So gehört auch die Wiederherstellung eines föderalistischen Bundesstaates zu den wesentlichen Elementen unseres Österreichbewußtseins.
Manche von Ihnen erinnern sich vielleicht noch dankbar, wie sehr vor allem die Landesbehörden in der Nachkriegszeit zum Überleben beigetragen haben, wie sehr sie den Menschen bei Übergriffen der Besatzungsmächte geholfen haben. In den Ländern wurde damals die für den Wiederaufbau nötige Infrastruktur geschaffen. Und das kulturelle Netzwerk, um das uns heute die Welt beneidet, wäre ohne die Eigendynamik und das Selbstverständnis der Länder nicht zustande gekommen.
Meine Damen und Herren! Mit jedem Jahr, das uns weiter von der Kriegs- und Nachkriegszeit wegführt, verblaßt die Erinnerung an Kampf und Leid, an Entbehrung und Verzicht. Die Frage aber, ob wir auch die richtigen Schlußfolgerungen aus den Tragödien von damals gezogen haben, verliert nichts von ihrer Aktualität.
Ich weiß schon: Es ist immer auch die Zeit, die uns Menschen fordert und prägt. Manche freiwillige Mehrleistung, manche Mitmenschlichkeit und Fürsorge, die in Zeiten der Not selbstverständlich ist, wird in Zeiten des Wohlstandes keine selbstverständliche Tugend mehr sein. Und nichts, was wir unter bestimmten Vorzeichen gelernt und praktiziert haben, wird uns immer geläufig bleiben.
Trotzdem gehört es mit zum tieferen Sinn von Gedenktagen, die Erfahrungen aus vergangenen Bewährungsproben neu zu überdenken und das Gute, das Erprobte zu bewahren. Sollten wir also nicht auch diesen 12. März 1998 dazu nützen, um uns zu fragen, wieviel uns vom Geist jener Nachkriegsjahre geblieben ist? Sind uns nicht manche der damals bitter erkämpften politischen Tugenden allzu selbstverständlich geworden – die Freiheit und Demokratie, Respekt, Grundvertrauen? Empfinden wir Österreicher uns tatsächlich noch als eine Schicksalsgemeinschaft, die jedem von uns nicht nur Rechte und Freiheiten, sondern auch Verantwortung und Pflichten zuordnet?
Ich füge noch einige Fragen hinzu:
Warum nimmt das Interesse an der Res publica mehr und mehr ab? Warum fühlen sich vor allem junge Menschen vom Appell zur Mitwirkung, zur Mitgestaltung so wenig angesprochen? Warum erleben die Bürger trotz Informationsflut die Politik, die Demokratie als etwas Fernes, Undurchschaubares, als einen Macht- und Verwaltungsmechanismus und jedenfalls nicht als permanenten Dialog um eine noch bessere, noch gerechtere Gesellschaft? Warum sind zwar die Gräben von einst überwunden, aber so viel Zynismus und Gehässigkeit geblieben? Warum machen wir so selten von unserem Recht Gebrauch, uns zur eigenen Meinung, zu unseren Überzeugungen und Werten zu bekennen, notfalls auch gegen den Zeitgeist? Was ist – bei aller Europäisierung und Globalisierung – aus unserem einstigen Stolz, aus unserer Freude geworden, Menschen von anderswo zu empfangen, bei uns aufzunehmen und von ihnen zu lernen? Vor allem aber: Was ist aus den drei Kardinaltugenden jener Gründergeneration der Zweiten Republik geworden: dem Mut zur Veränderung, dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und dem Willen zur Gemeinsamkeit?
Ich meine, es wäre kein unzumutbares Opfer, könnten wir weit über diese Versammlung hinaus aus diesem besonderen Anlaß unserem demokratischen Selbstverständnis einige Minuten der kritischen und selbstkritischen Aufmerksamkeit schenken.
Hohes Haus! In jenen fürchterlichen Stunden des 11. März 1938 hat der damalige Bundespräsident Wilhelm Miklas nach Jahren der Gewissensnöte und des Zögerns eine bemerkenswert tapfere und verantwortungsvolle Rolle gespielt: Auch unter schwerstem Druck hat er sich bis zuletzt geweigert, seinen Namen zur Auslöschung der Heimat herzugeben. So trug die Sterbeurkunde Österreichs wenigstens nicht die Unterschrift des letzten demokratisch gewählten Repräsentanten des österreichischen Staates.
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