Bundesrat Stenographisches Protokoll 737. Sitzung / Seite 119

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Das ist auch der Grund, warum letztlich in der Politik auch das teuerste Marketing und die glamourösesten Inszenierungsversuche nicht ausreichen. Die Menschen sind nämlich nicht so dumm! Es mag sein – das gestehe ich schon zu –, dass manche manchmal gerne auch ein bisschen in schönere Märchenwelten mit glitzernden Per­sonen wegkippen, weil ihr Alltag ziemlich hart ist. Letztere werden dann aber auch brutal wieder aufgeweckt. Das wirkliche Leben stellt sie nämlich vor ganz andere Fragen, und die Hauptfrage, welche die Menschen in Europa beschäftigt, ist das Problem, Arbeit zu haben, von der man auch leben kann, von der man eine Wohnung bezahlen, der Familie den Tisch decken und vielleicht auch einmal ein bisschen mehr, etwa einen ein gemeinsamen Urlaub, machen kann.

Ich kenne viele Familien – und ich bin sicher: Sie auch –, die ständig von Existenz­sorgen und Stress belastet sind, weil sie genau diese existenziellen Probleme täglich niederdrücken. Sie werden krank davon, trauen sich aber nicht, das zu sagen oder in Krankenstand zu gehen, weil sie Angst haben, den Job zu verlieren. Sie wollen aber auch nicht als Niemand in diesem immer reicher werdenden Europa gelten. Wer will schon dorthin gehören, wo man zum „Rand“ gezählt wird? Die Probleme all dieser Menschen, von denen ich jetzt rede, belegen, dass der Satz, den der Finanzminister heute wieder so glorreich darzulegen versucht hat: Sozial ist alles, was Arbeit schafft!, zynisch und falsch ist. – Das ist es nämlich nicht! Und es muss sich niemand rühmen, dass die Sozialquote gestiegen ist! Warum ist denn die Sozialquote hoch? – Weil die Arbeitslosigkeit so hoch ist! Das kann man doch nicht als „soziale Wärme“ interpretieren! (Beifall bei der SPÖ sowie bei Bundesräten der Grünen.)

Wenn große Unternehmen riesige Gewinne machen, während gleichzeitig nach wie vor Rekordarbeitslosigkeit zu verzeichnen ist, die Armut aus diesem Grund immer weiter steigt und die Löhne gleichzeitig im Keller bleiben, dann halte ich es schon für bemerkenswert, wenn sich der Herr Finanzminister heute wieder dessen rühmt, dass die Arbeitslosigkeit kleiner geworden ist! (Zwischenruf des Bundesrates Mayer.) Ich möchte aber nicht, dass er sich Wiens Erfolge an seinen Hut heftet! (Ironische Heiterkeit bei der ÖVP.) Wien ist nämlich der einzige Ort, wo die Arbeitslosigkeit tatsächlich kleiner geworden ist und in nur einem Jahr um 9 000 Arbeitsplätze mehr geschaffen wurden! (Beifall bei der SPÖ. – Zwischenrufe bei der ÖVP.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, hören Sie doch einmal auch auf das, was die Wirtschaftsforscher immer wieder belegen! (Zwischenruf des Bundesrates Tiefnig.) Sie sagen nämlich, dass die Entlastungen der Wirtschaft, mit welchen Sie sich so gerne rühmen, kaum Wirkung auf die Beschäftigung haben. Das ist Tatsache! (Beifall bei der SPÖ. – Neuerliche Zwischenrufe bei der ÖVP.)

Das zeigt auch, dass die EU die wichtigste Hausaufgabe zur Behebung der Vertrauenskrise nicht geleistet hat. Noch einmal: Es geht nicht um jede Arbeit, sondern es geht um existenzsichernde Arbeit. Das ist für die Menschen in Europa das Thema Nummer eins, und das ist im Grunde genommen auch das erste Sicher­heitsthema. Dieses Problembewusstsein fehlt bei diesen konservativen neuen Begrif­fen, zum Beispiel beim Schlagwort „Europäisches Lebensmodell“. Ich frage Sie: Wo ist das europäische Sozialmodell? Warum hat man sich davon verabschiedet? (Zwischen­ruf des Bundesrates Dr. Kühnel.) Ist es möglich, dass dieser Begriff jetzt auch deshalb in diesen Berichten fehlt, weil man überhaupt nicht gewillt war, die Lissabon-Strategie weiterzuentwickeln und ganz klare Vorhaben festzuschreiben, wie man diese Krise beheben will? Dieser Bereich kommt in den Berichten nirgends vor! Privatinitiativen, Ehrenämter und Aussichten auf Almosen sind jedoch keine Antworten auf die soziale Schieflage, in die Menschen heute geraten können. Die Menschen brauchen Rechtsansprüche in einem sozialen Netz, das ihnen Aussichten auf eine Zukunft gewährt. (Zwischenruf des Bundesrates Bieringer.)

 


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