Bundesrat Stenographisches Protokoll 637. Sitzung / Seite 152

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leben und gleichzeitig die Identität der Mehrheitsbevölkerung nicht als aufgezwungen, sondern als ebenfalls mitlebbar zu empfinden.

Wir Österreicher haben aus den grauenhaften Ereignissen, die im Gefolge des März 1938 über uns hereingebrochen sind, gelernt. Wir haben eine gefestigte Demokratie. Die Werte der Toleranz, der Menschenrechte und der Menschenwürde sind weitgehend in uns verwurzelt. Doch Verführer können in schlechten Zeiten immer wieder eine Gefolgschaft rekrutieren. Daher müssen wir immer und immer wieder dort, wo Diskriminierung oder eine Einschränkung der Chancengerechtigkeit möglich ist, diese durch gesetzliche Regelungen hintanhalten. Jede Vertiefung der Demokratie, meine Damen und Herren, jede Erleichterung des Zugangs zur Ausbildung, zu kulturellem Selbstbewußtsein und zu sozialer Integration verhindert ein Abgleiten in Rassismus und chauvinistischen Nationalismus oder auch das Ausgrenzen von bestimmten Gruppen.

Meine Damen und Herren! Dieses Rahmenabkommen ist die erste rechtsverbindliche, multilaterale Übereinkunft, die dem Schutz von Minderheiten in einem Staatsgebiet gewidmet ist. Nichts hätte uns die Notwendigkeit eines Bekenntnisses zu den Rechten von nationalen Minderheiten deutlicher zeigen können als die furchtbaren Ereignisse am Balkan in Vergangenheit und Gegenwart.

Als sich der Zusammenbruch der kommunistischen Regime abzeichnete, stellte Alain Minc folgende provokante Fragen – ich zitiere –: Wer kann ernsthaft versichern, die Bulgaren werden nicht nach Thrakien schielen, die Ungarn nicht in Siebenbürgen den Aufstand schüren, die Moldawier nicht den Anschluß an Rumänien verlangen und die Slowenen nicht unruhig werden? Wer kann sagen, auf dem Balkan werde es zwischen Serben, Kroaten und Slowenen, zwischen Orthodoxen und Mohammedanern nicht zum Kochen kommen, Vilnius werde für die Polen nicht wieder Wilna heißen und die Ukraine sich nicht an Europa anschließen wollen? – Soweit die Fragen von vor nahezu zehn Jahren.

Nicht alles ist so gekommen, aber einiges doch, und zwar noch grauenhafter und unmenschlicher, als wir es Ende des 20. Jahrhunderts zu denken gewagt hätten. Erinnern wir uns: Nach dem Tod des Kommunismus hat sich eine ideologische Wüste ausgebreitet und wirtschaftliche Ernüchterung eingestellt. Vor einem derartigen Hintergrund sind Nationalisten und Populisten sofort zur Stelle. Die Renaissance des Nationalismus, die wir beobachten mußten, war häufig fanatischer, haßerfüllter und gewalttätiger, als man es sich vorstellen konnte. Irredentismus feierte Wiederauferstehung aufgrund geographischer und geschichtlicher Absurditäten. Denn, meine Damen und Herren, Grenzen haben nicht immer Gründe, die sich aus der Landschaft ergeben, wie zum Beispiel die Pyrenäen. Viel häufiger sind sie Produkte von Zufall und Ungerechtigkeit. Nichts legitimiert so manche Grenzziehungen, nichts die rücksichtslose Zerstückelung einiger Territorien durch Stalin.

Jetzt, nachdem es die politische Ordnung nicht mehr gibt, die dazu geführt hat, bleiben allein die vollendeten Tatsachen bestehen. Was, meine Damen und Herren, kann man einem Bedrängten, der in der Irredenta die Lösung seiner Probleme zu erkennen glaubt, entgegenhalten, außer einem Appell an die Vernunft, indem man klarmacht, daß diese geäußerten Wünsche zu Unruhen führen müssen? – Der gesunde Menschenverstand als Pflaster auf den Wunden, die die Geschichte geschlagen hat oder die von noch regierenden machtbesessenen Potentaten geschlagen werden, ist aber, wie ich meine, eine unsichere Methode.

Wer aber hat die Macht, zu intervenieren, meine Damen und Herren? Wer legitimiert wen? Kraft welchen Rechts mischt man sich ein? – Die alte, traurige Methode der Nichteinmischung in sogenannte innerstaatliche Konflikte wird heute von der den Menschenrechten verpflichteten Völkergemeinschaft nicht mehr durchgängig akzeptiert. Zu lange hat die Zeit des kalten Krieges Unbeweglichkeit gefördert: Man konnte sich das Nachdenken über Lösungsansätze ersparen, die Einflußgebiete waren klar abgesteckt, und jede Einmischung hätte das fragile Gleichgewicht erheblich gestört.

Das letzte Jahrzehnt hat uns jedoch in aller Grausamkeit gezeigt, daß das Repertoire an Ideen und Strategien zur Konfliktbeilegung vergrößert, aber auch erneuert werden muß. Es ist zuge


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