten Siegeln und den Unterschriften auf den letzten Seiten, das jedem Österreicher und jeder Österreicherin im Gedächtnis präsent ist, man kann sagen, eine weltliche Reliquie der jüngeren österreichischen Geschichte, vergleichbar mit dem Privilegium minus oder der Schlussakte des Wiener Kongresses. 

Wer kennt nicht die Bilder, als Leopold Figl das Schriftstück dem österreichischen Volk vom Balkon des Belvedere stolz und freudig als formellen Schlusspunkt jahrelanger schwerer Verhandlungen nach einer Zeit der ärgsten Not, die Krieg und nationalsozialistischer Terror anrichteten, präsentierte?

Die Geschichtchen rund um diesen Tag sind auch bekannt. Der Satz: „Österreich ist frei!“, wurde nicht auf dem Balkon gesprochen, sondern im Marmorsaal. Das Foto selbst wurde retuschiert, damit Außenminister Dulles besser darauf aussieht. Er hat sich nämlich weggedreht gehabt. Und auch die Entstehungsgeschichte des Ölgemäldes von der Unterzeichnung ist in vielerlei Hinsicht merkwürdig, vor allem mit Blick auf den Auftrag, Persönlichkeiten einzufügen, die gar nicht dabei waren. Diese Kuriosa dürfen aber nicht davon ablenken, welche immensen Anstrengungen es zehn Jahre hindurch gab, bis der Staatsvertrag wie man sagt unter Dach und Fach war. 

Ich darf anmerken, dass es sich beim Staatsvertrag um keinen Friedensvertrag handelt. Es gab keine Krieg führende Republik Österreich. Österreich ist 1938 untergegangen und erst 1945 wiedererstanden – eine bedeutende Tatsache, was Reparationszahlungen betraf. 

Es muss auch die Moskauer Deklaration vom 1.11.1943 als Glücksfall bezeichnet werden. Die Außenminister der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens formulierten bereits damals, dass die Besetzung Österreichs für null und nichtig erklärt wird und sie wünschen – ich zitiere –, „ein freies und unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen“. Dennoch wurde schon damals die Mitverantwortung Österreichs und seiner Bevölkerung für die Teilnahme am Krieg ausgesprochen. Ein freies, unabhängiges Österreich war also bereits damals in den Köpfen der Alliierten. 

Im ersten Kontrollabkommen der Alliierten im Juli 1945 wurde Österreichs Souveränität bis zur Errichtung einer frei gewählten, anerkannten österreichischen Regierung nach den Weisungen und Ratschlägen der Alliierten beschränkt. Die Alliierten erstaunte es aber, wie rasch der „alte Fuchs“ – ein Zitat Stalins – Karl Renner mit Vertretern der ÖVP, der SPÖ und den Kommunisten eine provisorische Staatsregierung und erste Nationalratswahlen organisierte. Diese Regierung fand im Herbst 1945 allgemeine Anerkennung. Der Nationalrat trat im Dezember 1945 zusammen und setzte die Verfassung der Ersten Republik wieder in Kraft. Damit sah sich Österreich als demokratische Republik wiederentstanden und legitimiert, die Forderung nach einem Staatsvertrag zu stellen.

Jetzt im Überblick: 1946 gab es bei einer Tagung der alliierten Außenminister in Paris die erste Prüfung der österreichischen Frage. Bis 1954 fanden 260 Sitzungen in diesem Format statt. Österreich wurde nur angehört. Erst 1954 wurde Österreich gleichberechtigt beigezogen.

Ein Problem war das deutsche Eigentum in Österreich – Stichwörter: DDSG, Erdölvorkommen, Usia-Betriebe, AEG, Elin et cetera. Gebietsansprüche Jugoslawiens waren Thema. Durch den Bruch Titos mit Stalin 1948 war diese durchaus bedrohliche Problematik entschärft. Weiters mussten die Folgen des Anschlusses absolut vernichtet werden, die Entnazifizierung musste glaubhaft durchgeführt werden, und jeder Keim für einen zukünftigen Anschluss musste erstickt werden. 

An dieser Stelle muss bedacht werden, dass die Situation Österreichs in die Entwicklungen rundherum in Europa und der Welt eingebettet war. Die UdSSR sahen eine Gefahr eines Zusammenschlusses Österreichs mit einem aufgerüsteten Westdeutschland. Die Drohung der UdSSR, Truppen in ganz Österreich zu stationieren, stand im Raum. Man wollte die Westintegration Österreichs um jeden Preis verhindern. 

Wir befanden uns geopolitisch in der Zeit des Koreakrieges, als sich die Blöcke des Kalten Krieges entwickelten. Europäische Beitritte zur Nato, Bündnisse wie die Seato Australiens, Neuseelands entstanden. Da war für die Sowjets ein neutrales Österreich als Keil zwischen der BRD und Italien besser als ein von russischen Truppen besetztes Österreich. Parallel gab es vor allem von Frankreich bereits 1949 ernste Bestrebungen, Österreich in die Nato einzubinden. Die USA ventilierten für Österreich eine Lösung wie für Deutschland, also eine Teilung in einen West- und einen Ostteil. 

Man sieht, Österreich war auch strategischer Spielball der Besatzungsmächte. Aber die österreichische Bundesregierung wies jeglichen Versuch, zu spalten und zu teilen kategorisch zurück. Die Lösung war die Bündnislosigkeit in Form der dauerhaften Neutralität. 

Damals fehlte noch jede historische Erfahrung, aber bereits nach 1945 war der Gedanke einer Äquidistanz zu allen Mächten beobachtbar. Es gibt dazu klare Aussagen Figls, Grubers, Raabs, Renners und Körners. 1952 sprachen bereits alle Parteien von einer Neutralität, wenn auch ohne einheitliche Interpretation. Erst 1954 kamen die Alliierten auf einen gemeinsamen Nenner: Die UdSSR setzte ihre Forderung nach militärischer Neutralität durch. Die Westalliierten stimmten zu, wenn dieser Schritt freiwillig gesetzt wird, außerhalb des Staatsvertrages. 

Und jetzt geht es eigentlich sehr rasch. Während der Verhandlungen in Moskau im April 1955 – wir denken an die Karikatur von Figl: „Und jetzt, Raab – jetzt noch d’Reblaus, dann sans waach!“ – wird erstmals das Wort Neutralität seitens Österreichs in den Verhandlungen verwendet. Das Ergebnis wird im Moskauer Memorandum zusammengefasst. Am 2.5.1955 wurden in Wien von Botschaftern mit Österreich die Vertragstexte erstellt. 

Um die einzigartige Dramatik und auch den Druck dieser Tage zu verdeutlichen, ein Parallelereignis: Bevor Außenminister Molotow nach Österreich kam, unterzeichnete er noch am 14.5.1955, am Vortag, in Warschau die Gründungsurkunde des Warschauer Paktes. Die Blöcke des Kalten Krieges standen sich gegenüber, Österreich – das kleine Österreich – hatte es geschafft, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, ich würde meinen, in letzter Minute.

Ich verneige mich heute mit großem Respekt vor der Leistung und dem diplomatischen Geschick der großen Staatsmänner dieser Jahre. Die meisten Namen sind bereits gefallen. Ich darf noch Bruno Kreisky und Ludwig Steiner erwähnen. Ihnen allen ist es gelungen, Österreichs Position im Herzen Europas zum Wohl seiner Menschen zu festigen. Das Vermächtnis unserer großen Staatsmänner fordert uns auf, den Staatsvertrag auch heute noch mit Leben zu erfüllen, zum Beispiel – weil ich auch hier Vertreter sehe – den Artikel 7, zu dem uns auch Schreiben zugegangen sind.

Sehr geehrte Damen und Herren, es lebe die Republik Österreich! (Beifall.)

Peter Haubner (Zweiter Präsident des Nationalrates): Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Geschätzte Mitglieder der Bundesregierung! Geschätzte Mitglieder des National- und des Bundesrates! Sehr geehrte Damen und Herren! Aber vor allem liebe Schülerinnen und Schüler! „Österreich ist frei!“ – Es sind diese drei Worte von Leopold Figl, die sich bis heute tief in das kollektive Gedächtnis unserer Nation eingeprägt haben. 

70 Jahre nach einem der größten Momente unserer Geschichte stehen wir hier im Hohen Haus der Republik und neigen das Haupt in respektvollem Gedenken, und zugleich heben wir es mit Stolz als freie Bürgerinnen und Bürger eines souveränen, demokratischen und neutralen Österreich.

Der 15. Mai 1955 markiert mehr als nur ein politisches Ereignis. Er ist der Tag, an dem sich Österreich nach Jahren des Krieges, der Zerstörung und der totalitären Herrschaft aus den Trümmern des Nationalsozialismus erhoben hat. Der Staatsvertrag wurde zur Gründungsurkunde der Zweiten Republik. Er war die Antwort auf die Barbarei der Vergangenheit und vor allem ein klares Bekenntnis zu Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

An der Spitze des Verhandlungsteams stand Bundeskanzler Julius Raab, und er stand für das gemeinsame Ziel und für das Miteinander. Raab war nicht nur im zivilen Leben Baumeister, sondern in gewisser Weise auch der Baumeister der Zweiten Republik. Mit Weitblick, Entschlossenheit und mit einem ganz speziellen Sensorium für das Machbare führte er damals die Verhandlungen mit der sowjetischen Führung unter Nikita Chruschtschow. Sein Ziel war stets klar: Die Wiedererlangung der vollständigen Souveränität unseres Staates für ein freies, demokratisches Österreich. Mit ihm gemeinsam – gemeinsam! – wirkten bedeutende Persönlichkeiten, die unsere politische Kultur bis heute prägen: Vizekanzler Adolf Schärf, Außenminister Leopold Figl, der bereits 1953 in Moskau die diplomatische Vorarbeit geleistet hat, sowie Staatssekretär Bruno Kreisky, dessen strategischer Weitblick schon damals Österreichs Stellung in der Welt mit formte.

