den vergangenen Jahrzehnten nicht geschwunden, sondern – im Gegenteil – gewachsen. Nie zuvor ist so viel über Zeitgeschichte geschrieben und diskutiert worden, und das ist gut so, denn die Geschichte ist der einzige Lehrmeister, auf den wir uns wirklich verlassen können.
Kaum ein anderes Land in Europa hat in diesem Jahrhundert mehr Lehren erhalten als Österreich. Kaum ein anderes ist in seinem Selbstverständnis schwerer erschüttert worden. Aber kaum ein anderes Volk hat auch so eindrucksvoll bewiesen, daß es lernfähig ist.
Heute wissen wir, daß Österreichs scheinbares Ende in den düsteren Märztagen 1938 nicht nur der Beginn einer siebenjährigen Tragödie, sondern zugleich auch der Anfang zur Selbstfindung war, daß sich ausgerechnet in diesen Stunden größter Bedrohung erstmals in der Geschichte unserer Republik eine patriotische Massenbewegung zu formen begann, daß damals Österreicher unmittelbar vor dem Untergang unseres Landes begannen, sich über alle Gegensätze hinweg unter der rotweißroten Fahne zusammenzuscharen.
Aber der brutale Druck von außen, die Last innerer Verstrickung, das atemberaubende Tempo der Ereignisse, all das hat dem plötzlich möglich scheinenden historischen Kompromiß letztlich keine wirkliche Chance gewährt. Und vermutlich war es auch die Angst vor dieser unerwarteten Gemeinsamkeit der Österreicher, die schließlich den Einmarsch der Hitlertruppen weiter beschleunigte.
So liegt über den Schicksalstagen des Frühjahres 1938 eine beispiellose Ambivalenz von Tod und Geburt, von organisiertem Jubel und unendlichem Leid, von Anpassung und von Widerstand. Erst durch die Katastrophe dieser Tage und der Jahre danach wurden die Menschen geläutert und begriffen, welchen Wert ein freies, ein souveränes Österreich hat.
Für zu viele Österreicher war die Erste Republik keine gute Heimat gewesen. Sie sahen in ihr einen Torso der schmählich besiegten Donaumonarchie ohne Identität, ohne Zukunft. Teile des Landes versuchten, sich Nachbarstaaten anzuschließen. Politische Gruppen erklärten offen, daß sie die Republik haßten und bekämpften. Andere empfanden dieses Österreich mit seiner autoritären antidemokratischen Führung als Hort der Unterdrückung. Man bekämpfte einander von der ersten Stunde an, suchte Hilfe bei fremden Mächten, bildete schließlich Parteiarmeen, löste das Parlament auf und schoß aufeinander.
Wir alle haben die erschütternden Bilder aus jener Zeit im Gedächtnis: die Verwundeten und Toten des Bürgerkriegs, die langen Reihen von Arbeitslosen, die Massenaufmärsche und Hetzparolen. Für echten Patriotismus blieb da wenig Platz. Wir kennen aber auch die Wochenschaubilder jubelnder, hoffender Menschen in den Straßen Österreichs, als der Nationalsozialismus Einzug hielt, und wir wissen, was schließlich dem Einzug der neuen Machthaber folgte, was nicht fotografiert und nicht gefilmt werden durfte – die Verfolgung und Verhaftung Zehntausender, die Verzweiflung und das Martyrium jener, die in Konzentrationslager abtransportiert und zu Tode gefoltert wurden, und der furchtbare Schmerz all derer, die aus Österreich fliehen mußten.
Aber auch jene, die damals hier blieben, bekamen bald die Rechtlosigkeit und Willkür der Diktatur und dann die Schrecken des Krieges zu spüren. Mehr und mehr wurde auch ihnen der Verlust der österreichischen Heimat bewußt und daß es im Leben eines Volkes nichts Wichtigeres gibt als den Willen zur Selbständigkeit, als den Willen zur Gemeinsamkeit. Es war die Fremdherrschaft, die Erniedrigung, die damals Hunderttausende von Österreichern träumen und für Österreich beten ließ.
Meine Damen und Herren! Aus der Geschichte zu lernen war für uns Österreicher sicher ein besonders leidvoller Prozeß. In Trauer und Schmerz neigen wir uns heute einmal mehr vor allen Landsleuten, die während der nationalsozialistischen Herrschaft ihr Leben verloren haben. Wir haben in den vergangenen sechs Jahrzehnten viel zu lernen gehabt. Zu den schwierigsten Lehren gehört es, die Wahrheit zu ertragen. Wir wissen heute, wieviel Untaten auch von Österreichern ausgingen. Wir wissen auch, wie viel an Nährboden der Antisemitismus und Rassenwahn in Österreich vorfand, auf dem er sich zum Massenmord des Holocaust verdichten konnte.
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