9.14.27

Bundesrat Mag. Michael Lindner (SPÖ, Oberösterreich): Sehr geehrter Herr Präsi­dent! Herr Bundesminister! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh, dass wir uns heute, zu einem entscheidenden Zeitpunkt, darüber unterhalten können, wie unsere kommende Ratspräsidentschaft ausschauen wird. Stück für Stück wird ja greifbarer, wie sie aussehen soll, auch wenn das im Vorfeld offensichtlich lieber mit ausgewählten Journalistinnen und Journalisten besprochen wird als offen und breit im Parlament. (Zwischenruf des Bundesrates Mayer.)

So eine Schwerpunktsetzung hat ja immer zwei Seiten: Man kann auf der einen Seite über die Schwerpunkte reden, die gewählt werden, auf der anderen Seite kann man aber auch über jene Themen sprechen, die eben nicht Schwerpunkte der Präsident­schaft sind. Herr Bundesminister, zu Beginn muss ich ganz offen sagen: Die Europäi­sche Union im Sinne der Menschen und ihrer Bedürfnisse weiterzuentwickeln ginge aus meiner Sicht anders, aber nicht mit dieser Schwerpunktsetzung. (Bundesrätin Mühl­werth: Sondern?)

Es ist unbestritten, dass die Europäische Union an einem Scheideweg steht. Es stellt sich schlicht und einfach die Frage: In welcher Welt oder in welchem Europa wollen wir denn leben? Wollen wir in einem Europa der Zuversicht leben, in dem die Menschen und vor allem auch die jungen Menschen die Gewissheit haben, dass ihre Zukunft bes­ser wird? Wollen wir in einem Europa leben, das den erarbeiteten Wohlstand und Fort­schritt allen zukommen lässt? Oder wollen wir in einem Europa der Angst, der Ab­schottung, der Überwachung und der Aufrüstung leben, in einem Europa, in dem zum ersten Mal droht, dass es meiner und den nachfolgenden Generationen insgesamt schlechter gehen könnte als der Elterngeneration?

Herr Minister, für mich als jungen Politiker ist es erschreckend, dass Vertreter meiner Generation offensichtlich die falsche Variante wählen. Ich höre nämlich bisher nichts davon, wie wir EU-weit die hohe Arbeitslosigkeit und vor allem die hohe Jugendarbeits­losigkeit bekämpfen können. Ich höre bisher zu wenig davon, wie wir aktiv gegen Steu­ervermeidung und Gewinnverschiebung vorgehen können. (Bundesrat Mayer: Das ist ein Schwerpunkt! – Bundesrätin Mühlwerth: Steht alles drin!) Ich höre bisher nichts da­von, wie wir die soziale Säule, den sozialen Zusammenhalt stärken können. (Bundes­rätin Mühlwerth: Vielleicht einmal lesen!)

Ein gescheiter Mann hat einmal gesagt: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ Ich sage noch dazu: Niemand verliebt sich in einen Grenzschutz. (Heiterkeit bei Bun­desrätInnen der ÖVP.)

Wenn wir gerade die jüngere Generation für die europäische Idee begeistern wollen, wenn wir die Zuversicht in eine bessere Zukunft stärken wollen, dann dürfen wir Eu­ropa nicht begrenzen, dann brauchen wir kein Schmalspureuropa, das den Konzernen und den Profiten dient, sondern wir müssen die EU stärken und inhaltlich ausbauen, damit sie den Menschen nützt. (Beifall bei der SPÖ sowie der Bundesrätin Schreyer.)

Ja, die Vertrauenskrise in der EU ist so groß wie noch nie – und das teilweise auch zu Recht, denn zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg besteht die reale Gefahr, dass es der heutigen Jugend schlechter gehen kann als ihren Eltern. Europa kann es sich aber nicht leisten, die am besten ausgebildete Jugend zu verlieren oder ihre Zukunfts­aussichten zu verbauen.

Wir haben seit der Wirtschafts- und Finanzkrise eine Erholung, aber sie ist bei Weitem nicht gleichmäßig verteilt, weder innerhalb der Gesellschaften noch zwischen den Re­gionen. Die Arbeitslosigkeit sinkt, aber sie ist nach wie vor auf einem hohen Niveau. Besonders die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 18 Prozent im Durchschnitt gefährlich hoch.