Eine kleine, aber doch vielsagende Anekdote, wie die Verhandlungen zu jener Zeit in Moskau abgelaufen sind, hat die Journalistenlegende Hugo Portisch Jahre später in einem seiner Bücher überliefert: Um etwaigen Abhörversuchen entgegenzuwirken, ließ Julius Raab auf einem Plattenspieler, den man damals extra aus Österreich mitgenommen hatte, immer wieder mit voller Lautstärke den Radetzky-Marsch spielen. So hatte die österreichische Delegation die Gewissheit, dass man die einzelnen Vertragspunkte ungestört und vor allem wirklich unter sich diskutieren konnte. Ich glaube, diese Idee verband eben den Mut mit Raffinesse und ist wohl das beste Beispiel für jene Melange aus Pragmatismus und Idealismus, die unsere Zweite Republik bis heute auszeichnet.

Das Parlament hat ebenfalls Verantwortung bei der Ausarbeitung des Staatsvertrages übernommen. In Summe dauerte der parlamentarische Prozess, die parlamentarische Reise über neun Jahre und drei Gesetzgebungsperioden. Ausdauer, Überzeugung und hart erkämpfte Kompromisse haben uns im Juni 1955 mit den notwendigen Parlamentsbeschlüssen die Freiheit, die Unabhängigkeit gesichert.

Die Geschichte des Staatsvertrages veranschaulicht auf eine eindrucksvolle Art und Weise, wie wichtig der parlamentarische Weg für die Freiheit des Landes war. Beharrlichkeit, Dialog und der feste Wille zur Unabhängigkeit haben am Ende zu diesem Erfolg geführt. Unser Staatsvertrag ist aber nicht nur ein juristisches Dokument. Er ist ein lebendiger Auftrag.

Heute, 70 Jahre später, leben wir in einer Welt, die sich im Umbruch befindet. Geopolitische Spannungen, ein Krieg direkt vor unserer Haustüre, Instabilität – Herausforderungen, so weit das Auge reicht. Unsere Neutralität muss sich Tag für Tag neu bewähren und beweisen, dass sie keine fadenscheinige Ausrede, sondern vielmehr ein Bekenntnis, nämlich unser Bekenntnis zu einer aktiven Friedenspolitik, ist. Freiheit, Demokratie und Neutralität sind nicht selbstverständlich. Freiheit, Demokratie und Neutralität sind Werte, die besonders hier im Parlament tagtäglich gelebt, verteidigt und weiterentwickelt werden müssen.

Lang lebe das freie neutrale Österreich! Es lebe unsere Republik! (Beifall.)

Doris Bures (Dritte Präsidentin des Nationalrates): Geschätzter Herr Bundespräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Rund um das Erlangen des Staatsvertrages im Jahre 1955 ranken sich viele schillernde Mythen und Legenden, die nicht alle vor der nüchternen Überprüfung auf historische Realität Bestand haben.

Fakt aber ist, dass es der damaligen österreichischen Bundesregierung nach langwierigen Verhandlungen mit den alliierten Befreiungsmächten gelungen ist, den Staatsvertrag, der unserem Lande wieder die volle Souveränität brachte, abzuschließen. Nach den unglaublichen Verwerfungen um Bürgerkrieg, Austrofaschismus, Weltkrieg und Holocaust ist es Österreich in einer gemeinsamen Kraftanstrengung gelungen, die wechselseitigen Vorbehalte und Bedenken der nunmehrigen Signatarstaaten auszuräumen.

Von Bruno Kreisky, dem damaligen Staatssekretär im Außenministerium, wissen wir, dass es die Leitlinie der österreichischen Außenpolitik seit 1945 war, die Erhaltung der Einheit Österreichs unbedingt zu gewährleisten. Daher strebte man seitens der Verhandler jedenfalls eine eigenständige, von der deutschen Frage unabhängige, Lösung für Österreich an. 

Nach dem Tod Stalins 1953 war klar, dass sich die politischen Verhältnisse in der Sowjetunion völlig neu ordneten und sich daher auch die außenpolitische Orientierung neu ausrichten wird. Es war die Meisterleistung der damaligen politischen Führung unseres Landes, dieses Window of Opportunity zu erkennen und zu nutzen. Andererseits konnten auch die Westalliierten, die eine Nato-Einbindung anstrebten, davon überzeugt werden, dass eine eigenständige Republik Österreich einer drohenden Teilung des Landes vorzuziehen ist.

Österreich hat in der Folge mit der souveränen Entscheidung zur immerwährenden Neutralität eine Positionierung zwischen den Blöcken des Kalten Krieges geschafft, die wohlweislich keine weltanschauliche Neutralität bedeutete, sondern unser Land für lange Zeit zu einer Drehscheibe aktiver Friedenspolitik werden ließ. Als sichtbares Zeichen dieser Tradition wurde Wien zum UN-Sitz sowie zum Headquarter zahlreicher anderer internationaler Organisationen, von der OSZE über die Atomenergiebehörde bis zur Opec.

Gerade heute, im Angesicht schrecklichster Konflikte, von der Ukraine bis zum Nahen Osten, wäre es ein lohnendes Ziel, genau diese Tradition wieder aufleben zu lassen. (Beifall.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die bewaffnete Neutralität Österreichs hat uns seit 70 Jahren Frieden und Sicherheit beschert. Sie ist aus guten Gründen in der österreichischen Seele tief verankert. Sie wird jedoch manchmal – immer wieder sehr leichtfertig und herablassend – gering geschätzt, oft mit dem Argument, Neutralität sei unsolidarisch. Im Gegenteil: Hunderte Soldatinnen und Soldaten stehen im Rahmen von Auslandseinsätzen Tag für Tag im Dienste des Friedens. Seit 1960 haben mehr als 100 000 österreichische Soldat:innen und zivile Helfer an über 100 internationalen Missionen teilgenommen. Diese unzähligen Einsätze unseres Bundesheers – derzeit etwa in Bosnien und Herzegowina, im Kosovo oder im Libanon – dokumentieren: Die österreichische Neutralität stand niemals im Widerspruch zur internationalen Solidarität. (Beifall.)

Hohe Versammlung! Die Erfolgsgeschichte zu unserem Staatsvertrag beweist zweifellos: Auch in aussichtsloser Lage, nach der Devastierung des Zweiten Weltkrieges sowie als kleines besetztes und zerstörtes Land, gelang es der damaligen politischen Führung durch strategisches Geschick, weltpolitische Analysefähigkeit und ein Gefühl, ein Gespür für geopolitische Umwälzungen, die Unabhängigkeit Österreichs wiederzuerlangen. Bruno Kreisky meinte dazu anlässlich des 30-jährigen Jubiläums 1985: Am Beispiel Österreichs ist bewiesen worden, dass es nichts gibt, was nicht durch konsequentes Verhandeln zu lösen ist. 

Auch wenn sich der weltpolitische Rahmen heute natürlich ganz anders darstellt, ist es Österreich seither gelungen, sich als freie Republik und als Hort von Stabilität, Sicherheit und Wohlstand einen respektablen Platz in der Völkergemeinschaft zu erarbeiten – durch Leistungsbereitschaft, durch soziale Verantwortung und durch eine bemerkenswerte demokratische Stabilität. Dies sollte uns auch in Zukunft Auftrag und Verpflichtung sein. 

Es lebe die Republik Österreich! (Beifall.)

Susanne Höggerl: Vielen Dank dem Nationalratspräsidium, das uns schon ein bisschen in diese Zeit vor 70 Jahren zurückgeführt hat.

Verehrte Festgäste, liebes Publikum! Die Spitzen der Republik – wenn Sie sich umschauen – sind hier heute in diesem Saal versammelt. 

Tobias Pötzelsberger: Ja, und wo diese sind, dürfen natürlich auch die Wiener Sängerknaben nicht fehlen. – Danke, dass ihr euch Zeit genommen habt. Herzlich willkommen! (Beifall.)

Wir haben vorhin schon ein bisschen miteinander diskutiert, wir haben gesagt: Das ist sicher besser als Schule hier! Außerdem freuen wir uns auf eure Musik, auf euren Gesang. Wir hören jetzt gleich „Wiener Blut“ – da kann man einerseits sagen: schön, zu Recht wirklich schön –, das ist genau jenes Stück, das vor 70 Jahren beim Festbankett im Schloss Schönbrunn gespielt worden ist. Also: Das passt. – Bitte. 


(Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Wiener Blut“, dargebracht von den Wiener Sängerknaben. – Beifall.)


Im Gespräch

Susanne Höggerl: Ich glaube, wir haben jetzt alle einen Ohrwurm. Danke noch einmal an die Wiener Sängerknaben, sie haben eine Atmosphäre geschaffen, in der es sich gut plaudern lässt. Genau das wollen wir jetzt auch gleich tun, und zwar über das, was heute vor 70 Jahren passiert ist. Heute vor 70 Jahren hat Österreich Geschichte geschrieben oder seine Geschichte neu geschrieben – und eigentlich ziemlich genau um diese Zeit, zwischen 11.30 und 11.35 Uhr, sind diese Unterschriften, die unser aller Identität bis heute prägen, im Schloss Belvedere gesetzt worden. 

Ich freue mich besonders, zwei Gäste begrüßen zu dürfen, die als junge Menschen diese Unterschriften, dieses bedeutende politische Kapitel miterlebt haben, um dann selbst die Politik dieses Landes über viele Jahrzehnte zu prägen. 

Ich bitte jetzt zu mir: Den ehemaligen Bundespräsidenten Dr. Heinz Fischer und den langjährigen Nationalratspräsidenten Dr. Andreas Khol. (Beifall.) – Herzlich willkommen noch einmal Ihnen beiden.

Ich denke, so großen historischen Ereignissen, wie jene, über die wir heute hier sprechen, nähert man sich am besten auch ganz persönlich. Darum würde ich unser Gespräch gerne mit Ihren eigenen Erinnerungen an diese Zeit damals, vor 70 Jahren, beginnen. Sie waren beide Jugendliche – einer in Innsbruck, einer in Wien.

Herr Dr. Fischer, gehen wir zurück zu diesem Tag vor 70 Jahren. Sie haben in einem Interview einmal gesagt, Sie sind zum Schloss Belvedere hingeradelt. Mit welchen Gefühlen haben Sie denn in die Pedale getreten?

Heinz Fischer (Bundespräsident a. D., Präsident des Nationalrates a. D.): Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Lieber Andreas! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mit sehr guten Gefühlen in die Pedale getreten, weil mich das Ganze sehr interessiert hat, weil ich einen Vater hatte, der zu dieser Zeit Staatssekretär in der Regierung Raab/Schärf war – er war Staatssekretär im Handelsministerium. Er hat gewusst, dass ich mich schon als Jugendlicher sehr für Politik interessiert habe und ich habe quasi vom Sommer 53 bis zum Sommer 54 viele Gelegenheiten gehabt, Fragen zu stellen. 

