Nationalrat, XXII.GP Stenographisches Protokoll 7. Sitzung / Seite 188

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19.00


Abgeordnete Sabine Mandak (Grüne): Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Herr Bun­deskanzler! Sie haben in der Regierungserklärung über die Familie gesprochen und dabei Folgendes gesagt:

„Den Familien ist bewusst ein Schwerpunkt unserer politischen Arbeit gewidmet. Unser größter Stolz, unsere größte Hoffnung sind die Kinder. Wir müssen daher alles tun, um ihre Lebenswelt liebevoll und chancenreich zu gestalten. Die Kinder brauchen Schutz und Unterstützung. 90 Prozent der Jugend sehen in einer intakten Familie das schönste Lebensziel. – Ich meine, wir haben die Aufgabe, sie zu diesem Lebensziel zu ermuntern und noch bessere Vorausset­zungen dafür zu schaffen.“ (Präsident Dipl.-Ing. Prinzhorn übernimmt den Vorsitz.)

Herr Bundeskanzler! Das sind ja sehr schöne Worte – ich glaube, Prosa wurde das genannt – in einer allfälligen Regierungserklärung. Aber ich kann mir nicht vorstellen, Herr Bundeskanzler, dass das Ihre Antwort ist auf jene Probleme und Fragen, vor denen Familien derzeit stehen (Abg. Dr. Jarolim: O ja!), dass Sie sagen, 90 Prozent der Jugendlichen sehen in einer intakten Familie das schönste Lebensziel, das wollen Sie unterstützen und ihnen sagen: Ja, so ist es, macht weiter so!, bis eines Tages ein Knall kommt und sie in der Realität der Familie er­wachen. – Ich weiß nicht, welche Familien Sie kennen, Herr Bundeskanzler! (Beifall bei den Grünen. – Bundeskanzler Dr. Schüssel: Es gab da eine Umfrage, Frau Abgeordnete! Das ist aus einer Umfrage zitiert!)

Das ist aus einer Umfrage zitiert, natürlich! Aber ich sehe es nicht als meinen politischen Auf­trag, hehre Visionen Jugendlicher noch zu bestärken, wenn ich genau weiß, wie die Realität aussieht. Es ist auch unsere Aufgabe, Herr Bundeskanzler, die Jugendlichen auf die Wirklich­keit, auf die Realität vorzubereiten (Abg. Dr. Jarolim: Das ist ja Realität ...!), und diese stellt sich einfach anders dar. Die Realität sieht nämlich so aus, dass es derzeit in Österreich 40 Scheidungen auf 100 Eheschließungen gibt, und zur Hälfte dieser Scheidungen kommt es nach weniger als neun Jahren Ehedauer. Es sind jedes Jahr 19 000 Kinder und Jugendliche, die hievon betroffen sind. Genau diese Kinder und Jugendlichen brauchen Antworten, sie brauchen Antworten in der Realität – und nicht eine Bekräftigung von Visionen allein.

Scheidung bedeutet für diese Kinder, für diese Jugendlichen: Trennung von einem Elternteil; das bedeutet neue Patchwork-Familien, neue Partnerschaften mit all ihren besonderen Heraus­forderungen und auch Problemen. Das heißt, die Erwachsenen, die Kinder und die Jugend­lichen brauchen Beratung, Unterstützung und gesetzliche Rahmenbedingungen, die auf diese geänderten Lebensbedingungen eingehen, die diese neuen Formen des Zusammenlebens be­rücksichtigen. Das ist es, was die Familien, die Kinder, die Jugendlichen brauchen – und nicht salbungsvolle Worte, Herr Bundeskanzler! (Beifall bei den Grünen sowie des Abg. Dr. Jarolim.)

Scheidung bedeutet leider auch Armut. Es sind 57 000 Menschen in Österreich, die arbeiten und trotzdem nicht von dem Geld, das sie damit verdienen, leben können – die „working poor“, wie sie so schön genannt werden. In Wirklichkeit sind davon 178 000 Menschen im Land betrof­fen, das sind nämlich all jene, die mit diesen Menschen in einer Familie leben. Und wer ist am meisten betroffen? – Das ist nicht schwer zu erraten: Alleinerziehende, Mehrkinderfamilien und Familien von Migrantinnen und Migranten. Diese Betroffenen brauchen auch keine schönen Worte, sondern diese Betroffenen brauchen primär eine Grundsicherung, die ihnen das Über­leben ermöglicht, und zwar auf eine menschengerechte Art und Weise.

Die Betroffenen brauchen auch entsprechende Kinderbetreuungseinrichtungen (Beifall bei den Grünen), und zwar deshalb, weil es ihnen sonst nicht möglich sein wird, voll erwerbstätig zu sein, um nicht von nur 20 Stunden Erwerbstätigkeit überleben zu müssen. Sie wissen, in solchen Situa­tionen ist das Armutsrisiko dreimal so hoch wie sonst. – Das wären Antworten, die wir brauchen!

Sie haben einen sehr schönen Familienbegriff, und Sie betonen immer, wie wichtig Ihnen die Familie ist. Trotzdem gewähren Sie Menschen in Österreich nicht das Recht, mit ihrer Familie zusammenzuleben. Es geht dabei um Migrantinnen und Migranten, die hier leben. Die überwie-


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