Für 80 Prozent der Europäer und Europäerinnen sind laut Eurobarometer drei Heraus­forderungen zentral: Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheiten und Migration.

Sie reden davon, dass es ein Europa braucht, das schützt. Wenn wir von Sicherheit re­den, dann sollten wir eben nicht nur von Grenzschutz, Aufrüstung oder Überwachung sprechen, sondern müssen auch über soziale Sicherheit reden. Die Menschen haben einfach massive Zweifel, dass die EU ihr Versprechen, niemanden zurückzulassen und dafür zu sorgen, dass es jeder Generation besser geht, auch wirklich einlösen kann. Da sind wir am Scheideweg.

Im zweiten Halbjahr kommen eine Unmenge an Dossiers auf uns zu, die abzuschlie­ßen sind. Darüber hinaus hat eine Ratspräsidentschaft aber auch eine symbolische Wirkung. Sie zeigen mit Ihrer Schwerpunktsetzung: Soziale Herausforderungen sind Ihnen nicht so wichtig wie der Grenzschutz und der Kampf gegen illegale Migration. Gerade die Sozialpolitik ist aber ein österreichisches Erfolgsmodell. Das ist unsere Kernkompetenz, kommt aber aus meiner Sicht in Ihrem Programm bisher nicht vor.

Stichwort duales Ausbildungssystem: Es sind schon ganz viele europäische PolitikerIn­nen zu uns gekommen und haben auf unserer Expertise aufgebaut. Stichworte Ju­gendbeschäftigungsgarantie, die wir forcieren, und Bekämpfung der Jugendarbeitslo­sigkeit: Dafür sind wir in Europa bekannt, wir haben in diesem Bereich einen exzellen­ten Ruf und werden explizit als Vorzeigeland genannt. Es findet sich aber nirgends!

Lassen Sie mich zu drei weiteren Bereichen kommen, die aus meiner Sicht zu wenig bearbeitet werden: Da ist der Bereich der Arbeitsverhältnisse. Der Binnenmarkt und dieser massive Wettbewerb erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt massiv. Lange, verlässliche, stabile Arbeitsverhältnisse sind äußerst selten geworden. Im Laufe von nur einer Generation ist die durchschnittliche Anzahl der Arbeitsstellen, die ein Arbeit­nehmer im Laufe seines Lebens annimmt, von einem Job fürs Leben auf über zehn an­gestiegen. Einer von sechs Europäern verrichtet Telearbeit. 44 Millionen arbeiten in Teilzeit. 22 Millionen Beschäftigte haben befristete Verträge. Wir alle kennen unzählige Menschen, meistens junge, die von Projektanstellung zu Projektanstellung hüpfen, von Prekariat zu Prekariat.

Jetzt stelle ich mir die Frage: Was macht denn das mit einer ganzen Generation von jungen Menschen, die sich eigentlich ein stabiles Leben aufbauen will, die Familie und Beruf vereinbaren will, die sesshaft werden will? – Die wollen Sicherheit für ihre Zu­kunft, für ihr Einkommen, eine Absicherung; und da hilft ihnen Frontex nichts, Herr Blü­mel.

Da müssen Sie sich mit Ihrem Programm schon ein wenig mehr anstrengen. Ich bin froh, dass die Kommission mit einem Richtlinienvorschlag über transparente und ver­lässliche Arbeitsbedingungen da einen Vorstoß wagt. Das haben sich die Arbeitneh­merInnen in Europa, die den ganzen Wohlstand mit erwirtschaften, endlich einmal ver­dient.

Wenn wir jetzt beklagen, dass durch den Austritt Großbritanniens im EU-Haushalt viel Geld fehlen wird: Na klar, das wird ein großes Loch reißen, aber das verwenden Sie als Bundesregierung offensichtlich, um Europa finanziell zurückzufahren, und Sie blen­den ganz bewusst das aus meiner Sicht viel größere Problem aus, nämlich dass Euro­pa jährlich durch legale und illegale Steuervermeidung 1 000 Milliarden Euro entgehen. Das ist gut das Dreifache der Staatsdefizite aller Mitgliedsländer zusammen.

