Bundesrat Stenographisches Protokoll 636. Sitzung / Seite 118

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– Einsatz des Strafrechts und seines Instrumentariums mit Augenmaß, das heißt getragen von Vernunft, Menschlichkeit und Sozialverträglichkeit

– unter Bedachtnahme auf spezial- und generalpräventive Bedürfnisse ebenso wie auf einen möglichst effizienten Einsatz der vorhandenen Ressourcen

– berechtigte Forderungen durchaus aufgreifend, hingegen mitunter bloß tagespolitisch motivierten, übertriebenen Vorstellungen entgegentretend.

Meine Damen und Herren! Der Anteil der unbedingten Freiheitsstrafen an allen Sanktionen hat sich schon seit vielen Jahren knapp unter 10 Prozent eingependelt, während er gegenüber etwa Anfang der siebziger Jahre noch rund doppelt so hoch war. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß sich Entwicklungen wie diese general- oder spezialpräventiv in irgendeiner Form negativ ausgewirkt hätten. Dazu bedarf es nicht einmal eines Blicks über die Grenzen, wenngleich ich nicht unerwähnt lassen möchte, daß der Anteil der unbedingten Freiheitsstrafen in Deutschland nur rund 5 Prozent beträgt; also nur halb so hoch ist wie in Österreich. Auch die österreichische Rückfallsstatistik belegt, daß in Sprengeln mit einer weniger strengen Sanktionenpraxis die Rückfallsquote um nichts höher ist als in anderen Sprengeln mit strengerer Sanktionenpraxis.

Zu den Fragen 2 und 3, insbesondere betreffend die Einschränkung der Anzeigepflicht. Auch das Strafprozeß-Änderungsgesetz 1993 hat dem Gedanken des Opferschutzes besonderes Augenmerk gewidmet. Dabei geht es nicht nur darum, den Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Intimsphäre von Beschuldigten und Zeugen dem grundliegenden Ziel der Strafprozeßordnung, der Wahrheitsfindung, gegenüberzustellen, sondern auch darum, andere Prinzipien unserer Rechtsordnung, insbesondere den das Kindschafts- und Jugendwohlfahrtsrecht beherrschenden Grundsatz des Wohles des Kindes auch im Strafverfahren und im Vorfeld eines solchen zu berücksichtigen.

Dabei konnte von der Erkenntnis ausgegangen werden, daß bei kaum einer anderen Deliktsgruppe das System der gesellschaftlichen Kontrolle, durch strafrechtliche Reaktionsmechanismen, also durch Aufstellen strafrechtlicher Normen, durch Strafverfolgung in einem gesetzlich geordneten Verfahren und durch Verhängung und Vollzug von Strafen, schweren gesellschaftlichen Verstößen wirksam zu begegnen, so versagt hat, wie im Bereich von Gewalt und Mißbrauch an Kindern überhaupt. Will man daher Opfern von Kindesmißhandlungen wirklich wirksam helfen, und das sollte im Interesse der Opfer und der Gesellschaft primärer Zweck auch des Strafrechts sein, müssen Lösungsansätze erarbeitet werden, die in erster Linie den Opfern helfen.

In Interessensabwägung zwischen Opferschutz, effektiver Opferhilfe und legitimer Strafverfolgung hat sich der Gesetzgeber damals deshalb dazu entschlossen, Behörden oder öffentliche Dienststellen dann von der Anzeigepflicht auszunehmen, wenn die Anzeige eine amtliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, deren Wirksamkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bedarf. Diese Stellen kommen vielfach überhaupt nur dann in Kenntnis der strafbaren Handlung, wenn der Anzeigende eine glaubwürdige Zusicherung der Vertraulichkeit seiner Mitteilung erwarten kann, vor allem deshalb, da er oftmals nicht an einer Strafverfolgung einer Person, sondern an einer effektiven Hilfe für das Kind interessiert ist. Diesen Personen muß jedoch eine gewissenhafte Interessensabwägung auferlegt werden, und das ist ja auch geschehen, sodaß mangels anderer außerstrafrechtlicher Reaktionsformen eine Anzeige jedenfalls dann geboten erscheint, wenn eine weitere Gefährdung des Opfers nicht ausgeschlossen werden kann.

Diese Neuorientierung im Umgang mit kindlichen Tatopfern hat in der Folge zu einer vermehrten Einrichtung von spezifischen Kinderschutzgruppen geführt, die in erster Linie die therapeutischen Notwendigkeiten beurteilen, was durch eine unmittelbare strafverfahrensrechtliche Reaktion, insbesondere auch die Vernehmung des kindlichen Tatopfers, die auf die konkreten Bedürfnisse des Kindes ja nicht vollständig Rücksicht nehmen kann, nicht selten erschwert würde.

Die Einschränkung der Anzeigepflicht hat danach nicht nur zu einer weiteren Sensibilisierung der betroffenen Berufsgruppen geführt, sondern auch eine beträchtliche Erweiterung der betreu


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