16.07

Bundesrätin Doris Hahn, MEd MA (SPÖ, Niederösterreich): Sehr geehrter Herr Prä­sident! Geschätzter Herr Minister! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Das Chaos ist ein Begriff aus dem Altgriechischen für einen Zustand vollständiger Un­ordnung und Verwirrung oder auch die „Abwesenheit, Auflösung aller Ordnung; völliges Durcheinander“ – so steht es unter anderem im Duden –, und ich finde, das trifft die derzeitige Situation rund um den Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der EU sehr gut.

In der heutigen Presse wird beispielsweise auch der Vizepräsident der EU-Kommission zitiert. Er sagt dazu: „Haltet das Lenkrad, schaut nach vorne und schnallt euch an.“ – Na servus, kann man da nur sagen. Ohne Zweifel überschlagen sich in den letzten Tagen, ja, Stunden, schier die Ereignisse, wenn es um den Austritt der Briten aus der EU geht, der uns in Kürze – aus heutiger Sicht in bereits 15 Tagen – bevorsteht. Tag­täglich finden neue Abstimmungen im britischen Parlament, im Unterhaus, statt. Bis dato hat aber keine der von Theresa May verhandelten Varianten ausreichende Akzep­tanz gefunden. Der Reihe nach treten Mitglieder ihres Kabinetts zurück, also Chaos par excellence.

Ein bisschen hat man den Eindruck, die Briten wollen sich die europäischen Rosinen herauspicken, ohne aber die entsprechenden Verpflichtungen als EU-Mitglied dabei einzugehen.

Es ist aber in Wahrheit relativ unerheblich, ob es letztlich zu einem Hard Brexit oder zu einem Brexitdeal kommt. So oder so – und das ist, glaube ich, klar – wird sich das poli­tische, wirtschaftliche, sozialpolitische Gefüge innerhalb der gesamten EU verändern. Das große Problem, das sich hier darstellt, ist, dass kaum ein Aspekt wirklich durch­dacht und geklärt wurde, dass die Auswirkungen, aus meiner Sicht, nicht in ausrei­chendem Maße behandelt wurden.

Da geht es um Fragen der Beiträge. Die Briten sind ja de facto Nettozahler, und Öster­reich wird mit Austritt der Briten mit einer Erhöhung des Mitgliedsbeitrags um ungefähr 150 Millionen Euro rechnen müssen. Da geht es aber auch um Fragen des Handels mit den Briten, um Fragen im Bereich des Arbeitsmarkts, um Fragen der offenen oder un­ter Umständen auch geschlossenen Grenzen, des Backstop mit Nordirland, und vieles, vieles mehr. All das ist bis dato im Wesentlichen ungeklärt.

Das eigentlich Schreckliche an der ganzen Sache ist, dass man zwei Jahre Zeit gehabt hätte, entsprechende Lösungen zum Wohle der Menschen in Großbritannien zu finden. Zwei Jahre sind bis zum von den Briten selbst gewählten Austrittstermin Ende März mehr oder weniger verschlafen worden.

Da kann ich auch die österreichische Bundesregierung leider nicht aus ihrer Verant­wortung entlassen. Wir haben es heute schon ein paarmal gehört: Im Zuge der EU-Ratspräsidentschaft, die Österreich ja im vorigen Jahr innehatte, hätte es aus unserer Sicht zahlreiche Verhandlungen mehr gebraucht. (Bundesrat Längle: Das ist ja lächer­lich!) Man hätte bilaterale, multilaterale Gespräche führen können, um einen geregel­ten, einen unaufgeregten EU-Austritt der Briten (Bundesrätin Mühlwerth: Ich glaube, da ...!) zu ermöglichen und zu gewährleisten. Das ist versäumt worden. Stattdessen hat man viele PR-Fotos gemacht und, ja, Vielfliegermeilen gesammelt – besonders der Herr Kanzler. (Bundesrat Schuster: Das können Sie sicher beweisen!)

Ähnliches gilt auch für das vorliegende Brexit-Begleitgesetz, das wir an dieser Stelle zu diskutieren haben. Es ist für uns keinerlei einheitliche Systematik erkennbar. Mit einer Änderung von nicht einmal 20 Gesetzen kann aus unserer Sicht, aber auch aus der Sicht diverser Rechtsexperten, kaum das Auslangen gefunden werden. Beispielsweise hält sich das Wirtschaftsministerium gänzlich heraus, es ist da gar nicht vertreten. Auf der anderen Seite sind vielfach Verordnungsermächtigungen der Ministerinnen und Mi­nister vorgesehen, also wieder einmal Blankoschecks, bei denen nicht wirklich klar ist, was die zuständigen Minister jeweils verordnen können und werden.

Oberste Priorität muss aus unserer Sicht der Schutz der österreichischen Staatsbürge­rinnen und Staatsbürger, die im Vereinigten Königreich leben, arbeiten, studieren, und deren Rechte haben. Das Brexit-Begleitgesetz lässt viele Fragen offen und ungeklärt, beispielsweise die Anrechenbarkeit von akademischen Graden, die Abwicklung von europäischen Studienprogrammen und dergleichen mehr. Ungeklärt ist auch, wie briti­sche Staatsbürger gesetzlich zu behandeln sind. Darüber ist man sich also immer noch nicht einig. Behandelt man sie dann als Staatsbürger eines Drittstaats oder erkennt man ihnen sozusagen einen privilegierten Status zu? Wieder einmal hat man es verab­säumt, rechtzeitig alle im Parlament vertretenen Parteien, alle Stakeholder – wie es heute auch schon angesprochen wurde –, alle Sozialpartner in die Vorbereitungen mit­einzubinden.