Und meine Sicht auf das Zustandekommen dieses Staatsvertrags, der ja davor mehr als hundertmal in Außenministerkonferenzen auf der Tagesordnung gestanden ist, wodurch sich nichts geändert hat, war, dass der 5. März 1953 ein Schlüsseltag war. An diesem Tag ist Stalin gestorben. Mit dem Tod Stalins hat ein mörderischer Machtkampf in der Sowjetunion begonnen, im Politbüro der Sowjetunion, und die beiden Kontrahenten waren bekanntlich einerseits Chruschtschow und andererseits der Chef des Sicherheitsdienstes Lawrenti Beria. Chruschtschow hat diesen Machtkampf gewonnen, Beria ist erschossen worden und Chruschtschow hat dann begonnen, langsam den Kurs der Sowjetunion zu ändern. Seinen Höhepunkt hat das dann am 20. Parteitag der KPdSU im Feber 1956 gefunden, als die Entstalinisierung mit voller Wucht eingesetzt hat, was wiederum ein Anlass für die ungarische Revolution war. Jedenfalls hat im Jahr 1955 ein neuer außenpolitischer Kurs begonnen, und das hat die österreichische Bundesregierung richtig erfasst. 

Mehr dazu, wie es dann weitergegangen ist, muss ich ja in der ersten Runde nicht sagen, aber ich habe sehr starke, sehr genaue Erinnerungen an diese Zeit. Ich bin auch sehr stolz auf diese Männer und Frauen, auch wenn es damals noch keine Frau in der österreichischen Bundesregierung gegeben hat, die an diesem Werk mitgewirkt haben. Und ja – ich bin auch wieder gut mit dem Fahrrad zurückgeradelt.

Susanne Höggerl: Das freut uns sehr – und Sie sind heute, nach vielen Jahrzehnten politischer Karriere, da. Sie haben jetzt schon ein bisschen den Weg erzählt, auch über dieses historische Zeitfenster mit dem Tod Stalins, das möglicherweise oder wahrscheinlich diesen Staatsvertrag möglich gemacht hat. 

Dann ist dieser Satz gefallen: „Österreich ist frei!“ Für uns nachfolgende Generationen hat dieser Satz ja eine gewisse Selbstverständlichkeit, weil wir es ja nicht anders kennen. Mit Ihren Erfahrungen und Erlebnissen der Kriegsjahre und der Besatzungszeit hat er wahrscheinlich noch einmal eine andere Bedeutung. Vielleicht nehmen Sie uns noch einmal mit in Ihre Jugend: Wie war das im besetzten Österreich? Wie hat das Ihren Alltag geprägt?

Andreas Khol (Präsident des Nationalrates a. D.): Ich war Gymnasiast in Innsbruck, fünfte Klasse, politisch sehr interessiert, aber ich habe natürlich im glücklichen Teil Österreichs gelebt. Wir waren in der französischen Besatzungszone, und die Franzosen waren im Jahr 1949 sehr schnell militärisch in Vietnam engagiert und haben weitestgehend alle Truppen aus Tirol und Vorarlberg abgezogen. Und es gab Général Béthouart, der Ehrenbürger aller Tiroler Gemeinden wurde. Er hat die Schützen gepflegt. Die Franzosen waren sehr populär. Dass ich Französisch gelernt habe, verdanke ich der französischen Besatzungszone.

Für uns war Wien weit weg. Meine erste Reise nach Wien – Österreichs Jugend lernt Wien kennen – war 1958, davor nicht. Und als Innsbrucker haben wir in Tirol die Trennung zwischen Nord- und Südtirol, die ja wieder erfolgte – die Brennergrenze wurde ja wieder aufgerichtet – als eine schwere Grenze, eine scharfe Grenze empfunden. 

Mein Vater war Bauingenieur und hat im Dienst einer oberösterreichischen Baufirma, Kapsreiter, in Wien Straßen gebaut, und er hat mir natürlich immer wieder erzählt, was sich in Wien abspielt. Ich habe zum Beispiel hier (ein Dokument in die Höhe haltend) seine Identitätskarte auf Russisch, Englisch, Französisch mit dem Vermerk: Der Titular ist zwar kein Österreicher, aber als Südtiroler den Österreichern gleichgestellt. – Das rührt mich. Er hat mir also erzählt.

Im Jahre 1951 war ein Jamboree der Pfadfinder in Bad Ischl. Ich war damals Wölfling, also zehn Jahre alt, und wir sind über die Urfahraner Brücke gefahren. An der Urfahraner Brücke war die Zonengrenze. Dort mussten wir aus der Straßenbahn raus und wurden gefilzt, im Jahr 1951. Wir haben damals schon erlebt, was das bedeutet. Daher waren die Bilder, die wir gesehen haben - - Das erste Fernsehbild, an das ich mich erinnern kann, das war dieses berühmte Bild, als Julius Raab vom hinteren Teil einer DC-3 aussteigt – Ludwig Steiner hinter ihm; eine Rückkehr aus Moskau – und gesagt hat: Österreich wird frei sein!

Als wir dann den Staatsvertrag bekommen haben, war das für mich ein unglaubliches Glücksgefühl: Endlich! Endlich nicht mehr die Unfreiheit! – Und ich glaube, wir müssen den jungen Leuten schon erklären, warum wir zehn Jahre besetzt waren und nicht gleich nach 1945 die Freiheit bekommen haben, warum Österreich besetzt wurde – ich vertrete ja die Meinung, es ist nicht untergegangen, Herr Präsident –, es wurde handlungsunfähig, es wurde besetzt, das ist die Okkupationstheorie, und das war die Staatsfiktion, mit der die Republik dann weitergelebt hat. Dass es aber den Nationalsozialismus gab und dass es den Parteienstreit davor gab – ich werde darauf noch zu sprechen kommen –, dürfen wir nicht vergessen.

Und einen Freiheitsmoment muss ich zum Schluss noch erwähnen: Als ich die erste Semmel beim Bäckermeister Eller in Pradl für 17 Groschen ohne Lebensmittelkarte kaufen konnte, da habe ich gewusst: Jetzt hat sich wirklich viel geändert! – Es war ein Freiheitsgefühl. (Beifall.)

Susanne Höggerl: Dann möchte ich Sie jetzt natürlich auch nach Ihrem ganz persönlichen Freiheitsmoment fragen: Sie konnten wieder ungehinderter radeln nach dem 15. Mai?

Heinz Fischer: Das konnten wir schon länger tun. – Ich habe das ja auch in gebrochener Weise erlebt. Als der Bombenkrieg in Wien immer stärker wurde, also Ende 1943, hat meine Mutter so panische Angst vor den Bomben gehabt, dass sie mich zu einer Tante nach Pamhagen im Burgenland geschickt hat – das habe ich schon öfters erzählt –, ich habe dort auch im Herbst 1944 mit der Volksschule begonnen. Ich habe damals noch jeden Tag bei Unterrichtsbeginn stramm sagen müssen: Heil Hitler, Herr Lehrer!, und dann bin ich nach Niederösterreich, nach Loich an der Pielach verlegt worden, weil die Russen näher gekommen sind, und dann war der Krieg vorbei.

Der größte Schock in der ganzen Zeit war ein Tag im Frühjahr, April, Mai 1945, als ein russischer Panzer in den Vorgarten unseres Hauses oder unserer Wohnung gefahren ist und bewaffnete russische Soldaten ausgestiegen sind. Meine Mutter und die Schwester meines Vaters haben wahrscheinlich den Schock ihres Lebens gehabt. Das waren aber keine Soldaten, von denen eine unmittelbare physische Gefahr ausgegangen ist, denn das waren Journalisten in Uniform, die Flugblätter drucken und an die Bevölkerung verteilen wollten. Die Wohnung hat schrecklich ausgeschaut, als die wieder abgezogen sind. Das war so die erste Begegnung.

Bald darauf, noch im Sommer 1945, sind die Besatzungszonen in Wien neu eingeteilt worden. Hietzing war dann britische Besatzungszone, und das war etwas ganz anderes, das hat man dann viel weniger schwer gespürt, obwohl die Last der Besatzungssoldaten, die ökonomische Last, die politische Last, da war, denn es hat ja ein alliiertes Kontrollabkommen gegeben, wonach zunächst zwar ein gewähltes Parlament vorhanden war, aber der Alliierte Rat das Recht hatte, gegen jeden Gesetzesbeschluss Einspruch zu erheben, und zwar in der Form, dass der Einspruch zustande gekommen ist, wenn auch nur eines der Mitglieder des Alliierten Rates nicht einverstanden war. Das war in erster Linie die sowjetische Besatzungsmacht. 

Erst wesentlich später ist das geändert worden, umgekehrt worden, der Alliierte Rat konnte gegen einen Gesetzesbeschluss des Österreichischen Parlaments nur einstimmig Einspruch erheben. Also da war die politische Last wesentlich reduziert. Es sind langsam doch auch die Übergriffe der Besatzungsmächte geringer geworden, langsam, aber es ist immer noch jeden zweiten Tag in der Zeitung gestanden: UNBEKANNTE – großgeschrieben – haben gestern in Gerasdorf oder in Wiener Neustadt Frauen vergewaltigt oder sind eingebrochen und haben jemanden erschossen. Diese Last ist ja auch bis zum Abschluss des Staatsvertrages vorhanden gewesen, und die Trennung an den Demarkationslinien war auch eine große Last. Nicht nur, dass manche Menschen spurlos verschwunden sind, wenn Sie über die Enns oder über den Semmering in die eine oder andere Richtung fahren wollten, sondern es war ein großes Hemmnis, viele Menschen haben Angst gehabt, sodass man das eher vermieden hat. Viele meiner Verwandten – mein Großvater, die Schwester meiner Mutter, die Brüder meiner Mutter – haben in Graz gelebt, aber man hat es sich dreimal überlegt, ob man nach Graz fährt und sich dieser Prozedur an der Zonengrenze aussetzt. 

