17.42

Bundesrätin Doris Hahn, MEd MA (SPÖ, Niederösterreich): Geschätzter Herr Präsident! Geschätzte Damen Bundesministerinnen! Liebe Gäste auf der Galerie und vor den Bildschirmen zu Hause! Werte Kolleginnen und Kollegen! Noch ein Wort zur Vorrednerin, Kollegin Mühlwerth: Ja, es haben sich vielleicht schlicht und einfach die Gegebenheiten und die Gesellschaft verändert, und eine veränderte Gesellschaft be­dingt nun einmal auch ein verändertes Bildungssystem. Aber das wollen offensichtlich nicht alle hier in diesem Raum wahrhaben.

In der vorliegenden Gesetzesänderung ist wahrlich eine Fülle an unterschiedlichsten Maßnahmen im Bildungsbereich enthalten, die aus unserer Sicht auch entsprechend unterschiedlich und individuell zu beurteilen sind. Begrüßenswert und durchaus unter­stützenswert ist beispielsweise der Bereich betreffend die Lehrpläne der Polytech­nischen Schule. Diese werden eben modernisiert und entwickeln sich hin zu einer Kompetenzorientierung, wie das beispielsweise ja auch schon in den Mittelschulen der Fall ist.

Die geplante Orientierungsphase für die Wahl von alternativen Pflichtgegenständen einzuführen erscheint uns ebenso zweckmäßig. Auch der gesamte Bereich der Daten­weitergabe zwischen elementaren Bildungseinrichtungen und Schulen ist aus unserer Sicht durchaus als positiv und sinnvoll zu bewerten, damit eben im Bedarfsfall pass­genaue Fördermaßnahmen, besonders im sprachlichen Bereich, für das jeweilige Kind getroffen werden können. – So weit zum Positiven in diesem Gesetzeskonvolut.

Wenn man sich aber die Gesetzesänderung im Detail anschaut, sieht man Folgendes: Es überwiegen darin leider die negativen Änderungen, wenn man es ganz genau betrachtet. Dazu gehören für uns zum einen das Einführen von Leistungsgruppen auch an den Polytechnischen Schulen. Nach den Mittelschulen werden nun also auch die Schülerinnen und Schüler im Poly in zwei Leistungsgruppen eingeteilt und selektiert. Es wird also weiterhin schubladisiert. Schülerinnen und Schülern wird leistungs­technisch weiterhin ein Stempel aufgedrückt, den sie dann über ihre gesamte Bildungs­karriere hinweg nur ganz, ganz schwer wegbekommen; im Grunde also zurück zu A- und B-Zug, wie es in den Siebzigerjahren modern und pädagogisch en vogue war. Ich persönlich habe dieses Modell zum Glück in meiner Bildungskarriere nicht mehr erle­ben müssen, umso erschreckender ist es jetzt für mich, dass ich zukünftig in meinem Lehrerinnenleben dazu noch gezwungen sein werde. (Bundesrat Rösch: ... schlech­treden!)

Weiter geht es mit den individuellen Kompetenzmessungen. Diese waren ja bisher auf freiwilliger Basis in der 7. Schulstufe von den Lehrkräften durchzuführen. Jetzt wird die legistische Grundlage dafür geschaffen, dass nun auch schon in der Volksschule, also in der 3. und dann auch in der 7. Schulstufe, verpflichtend zu prüfen ist. Und das unter dem Deckmantel der – ich zitiere – „Schaffung einer Evidenzgrundlage für Förder­planung, Unterrichtsentwicklung und schulische Qualitätsarbeit.“ So heißt es jeden­falls in der Begründung zum Gesetzestext.

Das klingt auf den ersten Blick sehr erfreulich. Was damit aber wirklich Realität werden soll und wird, ist der gläserne Lehrer, die gläserne Lehrerin beziehungsweise die gläserne Schule. Das ist jedenfalls aus meiner Sicht sehr stark zu befürchten.