Was ebenso völlig im Unklaren ist, sind beispielsweise Fragen bezüglich der EU-Wahl, die uns ja auch in Bälde ins Haus steht. Wie wird mit den aus heutiger Sicht – der Stichtag war vorgestern – noch wahlberechtigten Briten umgegangen? Die SPÖ hat den Leiter der Bundeswahlbehörde, nämlich den Herrn Innenminister, bereits vor lan­ger Zeit darauf hingewiesen, dass es eine diesbezügliche Problematik geben könnte. Seine Antwort im Wesentlichen: keine Reaktion.

Damit ist aus meiner Sicht einer potenziellen Wahlanfechtung wieder einmal Tür und Tor geöffnet; man muss sagen, darin haben wir ja mittlerweile Erfahrung. Oder wird gar schon damit spekuliert? – Ich kann das jetzt nur einmal vermuten. Wir werden sehen, wie es ausgeht. Der Herr Innenminister ist jedenfalls dringendst aufgefordert, diese Un­klarheiten zu beseitigen.

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Tatsache ist schon: Dieses drohende oder exis­tierende Chaos kommt nicht von ungefähr. Es waren die rechtspopulistischen, nationa­listischen Kräfte dafür verantwortlich – Johnson und Co; ich muss sie, glaube ich, nicht alle aufzählen –, die ganz bewusst und gezielt den Menschen in Großbritannien völlig falsche Versprechungen gemacht haben, die gezielt Misstrauen gegenüber der EU ge­schürt haben (Bundesrat Krusche: Schuld ist die österreichische Bundesregierung, genau! – weitere Zwischenrufe bei der FPÖ), die gezielt mit der Unzufriedenheit der Menschen gespielt haben – hört mir einmal zu, dann werdet ihr mir vielleicht recht ge­ben! –, die gehetzt und gezündelt haben, die gesagt haben, ohne EU fließt viel mehr Geld in die britische Wirtschaft, und so weiter und so fort. – Nichts davon ist und war richtig. Mit Fake News hat man tatsächlich den Brexit herbeigeführt, ohne sich dabei um die Folgen zu kümmern.

Wir wissen heute, die meisten der dafür Verantwortlichen sind nur kurz darauf zurück­getreten und stellen sich somit in keinster Weise ihrer politischen Verantwortung. Erst kürzlich haben wir auch eine Androhung von Nigel Farage – wie auch immer man ihn aussprechen möchte – gehört (Zwischenrufe bei der FPÖ), dass er im Falle einer Ver­schiebung des Brexits oder des Austritts über die EU-Wahl hinaus mit einer eigenen Liste, mit einer eigenen Partei, nämlich der Brexitpartei, bei der Wahl antreten möchte. Das ist aus meiner Sicht mehr als zynisch und ein sehr eindeutiges Zeichen dafür, wo­hin rechtskonservative Mehrheiten führen. Insofern kann und muss uns hier in Öster­reich das Debakel rund um den Brexit ein wirklich negatives Beispiel sein, dem wir tunlichst nicht folgen sollten.

Auf eines muss ich schon noch hinweisen: dass selbst die FPÖ den Öxit, wenn man ihn so nennen darf, nicht ausschließt, ist ja auch kein Geheimnis. (Beifall bei der SPÖ. – Uh-Rufe bei der FPÖ.) – Ja, ich darf hier an Aussagen des Herrn Vilimsky erin­nern, der ja doch auch ein bisschen in der EU zu tun hat (neuerliche Zwischenrufe bei der FPÖ), zumindest sagt man, er sei hin und wieder dort. Beispielsweise hat er im Jahr 2016 in einem Facebook-Statement gesagt, er könne sich einen Austritt Öster­reichs aus der EU sehr gut vorstellen. Auch Herr Vizekanzler Strache hat schon 2010 mit einer Volksbefragung in Österreich geliebäugelt. (Bundesrätin Mühlwerth: Na, wie lange ist das her?! Sie können rechnen! Also!) – Ja, na und? Bis jetzt hat er das noch nicht richtiggestellt und korrigiert, muss man sagen. (Bundesrat Pisec: Sicher hat er das korrigiert!)

Heute ist schon oft von Vertrauen gesprochen worden, auch von Vertrauen in die EU. Wenn wir in Österreich keine Zustände wie in der jetzigen Brexitsituation haben wollen, kann ich wirklich nur an die Regierungsparteien appellieren: Treten wir rasch in einen Dialog für ein starkes Europa, für ein geeintes Europa und – vor allen Dingen – für ein soziales Europa ein! Ich erwarte mir von den Regierungsparteien auch wirklich ein ganz klares Nein zu einem möglichen Öxit. (Beifall bei der SPÖ.)

16.17

Vizepräsident Dr. Magnus Brunner, LL.M.: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Bundesrat Mag. Christian Buchmann. Ich erteile es ihm. (Bundesrat Krusche: Ihr müsst eine Entschließung da machen! Das wäre dringend erforderlich! – Bundesrat Weber: Nein, das wäre eure ... ! – Bundesrätin Mühlwerth: Nein, wirklich nicht! Wir haben unsere Arbeit gut getan! – Heiterkeit bei der SPÖ.)