Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 57. Sitzung / Seite 172

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ich schreien soll. Aber ich habe es nicht getan, denn sonst glauben alle Menschen, daß ich, nur weil ich behindert bin, auch verrückt bin!

Auch in einem anderen Bereich ist die Diskriminierung noch immer österreichische Realität. Ich erwähne in diesem Zusammenhang den Begriff "unwertes Leben". Ich meine damit behinderte Frauen, die sich entschließen, ein Kind zu bekommen. Ich erzähle dazu von einem Erlebnis aus einem Warteraum eines Gynäkologen. Eine blinde Frau hat im Warteraum der Ordination gewartet, daß sie untersucht wird. Als der Arzt die Tür aufmacht und die schwangere blinde Frau sitzen sieht, fragt er: Haben Sie schon eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen? – Die junge Frau war völlig überfordert, als sie in der Öffentlichkeit so angesprochen wurde. Sie hat in ihrer Verlegenheit sofort gesagt: Ja, natürlich habe ich diese Untersuchung gemacht!, obwohl diese nicht vorgenommen worden war. Der Arzt hat darauf geantwortet: Dann ist es ja gut, denn sonst hätten wir etwas unternehmen müssen. – Der jungen Frau war klar, daß das bedeutet hat, daß sie, wenn sie die Fruchtwasseruntersuchung nicht gemacht hätte, ihr Kind wahrscheinlich abtreiben lassen hätte müssen.

Auch in der Rechtsprechung zeigt sich die Diskriminierung behinderter Menschen auf vielfältigste Weise. So ist zum Beispiel im Richtergesetz im § 2 festgeschrieben, daß blinde Menschen körperlich nicht geeignet sind, das Richteramt auszuüben. In einem anderen Gesetz steht zum Beispiel, daß blinde Menschen nicht Trauzeuge sein dürfen, weil sie am Geschehen der Trauung nicht teilnehmen können. (Abg. Dr. Feurstein: Kennen Sie Dr. Aigner?) Ja. – Die Begründung dafür ist, daß ein blinder Mensch nicht mitbekommt, was sich abspielt, und deshalb darf er auch nicht Trauzeuge sein. Gott sei Dank dürfen blinde Menschen heiraten!

Blinde Menschen dürfen auch niemals eine letztwillige Verfügung unterzeichnen, auch dann nicht, wenn sie mündlich mitgeteilt wurde. Man geht davon aus, daß blinde Menschen sich nicht merken können, wenn zum Beispiel ein alter Mensch gesagt hat, wem er was vererben möchte. Deshalb sind blinde Menschen davon ausgeschlossen und dürfen praktisch kein Testament als Zeuge unterschreiben.

Bei Blinden besteht eine Behinderung von bis zu 200 Prozent. – Es ist unerklärlich, wie es das gibt, daß man 200 Prozent Behinderung hat, aber Blinde werden so klassifiziert.

Ich könnte Ihnen noch eine ganze Fülle von Vorkommnissen aufzeigen und Briefe vorlesen, durch die belegt wird, daß es in Österreich flächendeckend Diskriminierung an behinderten Menschen gibt.

Ich bin jedoch zuversichtlich und hoffe, daß es diesem Parlament gelingt, endlich ein Behindertengleichstellungsgesetz zu schaffen und im ersten Schritt eine Verfassungsbestimmung in die Bundesverfassung aufzunehmen, durch die die Diskriminierung behinderter Menschen verboten wird. Denn nur eine Verfassungsbestimmung kann für uns behinderte Menschen eine wesentliche gesetzliche Säule dafür sein, daß wir endlich akzeptiert werden und daß endlich der Stellenwert der Diskriminierung erkannt wird. Wir wissen, daß diese Verfassungsbestimmung die Diskriminierung in Österreich nicht abschaffen wird. Aber wir wissen, daß eine Verfassungsbestimmung ein wesentliches Signal in die Richtung ist, daß Diskriminierung in Zukunft verhindert wird.

In Deutschland gibt es diese Verfassungsbestimmung bereits, und die deutschen behinderten Freundinnen und Freunde haben mir erzählt, daß es für sie auch persönlich einen riesengroßen Fortschritt bedeutet, daß es diese Verfassungsbestimmung gibt. Denn damit werden auch ihre Persönlichkeit und das Bewußtsein gestärkt, nicht mehr Menschen zweiter Klasse zu sein, sondern wirklich als Teil der Gesellschaft wahrgenommen zu werden und festgeschrieben zu sein.

Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, alles daranzusetzen, daß wir es gemeinsam schaffen, vielleicht noch im ersten Halbjahr, also noch vor der Sommerpause, einen Passus zu finden, der ab 1. Juli 1997 die Nichtdiskriminierung behinderter Menschen in unserer Bundesverfassung festschreibt. – Danke schön. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

21.50


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