Also alle diese Hindernisse – manche Menschen haben noch viel mehr gelitten, sind verschleppt worden und so weiter – haben dann durch den Staatsvertrag ein definitives Ende gefunden. Darum war auch die Begeisterung über den Staatsvertrag so groß und darum war der Platz vor dem Belvedere gesteckt voll. Es macht mir manchmal Vergnügen, mir in der Parlamentsbibliothek – die dortig Tätigen werden das bestätigen – einen Band aus 1955 kommen zu lassen und nachzulesen – ein bisschen vor dem Staatsvertrag und ein bisschen nach dem Staatsvertrag –, wie sich das alles entwickelt hat und wie stark das an einem steilen Aufstieg Österreichs in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre beteiligt war. – So sehe ich das. 

Susanne Höggerl: Wenn wir noch einmal zurückgehen, Sie haben das ja auch ein bisschen geschildert, es war die Zeit des Kalten Krieges, Österreich war ein Brennpunkt und auch ein Spielball zwischen den Machtblöcken. Die Spannungen haben lange eine Einigung der alliierten Mächte unmöglich gemacht, und dann haben wir diese besonders prägenden Politikerfiguren Leopold Figl, Julius Raab – ausgesprochene Charaktermenschen, Leadership nennt man das wahrscheinlich heute. Von Politiker zu Politiker gesprochen: Was hat sie denn besonders ausgezeichnet? Es war wahrscheinlich nicht nur die Trinkfähigkeit, wie es die Geschichte gerne erzählt.

Andreas Khol: Jura Soyfer hat ein Lied geschrieben – das „Dachaulied“ –, in dem der Refrain lautet: Und wir haben die Botschaft von Dachau gelernt. – Die Politiker, die Sie gerade genannt haben, von Sozialdemokratie und Christdemokratie, haben die Botschaft von Dachau gelernt. 1945 hat die Österreichische Volkspartei in den freien Wahlen die absolute Mehrheit erreicht. Die Kommunisten hatten nur 5 Prozent, die Sozialdemokratie 44 Prozent. Im Geist der Zwischenkriegszeit hätte es natürlich eine Alleinregierung gegeben, und da hat Österreich, haben diese Politiker von Sozialdemokratie und Christdemokratie eben gezeigt, dass sie verstanden haben: Nur die Einigkeit macht stark. 

So ist Österreich das Schicksal erspart geblieben, das eine Reihe von anderen Ländern, die besetzt waren, in denen es auch Wahlen gab, erlitten haben. Dort hat dann die Linke mit den Kommunisten zusammengearbeitet und damit die Machtübernahme in der Tschechischen Republik vorbereitet, die Teilung von Deutschland vorbereitet. Das heißt, diese Aufspaltung zwischen Links und Rechts, das war das Entscheidende, was die Führungspersönlichkeiten von Volkspartei und Sozialdemokratie gezeigt haben: Zusammenhalten, kein Blatt Papier ging zwischen die beiden, denn das war ja nicht einfach damals, es waren schwierigste Zeiten. 

Ich erinnere: Noch ganz spät ist Margarethe Ottillinger, die Vermögenskommissarin bei Krauland war, ins Palais Epstein – heute Parlamentsdepandance, Schmuckstück des Parlaments; damals Kommandantur der Sowjetttruppen, großes Stalin-Bild am Balkon – kommandiert worden. Sie ist nicht mehr zurückgekommen. Sie kam in den Gulag und sie wurde erst viele Jahre später rehabilitiert, freigesprochen und kam zurück. Wir verdanken ihr die Kirche am Maurer Berg von Wotruba – „Maria, Königin des Himmels“ –, ein wunderbarer Kirchenbau, den Frau Ottillinger als Dank für die Freiheit an den guten Gott errichten hat lassen.

Susanne Höggerl: Freiheit, Unabhängigkeit, Demokratie: Sie beide haben jetzt von der Abwesenheit all dieser Werte in Ihrer Jugend erzählt. Heute hier sind sehr viele Schülerinnen und Schüler dabei. Wir und auch die nachfolgenden Generationen spüren alle möglicherweise die Bedeutung dieser Werte gar nicht mehr so. Wie kann man denn den jungen Menschen diese Werte näherbringen? Denn was man schätzt, das schützt man ja auch. 

Andreas Khol: Also ich habe in Vorbereitung eine Umfrage unter meinen Oberstufenenkeln gemacht. Ich habe sieben Enkel, die entweder in der Oberstufe sind oder gerade die Uni bezogen haben, und ich muss Ihnen sagen, ich war angenehm überrascht: Alle wussten um den Staatsvertrag, alle waren sich der Bedeutung des Staatsvertrages bewusst, alle hatten bereits mit 14 vom Staatsvertrag gehört, alle stellten die Verbindung zur Neutralität her. Das heißt also, ihr Interesse war sehr groß. Wir unterschätzen die Lernbegierde und auch die Werteverankerung unserer Jugend. Ich muss sagen, Bravo den österreichischen Schulen, die Lehrer haben ihre Aufgabe gemacht. (Beifall.)

Susanne Höggerl: Das kann ich bestätigen. Ich habe auch einen Maturanten zu Hause, der jetzt einmal das Schlimmste geschafft hat. Auch darüber freue ich mich jetzt sehr. Jetzt möchte ich Sie aber zum Abschluss noch gerne nach Ihrer Kernbotschaft an die junge Generation, an die nachfolgenden Menschen, die jetzt die Zukunft dieses Landes gestalten, fragen. Was ist denn die Kernbotschaft des Staatsvertrages? Was möchten Sie den Menschen mitgeben?

Heinz Fischer: Also die Kernbotschaft des Staatsvertrages ist heute schon von mehreren Vorrednern formuliert worden, nämlich: Wenn ein Volk oder die Bevölkerung eines Staates ein Ziel hat, ein wertvolles und plausibles und historisch begründetes Ziel, dann kann sie Unglaubliches erreichen. Darum ist unser Bemühen um den Staatsvertrag letzten Endes erfolgreich geblieben. 

Was aber die Zukunft betrifft, glaube ich, dass das Beispiel sehr wichtig ist: Es war ja nicht so, wie man das heute oft schildert, dass zischen 1945 und 1955 Wonne und Waschtrog in der österreichischen Innenpolitik war. Das waren sehr, sehr harte Auseinandersetzungen und auch sehr harte Auseinandersetzungen über die Demokratie. Immer wenn jemand sehr unzufrieden ist und Unbehagen über die heutige Demokratie hat, dann empfehle ich ihm zum Beispiel das Buch von Fritz Klenner unter dem klassischen Titel „Das Unbehagen in der Demokratie“, erschienen Ende der Fünfzigerjahre. 

Also dieses Unbehagen hat es immer gegeben, aber wenn wir bereit sind, aus der Geschichte zu lernen, wenn wir einen gewissen Optimismus haben und wenn wir ihnen sagen können: traut euch was! – denn in der Demokratie ist der Wille, der in der Bevölkerung artikuliert wird, ein sehr starkes Moment, ein sehr starker Faktor –, dann, glaube ich, kann man schon optimistisch sein und die Hoffnung haben und die Annahme vertreten, dass unsere Demokratie nicht ungefährdet, aber ein starker Baum ist, der mit vielen Gefahren und mit vielen Anforderungen fertig wird. Darum bin ich selbst Optimist und das möchte ich auch ausstrahlen. (Beifall.)

Susanne Höggerl: Optimismus und Hoffnung: Das wollen wir allen mitgeben. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, für die Erinnerungen und die Gedanken, die Sie da mit uns geteilt haben. Vielen Dank. Danke sehr. Danke schön. Danke sehr. (Beifall.)

Ich bitte jetzt wieder die Wiener Sängerknaben zu uns, wir hören jetzt wieder Musik. Wir hören jetzt von den Wiener Sängerknaben Lieder aus dem „Jungbrunnen“ von Johannes Brahms.


(Es folgt die musikalische Darbietung von ""Lieder aus dem Jungbrunnen“ von Johannes Brahms, dargebracht von den Wiener Sängerknaben. – Beifall.)


Moderiertes Gespräch

Tobias Pötzelsberger: Danke noch einmal an die Wiener Sängerknaben. Wir haben das Glück, dass wir sie später noch einmal hören dürfen. Ich möchte jetzt das aufnehmen, was wir gerade gehört haben, was Susanne Höggerl mit ihren Gästen hier besprochen hat, vielleicht aber auch ein bisschen versuchen, es in die Gegenwart zu bringen.

Natürlich ist das ganz, ganz wichtig an so einem Tag, bei so einem Gedenken: Inwiefern verpflichtet uns dieser Vertrag von damals – ein alter Vertrag, das muss man so sagen – in unserem Handeln heute, im politischen Handeln, vor allem auch drüben im Nationalratsplenum? 

Mit wem soll man das diskutieren, außer mit dem handelnden politischen Personal dieser Republik? Deshalb haben wir hier eine kleine erweiterte Runde aufgebaut, und ich bitte nach der Reihe zuerst August Wöginger, den Klubobmann der ÖVP, zu mir. Da ist er. – Grüß Gott! (Beifall.)

Philip Kucher ist der Klubvorsitzende der SPÖ. (Beifall.)

Yannick Shetty ist der neue Klubobmann der NEOS. – Grüß Gott! (Beifall.)

Werner Kogler ist der Klubobmann der Grünen. (Beifall.)

Und auch der stellvertretende Klubobmann der FPÖ ist bei uns, Norbert Nemeth. (Beifall.)

Sprechen wir, meine Herren, vielleicht zu Beginn noch ganz kurz das an, was sich aus der Besetzung hier ergibt. Da sitzen die Klubobmänner aller Fraktionen, die FPÖ schickt den Stellvertreter. Gibt es irgendeinen spezifischen Grund, warum Herbert Kickl eigentlich nicht da ist? – Nur, falls sich das jemand fragt, der zuschaut.

Norbert Nemeth (Klubobmannstellvertreter des Freiheitlichen Parlamentsklubs): Ich bin das schon gefragt worden. Wir sind ein arbeitsteiliger Klub, so wie jede intelligente Gesellschaft. Wir teilen uns auf, wer wann wohin geht. Wir haben ein breites personelles Angebot, und das ist heute auch eine Gelegenheit, das darzustellen.

Tobias Pötzelsberger: Danke, dass Sie da sind – nur, damit wir das geklärt haben. (Beifall.)

