Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 17. Sitzung / Seite 70

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Meine Damen und Herren! Mein zweiter Vorwurf bezieht sich darauf, daß Sie den Stufenbau der Rechtsordnung verletzen. Ich halte es wirklich für eine Zumutung, daß der Klubobmann der Sozialdemokratischen Partei, Kollege Kostelka, heute in seinem Beitrag gesagt hat, die Aufregung um die Zweidrittelmehrheit verstehe er überhaupt nicht, denn letzten Endes wären wir Parlamentarier der Verfassungsgeber und es handle sich – man muß sich das vergegenwärtigen, er hat das wirklich so gesagt! – bei all diesen Punkten, die Sie hier mit Ihrer Zweidrittelmehrheit beschließen, um eine Weiterentwicklung unserer Verfassung. In dieser langen Liste der Strukturanpassungsgesetze mit den vielen Zweidrittelmaterien ist nicht ein Punkt, den man wirklich als Weiterentwicklung unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung auffassen könnte. Im Gegenteil: Es sind alles Dinge, wo die politische Ursache natürlich anderswo liegt!

Woran liegt es? – Es geht schlicht und einfach darum, daß mit Zweidrittelmehrheiten, die auch international gesehen eine Ausnahmesituation sind – das gibt es fast nirgends –, nichts anderes verfolgt wird, als die Möglichkeit, daß sich die beiden Regierungsparteien wechselseitig ein Veto einräumen. Damit soll verhindert werden, daß womöglich bei einer der beiden – auch sozialpartnerschaftlich getragenen – Fraktionen dieses Hauses eine andere Mehrheit aufkommt. Das ist der historische Grund, warum die Schulgesetze mit Zweidrittelmehrheit belegt wurden und warum es in unserem Verfassungsrecht an die 800 Verfassungsbestimmungen gibt, von denen es nur bei einem Bruchteil gerechtfertigt wäre, tatsächlich in einer Verfassung zu stehen. Das ist die Realität!

Deshalb sage ich, es ist reine Willkür, daß mit Zweidrittelmehrheit einfach gesetzliche Materien in den Verfassungsrang erhoben werden, um dieses Vetorecht zu haben. Es ist keine Rede mehr vom Einhalten des Grundsatzes unserer Verfassung, der Rangordnung unserer Rechtsquellen.

Daran schließt sich gleich der nächste Vorwurf, das ist der Rechtsgrundsatz. Rückwirkende Gesetze werden in allen Rechtsordnungen als eine Sünde betrachtet, und Sie begehen sie.

Aber Sie begehen noch eine weitere Sünde, und das ist der letzte Vorwurf, den ich Ihnen mache. Sie verfolgen mit Ihrer Zweidrittelmehrheit das klare Ziel, den Bürgern den Weg zum Verfassungsgerichtshof abzuschneiden. Das steht im Zentrum des Skandals! Die Praxis ist alt, das ist nicht neu, wie heute ein Redner gesagt hat. Es ist sogar schon der Fall gewesen, daß diese Koalition aufgrund eines Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes, worin dieser etwas als verfassungswidrig erkannt hat, sich eilenden Fußes bemüht hat, durch einen Zweidrittelmehrheitsbeschluß den Verfassungsgerichtshof zu korrigieren, ja sogar auszuschalten. Das ist an sich noch ärger! Aber für mich steht im Mittelpunkt der Skandal, die Verfassungskontrolle des Verfassungsgerichtshofes mit parlamentarischer Mehrheit auszuschließen. Das ist ein ganz klarer Mißbrauch des Verfassungsrechtes – auf Kosten des Rechtsschutzes, auf Kosten unseres Rechtsstaatsprinzips, auf Kosten des Grundrechtes der Bürger, einen Zugang zum Recht zu haben, und zwar bis zum Verfassungsgerichtshof! Das ist das einzige Motiv bei vielen Zweidrittelmehrheitsbeschlüssen, die Sie fassen: dem Rechtsstaat tatsächlich einen Schlag zu versetzen. Und das bezeichnet der Kollege Kostelka als Weiterentwicklung unserer Verfassung! Das ist blanker Hohn!

Ich sage abschließend mit allem Ernst: Diese große Koalition, die sich als neu bezeichnet, ist eine Gefahr für unsere Verfassungskultur; sie betreibt die Aushöhlung unserer parlamentarischen Demokratie und den Abbau unserer Grundrechte. Diese Gefahr steht als Realität im Raum.

Das würde ich dem Herrn Bundeskanzler antworten auf seinen Dank, den er zwar nicht an die Opposition, aber an die Regierungsparteien gerichtet hat. Aber an Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, möchte ich appellieren, Sie möchte ich aufmerksam machen: All diese Zustände sind nur deshalb möglich, weil Sie zustimmen. Uns bleibt daher nur der Appell an die Öffentlichkeit, an den Bürger dieses Landes, diesem schleichenden Verfassungsverfall nicht die Zustimmung zu geben, sondern Ablehnung entgegenzustellen. Wir werden alles tun, um diese Verfassungsentwicklung durch die große Koalition zu behindern, sie


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