Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 154. Sitzung / 87

Nordwestbahnhof das Programm vorgegeben: Es ging darum, die Juden aus dem Gebiet der Kultur und der Wirtschaft zu vertreiben – aus Wien und aus Österreich. Dieses Programm wurde sofort umgesetzt, und es begann eine Welle von Grausamkeit und Gier. Für uns ist es heute sehr schwierig, diese Welle begreiflich zu machen, auch nur zu beschreiben.

Ich habe mir lange überlegt, wie das in angemessener Weise geschehen könnte. Ich möchte es mit ganz konkreten Beispielen aus den Gebieten der Kultur, der vertriebenen Kultur, versuchen, ging es doch vor allem um Publikumslieblinge, um sehr populäre Künstler wie zum Beispiel Emmerich Kálmán, Komponist bekannter Operetten wie "Gräfin Mariza" oder "Die Csárdásfürstin".

Kálmán kehrte im März 1938 von einem Besuch aus Budapest nach Wien zurück und fand sein Haus von SA-Leuten besetzt. Ihr Anführer war ein mit ihm, wie Kálmán glaubte, befreundeter Rechtsanwalt. Das Haus wurde gerade ausgeräumt. Bilder, Teppiche und Möbel wurden unter den Hausangestellten aufgeteilt, und als Kálmáns Ehefrau bemerkte, daß sie die Hausangestellten entlassen werde, wurde ihr geantwortet: Juden können uns nicht entlassen! – Es ist dazu zu sagen, daß Emmerich Kálmán sein Eigentum nie wieder zurückbekommen hat.

Diese Dinge waren nicht unbekannt. Georg Kreisler hat es in seinem sarkastischen, trockenen Ausspruch im New Yorker Exil so ausgedrückt: Für die Wiener war es gar nicht so interessant, ein Teil Deutschlands zu werden. Was sie interessiert hat, war: Sie wollten die Wohnung vom Herrn Kohn haben.

Aber auch in dieser Zeit gab es Anständige und Unanständige, auch unter den Künstlern. Zwei Beispiele aus meinem Wahlkreis, aus der Josefstadt: Meine langjährige Nachbarin, Witwe des k. u. k. und späteren Burgschauspielers Hans Höbling – damals sehr bekannt –, erzählte mir bei meinem ersten Besuch in ihrer Wohnung:

"Wir leben" – er war damals schon gestorben – "noch immer in der Junggesellenwohnung meines Mannes. Es wurden ihm in der Zeit, als man seine Abstammung vom Affen nachweisen mußte, viele Wohnungen angeboten, aber mein Mann sagte, ein anständiger Mensch mache so etwas nicht."

Das zweite Beispiel: Vielleicht haben sich Kenner der Literatur schon oft gewundert, wieso Heimito von Doderer, der nach den Biographien in der Währinger Straße bei der Spitalgasse wohnte, ein Stammbeisel in der Lenaugasse hatte. Manche von Ihnen wohnen ja in dieser Gegend Lenaugasse/Josefstädter Straße. Die Hintergrundgeschichte ist folgende: In der Buchfeldgasse 6 wohnte ein Malerin, Trude Wähner – sie mußte emigrieren, wurde vertrieben. Heimito von Doderer und Albert Paris Gütersloh haben diese Wohnung bezogen, gleich ums Eck befand sich ihr späteres Stammbeisel. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 mußte Trude Wähner lange Jahre prozessieren, um diese Wohnung überhaupt wieder zurückzubekommen. – Auch darum geht es.

Ich will nicht unerwähnt lassen, daß es natürlich auch Menschen gab wie den populären Textdichter vieler Hermann-Leopoldi-Lieder, Theodor Waldau, die sich nicht vorstellen konnten – Zitat –, "daß einem unbescholtenen Menschen etwas geschehen könne". Dieses Argument hören wir ja auch heute wieder sehr oft. Waldau wurde im KZ Buchenwald vernichtet.

Übrigens wurde auch das Eigentum von Robert Stolz, der als Regimegegner emigrierte, beschlagnahmt.

Vielleicht ein ganz absurdes Detail am Rande: Bei der Vertreibung und Vernichtung der Kultur kamen die Nationalsozialisten sehr schnell an eine Grenze, und so eine Grenze waren die Walzer der Strauß-Dynastie, die sie ja selbst als Filmmusik verwendet haben. Es war sehr schwierig, diese Musik als entartet hinzustellen oder zu verbieten.

Johann Strauß, den die zeitgenössischen Antisemiten mit dem Ausspruch "der Jidl mit der Fiedel" beschimpften, war also nicht zu verbieten. Also was hat man gemacht? – Im Band 60 der Trauungsmatrikel der Pfarre zu St. Stephan stand über dem Namen des Großvaters Johann


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