Herr Wöginger, ich möchte mit Ihnen beginnen, denn die ÖVP sitzt seit 1987 eigentlich durchgehend in der Regierung, bis auf das Expertenkabinett und so. Das ist natürlich Rekord. Hat ein 70 Jahre alter Vertrag – altes Papier, könnte man sagen – tatsächlich Bedeutung für Ihr tagtägliches politisches Handeln in diesem Haus?

August Wöginger (Klubobmann des Parlamentsklubs der Österreichischen Volkspartei): Das würde ich eindeutig mit Ja beantworten, weil der Staatsvertrag kein Relikt aus der Vergangenheit, sondern eigentlich das lebendige Bekenntnis zur österreichischen Identität und Unabhängigkeit ist. Durch diesen Staatsvertrag ist ja Österreich wieder als souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat wiederhergestellt worden, der sich zur Demokratie, zur Neutralität und zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet. Also das ist ja im Artikel 1 des Staatsvertrages verankert. 

Ich meine, man redet das heute so einfach daher. Wenn man in der Parlamentskorrespondenz nachliest, dann erfährt man ja – und Präsident Haubner hat es angesprochen –, dass das neun Jahre lang gedauert hat. Ende Oktober hat der damalige Dritte Präsident Gorbach die Galerie im Nationalratssitzungssaal räumen lassen. Dann hat eine sogenannte geheime Nationalratssitzung stattgefunden, die im Übrigen heute auch noch in der Geschäftsordnung verankert ist, und dort hat eigentlich der Prozess begonnen, dass Österreich seine Unabhängigkeit und seine Souveränität wiedererlangen konnte. Entscheidend war dann der 15. April, nicht der 15. Mai, in Moskau, und alles Mögliche wurde da wahrscheinlich angewendet. Bei uns im Innviertel hat man gesagt, also anscheinend wurde da auch Alkohol angewendet, damit man das dann erreichen konnte.

Jedenfalls stehen wir, glaube ich, heute mit großem Respekt da, 70 Jahre nach Abschluss dieses Vertrages. Das Parlament hat den Vertrag dann am 7. und 8. Juni ratifiziert – das heißt, ohne Parlament wäre der Staatsvertrag auch nicht zur Gültigkeit gekommen –, und am 27. Juli ist er in Kraft getreten, nachdem die Besatzungsmächte dem zugestimmt haben. Dann ist die sogenannte 90-tägige Räumungsfrist gekommen, bis der letzte Soldat Österreich verlassen hat. Dann sind wir beim 25. Oktober, und tags darauf – wissen wir – ist ja zehn Jahre später dann der Nationalfeiertag verankert worden. 

Ich halte es für entscheidend, dass die Bevölkerung das weiß, denn wer die Geschichte nicht kennt, der kann die Zukunft nicht gestalten. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Damals war es im Parteienspektrum vielleicht noch ein bisschen leichter als heute. 

Die ÖVP war mit in Moskau, die SPÖ auch. Was, Herr Kucher, ist Ihre persönliche, heutige Verpflichtung, die sich aus dem Staatsvertrag speist? Fällt Ihnen da etwas Konkretes ein?

Philip Kucher (Klubvorsitzender der Sozialdemokratischen Parlamentsfraktion): Neben dem Bekenntnis zu Frieden, zu Minderheitenrechten sind mir vor allem jetzt die Worte von Heinz Fischer und Andreas Khol sehr nahegegangen. Wir kommen gerade aus den Budgetdebatten, und wenn wir uns zurückerinnern, dann merken wir, dass es vor mehr als sieben Jahrzehnten gelungen ist, über alle Parteigrenzen hinweg diese Gemeinsamkeit zu leben; das große gemeinsame Ziel, nämlich ein friedliches Zusammenleben in Österreich in Freiheit, miteinander zu bewerkstelligen. 

Ich möchte nicht so sehr Analogien bemühen, wir leben heute in einer ganz anderen Zeit, aber ich glaube, das ist es, was uns miteinander als Gesellschaft wieder stärkt und das in der Politik gelingen muss: gerade in schwierigen Zeiten gemeinsam in der Lage sein, große Herausforderungen zu lösen. Das ist für mich auch die zentrale Ableitung gewesen, die wir tagtäglich in Wahrheit auch leben müssen. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Das kommt vielleicht immer ein bisschen auf das Thema an. In der Budgetdebatte gestern hat alles ein bisschen mehr wie ein Angriff gewirkt, aber der ernsthafte Diskurs, die ernsthafte Debatte gehört natürlich auch zur Arbeit hier im Nationalrat. 

Herr Shetty, Sie sind der Jüngste in der Runde. Ich glaube, Sie sind eben erst 30 Jahre alt geworden – habe ich das richtig recherchiert? (Abg. Shetty nickt) –, also schon jünger als der Rest hier. (In Richtung Publikum:) Seien Sie mir nicht böse! (Heiterkeit. – Abg. Kucher [SPÖ]: Das hätte niemand bemerkt!) Man sieht es nicht, aber es ist einfach so. (Abg. Wöginger [ÖVP]: Sehr nett, danke!)

Herr Shetty, die Frage, die ich eigentlich stellen wollte, ist: Ist für junge Leute wie Sie der Staatsvertrag nicht doch halt einfach ein bisschen ein altes Papier, das man für selbstverständlich nimmt? Wissen Sie, was ich meine? Für junge Leute sind offene Grenzen in Europa völlig selbstverständlich, für die ist der Euro selbstverständlich, für die ist selbstverständlich, dass man im Ausland über Roaming telefonieren kann und man sich keine Gedanken darüber machen muss. So meine ich das. Ist das nicht in Ihrer – in der jüngeren – Generationen so?

Yannick Shetty (Klubobmann des NEOS-Parlamentsklubs): Ja, das war vielleicht bis vor einiger Zeit so. Ich glaube, dass die aktuellen Entwicklungen in der Welt das sehr in Erinnerung rufen, gerade für die jungen Menschen. Man sieht das in den ganzen Befragungen, in denen junge Menschen zu den Themen, die ihnen wichtig sind, befragt werden, und man sieht, dass diese Dinge, die damals so zentral, so bestimmend waren, wie Andreas Khol und Heinz Fischer das auch beschrieben haben – wie präsent das damals war in ihrer Jugend; die Befreiung vom Krieg, Frieden –, leider wieder zur Disposition stehen. Und umso mehr glaube ich schon, dass diese Werte, dass das, was im Staatsvertrag niedergeschrieben ist, heute aktueller denn je ist. Ich finde es auch ein sehr schönes Zeichen, dass heute so viele Schülerinnen und Schüler da sind. Ich habe davor die Schülerinnen und Schüler vom BRG Groß-Enzersdorf getroffen – ich glaube, es sind auch andere Schulklassen hier –, ich finde das ein ganz tolles Signal, bei dieser Veranstaltung, bei der zurückgeblickt wird, dabei zu sein, dass man sie ins Hier und Jetzt holt. 

Eine Bemerkung sei mir noch erlaubt: Ich habe sehr vielem zugestimmt, was Herr Präsident Rosenkranz in seinem Eingangsstatement gesagt hat. In einem Punkt, was die Neutralität betrifft, würde ich es durchaus ein bisschen anders sehen, weil das sinngemäß so geklungen hat, dass das etwas war, was Österreich aus freien Stücken gewählt hat. Ich glaube, wir Österreicher haben das Beste daraus gemacht. Ich glaube, die Wahrheit ist schon, dass das etwas war, was aus geopolitischen Interessen vor allem die Sowjetunion Österreich oktroyiert hat, um Österreich als Pufferzone zu gestalten. Die Neutralität ist jetzt im Verfassungsrang und es ist gut, dass die im Parlament auch nicht zur Disposition steht. Die Frage ist viel eher, finde ich auch, gerade für die jungen Menschen, für die nächste Generation, wie man das, was in der Verfassung steht – die Neutralität, aber auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik –, modern und auch für Österreich sinnvoll, für Österreichs Sicherheit sinnvoll interpretiert. Ich glaube, das ist die Frage, die wir stärker diskutieren sollten. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Wir wissen ja: Da sind die NEOS sozusagen jene Partei im österreichischen Parteienspektrum, die sich in jüngster Zeit vielleicht am progressivsten dazu geäußert hat. Die Neutralität ist – danke schön – ein gutes Stichwort.

Herr Kogler, wie ist das für Sie? Die Neutralität steht ja nicht im Staatsvertrag, sondern – Herr Wöginger hat vorhin schon erklärt, wie das dann gelaufen ist – war vielleicht ein bisschen ein Zugeständnis, eine Verhandlungsmasse. Die Neutralität hat sich ja auch verändert. Selbst die friedensbewegten Grünen – jeder weiß, wie sie entstanden sind – sind jetzt in Österreich für eine gewisse Aufrüstung. Da hat sich also doch auch ziemlich etwas am Gründungsmythos Neutralität verändert – sogar für Sie. 

Werner Kogler (Klubobmann des Grünen Parlamentsklubs): Sie vermischen jetzt ein paar Dinge, sorry. 

Tobias Pötzelsberger: Das ist eine Journalistenkrankheit, Entschuldigung. 

Werner Kogler: Die Frage der parteipolitischen Positionierung und die Entstehungsgeschichte der Grünen ist das eine, aber zunächst zur Neutralität: Ich würde es nicht so streng formulieren wie Kollege Shetty, aber sie wurde quasi als Voraussetzung konstruiert, damit es überhaupt zum Abschluss des Staatsvertrages kommt, und dort ist, finde ich, das Wichtigste natürlich der Souveränitäts- und Freiheitsgewinn, dass Österreich überhaupt so entstanden ist. Das war ja schon einmal, finde ich, die Voraussetzung für alles, nämlich diese Freiheit und Souveränität, und dass wir später auch in der Europäischen Union so teilnehmen konnten. Warum? – Weil auf dieser Basis ja erst die Entstehung einer Marktwirtschaft, in Österreich Gott sei Dank einer sozialen Marktwirtschaft, möglich gewesen ist. Und nur darauf – und im Übrigen auch alles, was Andreas Khol gesagt hat – war es möglich, eine entsprechende Wirtschafts- und Sozialordnung in Österreich zu gründen. Wer weiß, wie das sonst gelaufen wäre. Da müssen wir wirklich dankbar sein und an der Stelle auch einmal die Rolle der Parteien SPÖ und ÖVP und auch die der Sozialpartnerschaft loben. 