Die Idee der digitalen Betriebsstätte, Kollege Mayer hat es angesprochen, ist schon gut so, aber in Wahrheit brauchen wir in dieser Frage einen echten Kraftakt. Steuern müs­sen dort bezahlt werden, wo die Gewinne erwirtschaftet werden. Briefkastenfirmen müssen verboten werden. Wir brauchen EU-weite Mindeststeuersätze, damit wir die­sem Dumping entgegentreten können. Wir haben ja im EU-Ausschuss vergangenen Dienstag das Mehrwertsteuersystem besprochen. Da könnten Sie breite, echte Initiati­ven in Gang bringen, Herr Bundesminister, eine andere Entwicklung vorantreiben, Steuergerechtigkeit herstellen – und nicht Steuersümpfe von der schwarzen Liste streichen, so wie es der Finanzminister seit Jänner macht. (Beifall bei SPÖ und Grü­nen.)

Der Binnenmarkt darf aus meiner Sicht keine Religion für Marktradikale sein, sondern er muss auch für die ArbeitnehmerInnen faire und gerechte Bedingungen schaffen. Lohn- und Sozialdumping ist auf Europas Baustellen und auf Europas Straßen nach wie vor Realität. Gerade als Österreicher wissen wir alle gut genug, dass wir Zielland von Entsendungen sind: über 300 000 Arbeitskräfte waren es im Vorjahr.

Wir sind auch von Sozialdumping massiv betroffen. Kontrollen im Jahr 2017 haben gezeigt, dass in österreichischen Betrieben bei 0,9 Prozent der ArbeitnehmerInnen der Verdacht auf Unterbezahlung vorliegt, bei Entsendebetrieben bei unvorstellbaren 44 Prozent. Deswegen ist es so wichtig, diese Reform der Entsenderichtlinie rasch zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, denn diese strengeren Regeln sind längst überfällig. Dazu braucht es auch eine grenzüberschreitende Kontrolle mit einer – aus unserer Sicht – eigenen Arbeitsschutzbehörde. Die vorgeschlagene Arbeitsbehörde könnte man erweitern, damit man auch Sanktionen gegen Firmen in anderen Staaten durchsetzen kann.

Nur als Beispiel: Im Burgenland sind im vorigen Jahr Strafen in der Höhe von 1 Mil­lion Euro eingefordert worden, aber nur 2 000 Euro sind wirklich eingenommen wor­den. Wenn die Kommission also eine Art europäische Arbeitsbehörde vorschlägt, dann sehen wir darin auch eine Möglichkeit, dass man daraus eine Arbeitsschutzbehörde macht, und dann, Herr Bundesminister, werden Sie bitte aktiv, holen Sie diese Behörde nach Österreich! Wir können in Europa vorzeigen, wie gerechte Entlohnung und gute Arbeitsbedingungen funktionieren können.

Herr Bundesminister, von den 25 friedlichsten Ländern der Welt sind 18 europäische Länder. Wir Junge – und da zähle ich Sie dazu – sind in diesem Frieden groß gewor­den. Die Menschen erwarten sich ein anderes, ein sozialeres und ein friedlicheres Eu­ropa, sie wollen kein Europa, das sich abschottet. (Bundesrätin Mühlwerth: Das sehen die Leute aber anders als Sie! – Bundesrat Preineder: Genau!) Wir sind als Politiker gefordert, auch zu überlegen, welche Bilder und Stimmungen wir befeuern. (Neuerli­cher Zwischenruf der Bundesrätin Mühlwerth.) Ein Sozialwissenschaftler hat vorige Woche im „Kurier“ gesagt, ganz interessant: „Je mehr Medien und Politiker eine Situa­tion der Unsicherheit vermitteln, desto unsicherer fühlt man sich auch. Politiker polen so die öffentliche Wahrnehmung um.“ (Ruf bei der ÖVP: Spiegel!)

Die Vision eines sozialen und friedlichen Europas bekommen die Menschen bei Ihren Vorbereitungen bisher nicht geboten. Wenn Sie als junger Politiker die Europäische Union als Idee, als Wertegemeinschaft noch haben wollen, dann, Herr Bundesminister, haben Sie bei Ihren Vorbereitungen noch einiges zu tun! – Danke. (Beifall bei SPÖ und Grünen.)

9.24

Präsident Reinhard Todt: Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Monika Mühlwerth. Ich erteile ihr dieses.