Und wir wissen, wie wenig nach 1945 getan wurde, um das Los von überlebenden Opfern zu lindern.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch meine Betroffenheit nicht verschweigen, daß die damals Vertriebenen viel zu spät und auch dann noch ohne Überzeugungskraft zur Heimkehr eingeladen wurden. Ich selbst habe Tausende dieser Vergessenen jenseits des Atlantik wiedergefunden. Ich weiß, welch tiefe Liebe zur alten Heimat sie trotz allem, was geschehen war, in sich bewahrt haben. Gerade sie hätten ein Recht gehabt, den Aufstieg Österreichs mitzuerleben, und ich weiß, daß sie Unschätzbares zu unserer Demokratie und Kultur beigetragen hätten.
Wir haben aber auch lernen müssen, daß jedes pauschale Urteil über diese Zeit und ihre Menschen in sich selbst falsch und also der Beginn neuen Unrechts sein muß. Die Frontlinien zwischen Tätern und Opfern liefen damals mitten durch unser Volk, mitten durch Familien, ja oft genug mitten durch ein Herz. In diesem Dickicht von Verstrickung, Verlockung und Zwang ist später auch jene Verdrängung gewachsen, die unsere Aufarbeitung des Geschehenen lange verzögert hat.
Wir sollten aber keineswegs vergessen, daß Tabus und Verdrängung lange Zeit auch so etwas wie eine Schutzfunktion hatten, daß der Überlebenskampf der Nachkriegszeit, die schwere Aufbauarbeit der ersten Jahre unter der Last von Schuldzuweisungen und neuen Trennungen kaum möglich gewesen wäre. Heute wissen wir freilich, daß wir uns zu lange und weit über die Zeit des Wiederaufbaus und der Identitätsfindung hinaus mit allzu einfachen Antworten auf die Fragen nach Wahrheit und Schuld abgefunden haben.
Jene Generation aber, die 1945 den Grundstein zur Zweiten Republik legte, sie hatte damals eine ganz andere, eine heroische Bewährungsprobe zu bestehen. Unter schwierigsten Umständen und noch traumatisiert von Diktatur und Krieg schuf sie tatsächlich die Grundlagen unserer Zweiten Republik: die parlamentarische Demokratie, die innere Stabilität, den sozialen Frieden – und damit das Fundament für Wohlstand und Ansehen Österreichs in der Welt. Es gehört sicher zur Einmaligkeit unserer Geschichte, daß es dieselben Gesinnungsgemeinschaften, dieselben Persönlichkeiten von einst waren, die nun gelobten, das künftige Österreich ganz neu zu gestalten.
Gerade dann, als alles in Trümmern lag, war jeder Zweifel am Lebenswillen und an der Lebensfähigkeit dieses Landes endgültig überwunden. Und mit den Erfolgen wuchs auch der Stolz der Österreicher auf ihre Heimat.
Hohes Haus! Einen wesentlichen Anteil an der Aufwärtsentwicklung Österreichs zu einem Land mit höchster Lebensqualität verdanken wir sicher den Bundesländern. Ich freue mich über diese Gelegenheit, meine Dankbarkeit gegenüber unseren neun Ländern zu erneuern.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß der Föderalismus ein wesentliches Element des Österreichbewußtseins unserer Bürger ist. Die große Mehrheit unserer Landsleute spürt ihre Wurzeln in den kleinen, überschaubaren Regionen – in den Vierteln, Talschaften, Bezirken. Aus ihnen wächst unser Heimatgefühl – es gehört zunächst unserem engeren Zuhause, dann unserem Bundesland und dann unserer Republik. Ich habe erst gestern vor dem Europäischen Parlament auf die Zukunftsaufgabe verwiesen, über dem Großen das Kleine nicht zu vergessen und das Europabewußtsein auf der bunten Vielfalt von Eigenem und Gemeinsamem aufzubauen.
Ich möchte auch daran erinnern, daß dieses Österreich nicht nur 1918, sondern auch im Herbst 1945 aus dem freiwilligen Beitritt und Zusammenschluß der Bundesländer wiedererstanden ist. Auch dahinter verbirgt sich eine bittere Erfahrung. Über Nacht hatten die Nationalsozialisten im März 1938 nicht nur den österreichischen Föderalismus zerstört. Sie tilgten auch die Namen mehrerer Bundesländer und hoben die alten Landesgrenzen auf. An die Stelle von demokratisch gewählten Landesbehörden wurden diktatorische Kommandozentralen gesetzt, und an eine Länderkammer, die die Interessen der Bundesländer vertreten hätte, war nicht mehr zu denken.
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