Zurück zu Ihrer Ursprungsfrage: Die Grünen waren keine pazifistische Partei, das ist ein großer Irrtum. 

Tobias Pötzelsberger: Ich sagte friedensbewegt.

Werner Kogler: Na ja, friedensbewegt bin ich heute auch. (Heiterkeit und Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Die Außenministerin hat, glaube ich, gerade gesagt: Das bin ich auch. 

Werner Kogler: Frieden: Die Sehnsucht nach Frieden ist nach dem persönlichen Glück wahrscheinlich das, was für das Kollektiv gilt, das Wichtigste auf der Welt, und zwar zu Recht. Allerdings: Wie organisierst du den und wie kriegst du den? Ich weiß nicht, ob wir heute noch zum Beispiel Ukraine kommen, aber: Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Stell dir vor, es ist Frieden und einer macht alles hin. – Was tust du dann? Es geht immer darum, dass man sich auch wehren und zur Wehr setzen können muss. Das, glaube ich, wird uns weiterhin beschäftigen. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Gut, dann nehme ich das gleich auf. Bleiben wir vielleicht gleich bei, na ja, Russland zumindest. Unterzeichnet haben diesen Vertrag die Alliierten, dazu gehören die USA – da traue ich mich sagen, aktuell gibt es nicht das einfachste Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten –, und ein Signatarstaat ist Russland oder der Rechtsnachfolger der Sowjetunion jedenfalls. Hier ist, soweit ich weiß, kein Vertreter Russlands eingeladen. 

Herr Nemeth: Ist es die richtige Entscheidung, dass hier niemand aus Russland sitzt? 

Norbert Nemeth: Zunächst: Ich hätte den Präsidenten Fischer und Khol noch gerne stundenlang zugehört, es gibt nichts Spannenderes, als Zeitzeugen zu belauschen. Ich bin 1969 geboren und in den Siebzigerjahren in Wien in die Volksschule gegangen. Der Staatsvertrag und die Neutralität zählen so indirekt auch zu einer meiner ältesten politischen Erinnerungen. Wir hatten im Oktober immer rot-weiß-rote Fahnen zu basteln und dann die Schule zu beschmücken, um diesen Tag der Fahne zu begehen. Und die Geschichte, die uns meine Volksschullehrerin immer dazu erzählt hat, war die Geschichte vom letzten Russen – das ist vor allem in Ostösterreich die völlig präsente Erzählung zu diesen Ereignissen –; es gab weniger detaillierte Informationen über die Neutralität oder über den Staatsvertrag. Ich würde mir wünschen, dass wenn wir 80 Jahre feiern, alle Signatarmächte wieder hier bei uns sitzen können, das setzt natürlich ein entsprechendes Benehmen voraus. 

Tobias Pötzelsberger: Aber, Herr Wöginger, ist dieses Spannungsverhältnis zu so einem Jubiläum nicht schon irgendwie schwierig? Mit zwei von vier kracht es beziehungsweise ist es schwierig. Ist das nicht schon irgendwie problematisch an so einem Tag? 

August Wöginger: Es war ja damals auch schon schwierig mit den Russen, denn die haben ja letzten Endes die Bedingung gestellt, dass wir eine Neutralität nach Schweizer Vorbild verankern. Im Übrigen haben wir auch noch 150 Millionen Dollar zu berappen gehabt. 

Tobias Pötzelsberger: Das sind aber natürlich andere Voraussetzungen, damals und heute.

August Wöginger: Na ja, das war, glaube ich, damals nicht wenig. Mit Warenlieferungen hat man sich dann darauf verständigt und somit ist sozusagen der Weg freigemacht worden, dass der Staatsvertrag dann auch unterzeichnet werden konnte. Ich glaube, in Summe gesagt – und daher danke ich auch, dass diese Veranstaltung heute hier abgehalten wird –: Die Zweite Republik wurde damit begründet. Österreich konnte seinen unabhängigen, souveränen Weg erst mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages einschlagen oder gehen. Das, glaube ich, ist das wesentliche Element, und daher ist es auch wirklich wichtig, dass die österreichische Bevölkerung das auch weiß und dass wir diese Erinnerungskultur pflegen, denn einfach war das sicherlich nicht. Ich möchte es noch einmal erwähnen: Deshalb hat es ja eigentlich drei Gesetzgebungsperioden lange gedauert, über neun Jahre. 

Präsident Fischer hat es erwähnt, so richtig in die Gänge gekommen ist man ja dann erst durch Stalins Tod. Dann ist sozusagen Bewegung in diese Sache gekommen. Die damalige österreichische Bundesregierung hat, glaube ich, wirklich alles unternommen, um zur Unterzeichnung dieses Staatsvertrages zu kommen, von dem wir, glaube ich, noch heute profitieren, denn dieses Land hat dann durch Fleiß und Leistung einen Wohlstandskurs eingeschlagen. Das muss man schon einmal sagen, wir leben in einem Land, in dem nach wie vor ein hoher Wohlstand da ist. Das haben die Österreicherinnen und Österreicher erarbeitet und aufgebaut; auf dem gilt es auch aufzusetzen. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Der Staatsvertrag hat eine gewisse Schönheit. Da blicke ich nach oben zum Bundespräsidenten, der ja auch immer wieder von der Schönheit gewisser Schriften und Werke in unserer Republik spricht. Es gibt vielleicht auch ein bissel die Dramaturgie für unser Gespräch vor, Herr Kucher. Ganz wesentlich, das darf keinesfalls untergehen und ist bisher noch nicht wirklich angeschnitten worden, ist der Schutz der Minderheiten, ein ganz wesentlicher Punkt im Staatsvertrag. Deshalb möchte ich das unbedingt besprechen. Ich glaube, auch Vertreterinnen und Vertreter von Slowenen und Kroaten sind hier im Saal. Da ist ganz lange ganz vieles im Argen gelegen, dann hat sich doch einiges gebessert, Stichwort Ortstafelstreit. Sind Sie aber der Meinung, dass beim Minderheitenschutz schon genug passiert ist, oder müssen wir da noch etwas tun?

Philip Kucher: Nein, ganz und gar nicht. Ich glaube, dass gerade die Frage des Schutzes der Minderheitenrechte zeigt, dass der Staatsvertrag eine zeitlose Aufgabe ist, die uns auch tagtäglich in der Politik beschäftigen sollte. Ich kann gerade als Kärntner sagen – wenn wir sozusagen zurückblicken – Gerade auch die Kärntner Sloweneninnen und Slowenen haben eine der dunkelsten Epochen erleben müssen, mit Zwangsaussiedelungen, mit Tötungen, mit einer mehr als bewegten Geschichte, mit einem Ortstafelsturm in Kärnten. Es wurde verhindert, dass diese Minderheitenrechte mit Leben erfüllt werden konnten, dank politischer Verzögerung und Verhinderung. Das zeigt auch, dass noch viel, viel an Arbeit vor uns liegt, und dass wir die Minderheitenrechte Tag für Tag leben müssen. 

Die Qualität einer Demokratie zeigt sich vor allem darin, wie wir mit Minderheiten umgehen, weniger, wie wir mit Mehrheiten umgehen. Das ist die gemeinsame Aufgabe, vor der wir alle tagtäglich stehen. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Aus dem Kreis der Kärntner Slowenen vor allem – Herr Shetty, ich schaue Sie an, weil Sie, die NEOS, den Bildungsminister stellen – kommt aber sehr wohl immer wieder die Forderung nach mehr zweisprachigem Unterricht. Was werden Sie denn dem Bildungsminister nach dieser Veranstaltung ausrichten? Oder wissen Sie vielleicht, ob er willens ist, das zu fördern und zu stärken?

Yannick Shetty: Ja, da bin ich mir sicher, weil wir als NEOS ja immer gesagt haben, dass Zweisprachigkeit ein Wert ist. Es gibt doch nichts Tolleres, als wenn ein Kind mit zwei Sprachen aufwächst, das ist so ein Schatz. Außerdem gebietet es ja nicht nur der Staatsvertrag, sondern generell die Grundnormen unserer Gesellschaft, dass wir das fördern und dass wir das schätzen. 

Das gilt im Übrigen nicht nur für Kärntner Slowenen, sondern das gilt in allen Fällen. Wir wissen aus der Sprachwissenschaft, dass es natürlich ein Wert ist, dass, wenn man als Kind nicht Deutsch als Muttersprache hat – und wir das Ziel haben, dass alle Kinder in Österreich gescheit Deutsch lernen –, man zuerst bei der Muttersprache ansetzen muss, um das Ziel zu erreichen, dass Deutsch gut beherrscht wird. Also da bin ich mir sicher, dass der Bildungsminister nicht nur offen dafür ist, sondern das auch vorantreiben wird.

Tobias Pötzelsberger: Die Herren da hinten nicken, das ist jetzt im Archiv. Also ich würde es mir vielleicht aufheben, wenn Sie so wollen. – Danke sehr. (Beifall.)

Wir gedenken in diesen Zeiten auch 80 Jahre Kriegsende, und im Staatsvertrag ist ganz klar das Verbot des Nationalsozialismus geregelt. Auch hierzu die Frage: Wie wichtig ist das bis heute, Herr Nemeth?

Norbert Nemeth: Die FPÖ hat diese völkerrechtliche Verpflichtung und ihre innerstaatliche Umsetzung so gut wie immer unterstützt. Das ist natürlich von zentralster Bedeutung. Dieser Satz, „Österreich ist frei!“, ist gerade für eine Partei, die kurz danach gegründet wurde und sich Freiheitliche Partei Österreichs nennt, von hoher symbolischer Bedeutung, und jedem ist klar, worum es dabei gehen muss. Es geht um die individuelle persönliche Freiheit, aber es geht auch um die kollektive Freiheit der Souveränität unserer Republik Österreich, und gerade die hat in der Programmatik der Freiheitlichen Partei einen zentralen Stellenwert.

Tobias Pötzelsberger: Ein Stück der Souveränität haben wir aber durch den Beitritt zur Europäischen Union abgegeben. Ich glaube, Ihre Partei ist dabei am strengsten, wenn es darum geht, dem Grenzen zu ziehen, oder?

Norbert Nemeth: Ja, wir sehen mit Sorge, dass Souveränitätsrechte peu à peu abgegeben werden, nicht nur an die Europäische Union, wir haben uns auch entschieden, den Schilling aufzugeben, wir sind Mitglied des Europarates, der mit seinem Gerichtshof eine Völkerwanderung nach sich zieht, die so in Österreich nie jemand beschlossen hat. Wir sehen mit Sorge, dass die WHO eine Gesundheitspolitik macht, die demnächst sehr stark in unsere Kompetenzen eingreifen wird. Also das ist richtig, dieser schleichende Abfluss – der multipel ist – von Kompetenzen, weg von Österreich, hin zu internationalen und supranationalen Organisationen, ist etwas, das in unserer Programmatik sehr kritisch gesehen wird. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Da kommt viel Applaus, glaube ich, aus den Reihen der Freiheitlichen. Herr Kogler, Sie sehen das, glaube ich, ganz anders, oder? Kann das sein?

Werner Kogler: Na ja, es geht ja vom Anlass her um Souveränität – das war jetzt auch der Begriff – und Freiheit, und man muss das jetzt, glaube ich, nicht nur rein rechtlich, juristisch fassen, sondern auch materiell.

Es hat nun mal die Globalisierung gegeben, vielleicht sogar vor allem ökonomisch, vielleicht sogar mehr als mir lieb ist. Okay! Wenn dem aber so ist, dann ist die Frage, wie die Bürgerinnen und Bürger in Österreich in Fragen der Finanzwirtschaft – also zum Beispiel in Fragen von Währungskrisen oder Ähnliches – mehr Souveränität gewinnen. Wir haben ja im Zuge dieser wirtschaftlichen Verflechtungen alles gehabt. Da, glaube ich, ist es in Wahrheit ein Souveränitätsgewinn für die Bürgerinnen und Bürger in Österreich, wenn wir uns größer organisieren, zum Beispiel in der Europäischen Union. Ich hoffe, das war jetzt gerade nicht infrage gestellt, die Mitgliedsschaft zum Euro offensichtlich schon, aber das sind halt Unterschiede, die kann man in der Demokratie ja auch austragen. Ich habe den Freiheitlichen ja immer empfohlen, sie sollten eine Volksabstimmung zum EU-Austritt oder zum Austritt aus der Währungsunion organisieren . – Sei es drum. 

Ich bin, wie Sie angedeutet haben, gegenteiliger Meinung. Warum? – Weil ich tatsächlich glaube, dass wir mehr Souveränität haben. Nehmen wir die Währungskrise oder die Finanzkrisen, weil wir jetzt eh so viel von Krisen reden, her: Was wäre denn damals gewesen? Selbst Österreich, obwohl im Verhältnis gut dastehend, hätte, wenn es in der Finanzkrise alleine gestanden wäre, Opfer dieser Spekulationsattacken werden können. Dadurch, dass wir Mitglied der Europäischen Währungsunion waren, war es eben nicht so. Das ist alles sehr schwierig zu erklären. 

Die FPÖ hat ja den Vorteil, dass ihre Positionen aufs Erste hinschauen quasi immer eindringlich klingen, aber aufs Zweite analysieren stimmen sie natürlich nicht. Es ist, glaube ich, die Aufgabe, diese Auseinandersetzung zu führen und im Interesse der Bürgerinnen und Bürger auch zu gewinnen, denn es geht darum, dass wir Souveränität teilen. Das ist richtig, aber ich teile sie lieber in einer Gemeinschaft in Europa als in der Rückverzwergung von Österreich. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Das ist das Schöne, dass dieses Haus ein Ort des Diskurses und der verschiedenen Meinungen ist, die ja gerne aufeinanderprallen dürfen. Es passiert ja gar nicht so oft, dass sich Spitzenvertreter aller Parteien hier treffen und der Diskussion stellen.

Ich muss ein bisschen auf die Zeit schauen und möchte es noch einmal herunterbrechen: Hier ist die halbe Republik oder vielleicht sogar die ganze Republik versammelt, das sind die Spitzenvertreterinnen und Spitzenvertreter. Gleichzeitig beobachten und wissen wir aus vielen verschiedenen Umfragen, aus vielen verschiedenen Studien, dass die Politik zum Teil ein bisschen den Kontakt zur Bevölkerung verliert und verloren hat und dass sich das weiterentwickelt hat.

Herr Shetty, zum Beispiel: Was machen Sie, außer – ich weiß nicht, wie man es so nennt – das in Sonntagsreden zu betonen? Was machen Sie ganz konkret, damit diese Verbindung zwischen den normalen Menschen und der Politik nicht noch weiter auseinander geht und noch viel loser wird?

Yannick Shetty: Also erstens einmal halte ich nichts von der Unterscheidung zwischen normalen Menschen und Politikern. Wir sind auch normale Menschen. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Sie wissen schon, wie ich es meine.

Yannick Shetty: Ich weiß schon, wie Sie es meinen, und wir in der Politik bemühen uns ja auch immer wieder, aber ich glaube, das ist genau Teil des Problems, dass wir das als entkoppelte Welten sehen: Medien, Politiker und die Menschen da draußen. Ich glaube, es wäre unser Auftrag, wieder mehr draußen zu sein. Ich finde es zum Beispiel ganz großartig, dass sich das Parlament nach der Neueröffnung sehr geöffnet hat, dass wir einen Besucherrekord haben, dass ganz viele Schulklassen ins Parlament kommen, dass die Demokratiewerkstatt des Parlaments eine ausgezeichnete Arbeit leistet. 

Ich mache das für mich, und ich weiß, ganz viele Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete auch: dass sie sich einfach verstärkt auch in ihrem Alltag Formaten widmen, um im Austausch zu sein mit – in meinem Fall insbesondere – Schülerinnen und Schülern. Ich mache extrem viele Parlamentsführungen und komme dadurch in den Austausch mit jenen Menschen, die vielleicht nicht so nah an der Politik dran sind, die aber von Politik genauso betroffen sind. Ich glaube, gerade in Zeiten, in denen wir immer stärkere Polarisierung erleben, wo immer mehr Menschen Nachrichten nur mehr aus ganz spezifischen Quellen beziehen, sollten wir auch ein Interesse daran haben, diesen Diskurs wieder stärker zu leben.

Abschließend möchte ich auch noch etwas sagen, was ein Wunsch von mir an uns alle wäre – egal, ob ganz rechts oder ganz links stehend oder in der Mitte –: dass wir das Parlament als Ort des Diskurses hochleben lassen; dass es ein Wert ist, dass wir einen Ort haben, wo wir zivilisiert auch einmal – manchmal vielleicht unter der Gürtellinie – streiten. Es ist ein Wert, dass wir einen Ort dafür ausgewählt haben und den Streit nicht auf der Straße und mit Gewalt austragen. Das nicht immer als negativ zu framen und darzustellen, dass da so viel gestritten wird: Das würde ich mir wünschen, denn das ist etwas Gutes und etwas, das es wert ist, zu unterstreichen. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Aber ganz ehrlich, Herr Wöginger, wie oft streiten Sie mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Parteien und wie oft sagen Sie öffentlich: Der ist eh okay, der ist eh leiwand?

August Wöginger: Also gerade in den letzten Wochen und Monaten haben wir natürlich auch trefflich intensiv diskutiert, aber wir sind gut zusammengekommen und das, glaube ich, ist das Wesentliche. Wenn Gruppen da sind, im Parlament, dann sagen sie: Um Gottes willen, wie geht es denn da bei euch zu?, wenn ich den Fernseher aufdrehe, ist das ja manchmal ganz fürchterlich! – Ich sage aber dazu: Wir feiern hier nicht die heilige Messe. Die feiern wir am Sonntag in der Kirche. Wir feiern hier nicht die heilige Messe. Das ist der Austragungsort der politischen Ideen und der besten Idee soll zum Durchbruch verholfen werden. Ich bin schon auch stolz darauf, dass es diesen Diskurs gibt. Wir haben bis dato Handgreiflichkeiten vermeiden können (Heiterkeit), was ja in vielen anderen Parlamenten der Welt nicht möglich war. Unser Präsidium des Nationalrates sorgt großteils dafür, dass das auch – –

Tobias Pötzelsberger: Großteils nur?

August Wöginger: Ja, mein Gott na! Wir sind Menschen aus Fleisch und Blut, wir haben Emotionen, wir haben Gefühle. Wir sind keine Roboter, wir sind keine Maschinen. Wir sind Menschen, wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger auch. Und ja, wir haben Emotionen und die wollen wir auch zum Ausdruck bringen – geordnet, gesittet, aber ja, wir bringen sie mit einer Emotion vor und das muss man einem Politiker auch zugestehen. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Vielleicht noch ganz kurze Abschlussworte – die Regie sagt mir, dass es schon langsam Zeit ist. Herr Kogler, „Österreich ist frei!“, diesen Satz haben Sie heute ganz oft gehört, den haben Sie in der Vergangenheit schon ganz oft gehört. Löst er noch etwas aus bei Ihnen, so innen drinnen? Was denken Sie sich?

Werner Kogler: Ja, natürlich. Es löst sehr viel aus, aber es ist auch ein Auftrag – weil ja auch die Gedenkfragen angesprochen wurden: Es ist, mehr noch, ein Auftrag für jetzt und die Zukunft, diese Freiheiten, die hier angesprochen wurden, auch zu verteidigen. Ich sehe es wie die Frau Außenministerin: Österreich und Europa werden angegriffen, auch von innen. Das ist so. Hören Sie sich an, was der neu inaugurierte Bundeskanzler Merz in Deutschland sagt, die wenden sich diesem Thema ganz massiv zu. Wir wissen es im Übrigen von unseren Diensten: Auch Österreich ist Ziel dieser Angriffe – von Russland nämlich – und da müssen wir uns wehren. Das ist, glaube ich, das, was uns jetzt zu beschäftigen hat. Es ist die Freiheit, eines der höchsten Güter – die Souveränität –, aber wir müssen auch verdammt viel dazu tun und am besten noch in der Europäischen Gemeinschaft. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Herr Kucher, Herr Nemeth, darf ich an Sie beide noch eine letzte Frage stellen: Wie hält man diese Erinnerung – ich sage es noch einmal, es ist 70 Jahre her, viele von uns haben es eben nicht in persönlicher Erinnerung – Ihrer Meinung nach frisch? Was müssen wir dafür tun? Herr Kucher.

Philip Kucher: Mit jedem Menschen, der von uns geht, verlassen uns auch ganz persönliche Erinnerungen. Gemeinsam diese Erinnerungen zu bewahren, das ist, glaube ich, auch die zentrale Aufgabe, die wir alle für die Zukunft haben. Das darf nicht irgendwie so etwas sein wie ein Museumsstück, das man einmal im Jahr aus der Vitrine herausholt, sondern da müssen wir, glaube ich, auch unsere Geschichte in die Zukunft transportieren. Da gibt es ganz, ganz unterschiedliche Formate. Was wir heute hier machen – gemeinsam zusammensitzen, Demokratie spüren, erleben und darüber diskutieren, auch streiten –, das ist es, glaube ich, was so zentral ist und was wir auch brauchen. Zu versuchen, gemeinsam die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und miteinander in diesen schwierigen Zeiten, die wir angesprochen haben, auch im Geist der Gemeinsamkeit schauen, wie wir dieses wunderbare Land Österreich auch für die Zukunft gestalten wollen.

Tobias Pötzelsberger: Herr Nemeth, was ist Ihr Beitrag zum Erinnern?

Norbert Nemeth: Mich persönlich hat der Kontakt mit Zeitzeugen am stärksten und am nachhaltigsten geprägt. Abschließender Satz, zurück zum Vertragstext: Der zentrale Begriff ist jener der Souveränität. In der Souveränität steckt der Souverän drin und der ist nach Artikel 1 B-VG das österreichische Volk – und sich dem zu widmen, das ist für uns nicht Verzwergung, sondern Demokratie. (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Sagt Norbert Nemeth, der stellvertretende Klubobmann der FPÖ.

Danke, Herr Nemeth. Danke, Herr Shetty, Herr Kucher, Herr Wöginger, Herr Kogler – danke für Ihre Zeit. Bleiben Sie noch ganz kurz sitzen, wir haben jetzt wieder die Gelegenheit, ein wenig Musik aus der Wiener-Walzer-Familie zu hören, diesmal aber von einem anderen. Wir feiern ja gerade 200 Jahre Strauss – und in zwei Jahren ist dann eigentlich schon wieder zu feiern, weil, wenn ich es recht im Kopf habe, Josef Strauss 1827 geboren wurde. Da wird es dann also auch wieder viel Musik geben. Hier sind noch einmal die Wiener Sängerknaben. – Danke schön. (Beifall.)


(Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „For Ever“ von Josef Strauss, dargebracht von den Wiener Sängerknaben. – Beifall.)


Tobias Pötzelsberger: Aus der Polka „For Ever“ von Josef Strauss – herrliche Musik, danke schön.

Susanne Höggerl: Ja, und das noch dazu vor dieser Kulisse, in diesem wunderschönen Saal, in dem wir heute sind und den man ja eigentlich – wir zumindest von draußen – relativ selten sieht. Die Zuseherinnen und Zuseher kennen ja wahrscheinlich eher den Nationalratssitzungssaal. Heute aber sind wir hier; es ist der einzige Saal, in dem beide Kammern Platz haben.

Tobias Pötzelsberger: Genau, der Bundesversammlungssaal, den ist man eigentlich gar nicht so gewohnt, wenn man eben vor allem nur von draußen zuschaut. Bei Festakten sind wir ihn gewohnt, bei ganz wichtigen politischen Anlässen sind wir ihn gewohnt – und vor allem ist es ja auch der einzige Platz, an dem Nationalrat und Bundesrat gemeinsam zusammenfinden.

Susanne Höggerl: Gemeinsam, darüber haben wir heute schon öfter gesprochen: gemeinsam verhandeln, Kompromisse finden. Wir wollen jetzt noch die Abschlussworte aus der zweiten Kammer des Parlaments hören. Wir bitten die aktuelle Präsidentin des Bundesrates zu uns auf die Bühne, Andrea Eder-Gitschthaler. – Bitte schön. (Beifall.)

Abschlussworte

Andrea Eder-Gitschthaler: Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Hohe Festversammlung! Liebe Schülerinnen und Schüler! „Glaubt an dieses Österreich!“ – Auch mit diesen Worten wandte sich Leopold Figl an die Menschen dieses Landes. Dieser Glaube an Österreich, an seine Menschen, an seine Kraft, an seine Zukunft war das Fundament für alles, was seither entstanden ist.

Wenn wir auf das Jahr 1955 zurückblicken – wir haben es heute sehr ausgiebig getan –, sehen wir nicht nur ein wichtiges historisches Ereignis. Wir sehen einen mutigen Neubeginn, ein Österreich, das wieder atmen konnte, nach Jahren der Fremdherrschaft, des Leids, des Schweigens, und wir sehen Menschen, Staatsmänner, Diplomaten und viele Frauen – ja, die Frauen sind mir heute noch zu kurz gekommen, ich möchte bewusst betonen, was diese Frauen in der Nachkriegszeit geleistet haben. (Beifall.) Diese Männer und Frauen sind nicht im Rampenlicht gestanden, aber sie haben unbeirrt an einem friedlichen Österreich gearbeitet, Schritt für Schritt.

Der Staatsvertrag – wir haben heute schon sehr viel gehört, sehr geehrte Damen und Herren – ist für mich nicht nur ein politisches Dokument, er ist auch ein stiller Handschlag zwischen den Generationen. Die Generation des Krieges gab der Generation des Friedens ein Versprechen und eine Aufgabe: Bewahrt, was wir errungen haben, und macht es besser, klüger, gerechter, menschlicher! Heute, 70 Jahre später, spüren wir aktuell diesen Auftrag, denn es sind nicht nur die Verfassungen, die unser Land tragen, es sind wir, sehr geehrte Damen und Herren, es ist das tägliche Miteinander von Jung und Alt, das unsere Republik Österreich lebendig macht.

Unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger haben den Sozialstaat mitaufgebaut, der uns heute trägt, und sie haben erlebt, was Freiheit bedeutet, weil sie wussten, wie sich Unfreiheit anfühlt. Die Herren Khol und Fischer haben uns das heute schon sehr eindringlich vor Augen geführt. Und dann ist da diese junge Generation: klug, fordernd, ungeduldig, ja, manchmal auch ein bisschen anstrengend – und das ist gut so, ja, denn sie stellt neue Fragen und beschreitet neue Wege. Sie erinnert uns daran, dass sich Demokratie weiterentwickeln muss, wenn sie lebendig bleiben will, dass sie nicht von gestern lebt, sondern von morgen träumt.

Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf: ein oft zitierter Satz, und doch aktueller denn je – denn Demokratie ist nichts, das einfach da ist. Sie braucht Aufmerksamkeit. Sie braucht Engagement und ja, manchmal auch gute Nerven.

Der Staatsvertrag war die Geburtsstunde der Zweiten Republik in voller Souveränität, doch das Entscheidende kam danach: Der Aufbau des politischen Miteinanders, einer demokratischen Kultur, einer Struktur, die auf Zusammenarbeit setzt. Ein wesentlicher Bestandteil davon ist unsere föderale Verfassung. Sie ist kein verstaubtes Regelwerk; sie ist lebendige Architektur. In ihr spiegeln sich die Stimmen, Eigenheiten, Perspektiven unserer neun Bundesländer. 

Ich als Bundesrätin bin natürlich überzeugte Föderalistin, und genau da kommt dem Bundesrat eine besondere Rolle zu: als Forum der Verständigung, als Brücke zwischen den Regionen und dem Bund, zwischen Interessen und Lösungen. Der Bundesrat steht für föderale Mitgestaltung, aber auch für gelebte demokratische Kultur, für das Zuhören, für das Vermitteln, für Verantwortung über Ländergrenzen hinweg. 

Gerade in Zeiten wie diesen, sehr geehrte Damen und Herren – mit globalen Krisen, mit Unsicherheiten, mit lauter werdenden Rändern –, brauchen wir mehr denn je diesen Geist wieder: den Mut zum Kompromiss, die Geduld im Dialog und den Willen zur gemeinsamen Verantwortung. Österreich lebt, wenn wir uns alle einbringen, wenn wir zuhören, auch dann, wenn es unbequem ist, wenn wir gemeinsam streiten, aber dann gemeinsame Lösungen finden. Wenn wir wach bleiben, für unsere Werte, für unsere Freiheit, für ein Miteinander, das seinen Namen verdient.

Leopold Figl hat vor 70 Jahren mit Tränen in den Augen gesagt – wir haben es heute schon mehrmals gehört, aber ich möchte es noch einmal sagen –: „Österreich ist frei!“ Heute können wir mit Zuversicht sagen: Österreich ist stark, weil hier Menschen leben, die sich kümmern, die gestalten, die sich einbringen – im Parlament, in den Ländern, in den Gemeinden, in der Zivilgesellschaft. Dieses Engagement ist das Fundament unserer Republik. Arbeiten wir gemeinsam an unserem Österreich. Es lebe die Republik Österreich! (Beifall.)

Tobias Pötzelsberger: Meine Damen und Herren! Damit sind wir am Ende dieses Festaktes zum Jubiläum 70 Jahre Staatsvertrag.

Susanne Höggerl: Wir hoffen, Sie haben es ebenso feierlich, unterhaltsam – war es auch zwischendurch, kann man durchaus sagen (Tobias Pötzelsberger: Ich finde schon!) –, und auch informativ empfunden, wie wir es hier zumindest empfunden haben. Wir freuen uns, dass wir Sie heute durch diese Veranstaltung begleiten durften.

Tobias Pötzelsberger: Denken Sie immer daran, wie wertvoll Frieden, Freiheit und Menschlichkeit sind. Ohne das ist alles nichts.

Susanne Höggerl: Ja, und beim Fernsehpublikum möchten wir uns auch bedanken, dass Sie mit dabei waren; für Ihr Interesse möchten wir uns bedanken, natürlich auch bei Ihnen hier im Saal. Jetzt hören wir noch einmal die Wiener Sängerknaben und beschließen die Veranstaltung eigentlich bestmöglich, nämlich mit der Bundeshymne und der Europahymne. Noch einen schönen Tag, einen schönen Nachmittag! – Danke sehr.

Tobias Pötzelsberger: Auf Wiedersehen! (Beifall.)


(Es folgen die musikalische Darbietung der Österreichischen Bundeshymne und der Europahymne, dargebracht von den Wiener Sängerknaben. – Beifall.)


Schluss der Veranstaltung: 12.52 Uhr