All das im Zusammenhang mit der Selektierung der Schülerinnen und Schüler in Leistungsgruppen, wie ich es eben ausgeführt habe, von der Volksschule weg und zusammen mit der Frage, ob das Kind dann AHS-tauglich ist oder nicht, erzeugt einen ganz, ganz immensen Druck; Druck auf die Kinder und Jugendlichen selbst, die sich dann immer wieder fragen müssen, ob sie überhaupt gut genug sind, oder sich vielleicht – wenn sie eben diese AHS-Reife nicht erreichen können – sogar fragen: Bin ich dumm?

Es erzeugt Druck auf die Eltern, die im Normalfall das Beste für ihr Kind wollen und schon früh mit dem Dilemma konfrontiert sind: Welcher Schultyp ist für mein Kind geeignet, über- oder unterfordere ich damit unter Umständen mein Kind?

Und eines dürfen wir auch nicht vergessen: den dadurch noch zusätzlich verstärkten Druck auf die Lehrkräfte, die ihren Schülerinnen und Schülern selbstverständlich keine Chance verbauen möchten und die dann immer wieder auch noch dem Druck seitens der Erziehungsberechtigten ausgesetzt sind, möglichst gut zu beurteilen, damit zum Beispiel dann Aufnahmen in eine höhere Schule möglich sind. (Bundesrätin Mühlwerth: Die gibt es aber jetzt schon!)

Traurige Tatsache ist, dass Türkis-Blau vor nicht ganz zwei Jahren damit begonnen hat, mit zahlreichen Maßnahmen unser Bildungssystem aus meiner Sicht in das päda­gogische Mittelalter zurückzukatapultieren. Tatsache ist aber auch: Das Institut für Höhere Studien hat Ende Juni das Ergebnis einer Studie präsentiert, die sich mit dem Thema Schulabbrecher beschäftigt hat. Diese Ergebnisse fallen aus meiner Sicht mehr als eindeutig aus und bestätigen uns da in jeglicher Weise – und sie sollten uns auch hellhörig werden lassen!

Ich zitiere aus einem Artikel des „Kurier“ in diesem Zusammenhang: „Die Bildungs­politik von Türkis-Blau hat selektive Elemente (Wiedereinführung von Leistungs­grup­pen in NMS bzw. der Benotung in der 1./2. Volksschule, Stärkung von Sonderschulen etc.) weiter gestärkt. ‚Eine Politik, von der man eigentlich weiß, dass sie gescheitert ist‘, nennt das Co-Autor Lorenz Lassnigg.“ – Hört, hört!

Fakt ist, die Gesetzesänderung, die wir heute beschließen sollen, trägt im Wesent­lichen nicht viel dazu bei, um dieser Tatsache entgegenzuwirken. Da ist eine Zustim­mung unsererseits, auch wenn einzelne Punkte durchaus zu begrüßen wären, nicht möglich. Mit Rezepten aus der Vergangenheit ein Bildungssystem der Zukunft ge­stalten zu wollen wird eben nicht funktionieren. Das bestätigen uns zahlreiche führende Bildungsexpertinnen und -experten. Ich habe an dieser Stelle unter anderem auch Stefan Hopmann wiederholt zitiert, der in keinster Weise im Verdacht steht, in Verbindung mit der Sozialdemokratie zu stehen, oder beispielsweise habe ich auch aus dem Nationalen Bildungsbericht zitiert, der in das gleiche Horn stößt.

Auch das IHS zeigt deutlich auf, dass ein Verfestigen der Selektion durch Leistungs­gruppen, die verstärkte, nennen wir sie einmal, Testitis und dergleichen uns eben nicht ans Ziel bringen, nämlich zu einem modernen, motivationsgetragenen Bildungssystem, das den gesellschaftlichen Veränderungen und Herausforderungen auch wirklich Rechnung trägt.

Im Policy Brief des IHS heißt es dazu: „Deutlich erfolgsversprechender sind päda­gogisch-didaktische Ansätze sowie Professionalisierungsstrategien bei Lehrpersonen. Konkret zu denken ist hier an einen stärker phänomen- statt fächerbasierten Unterricht, um vernetztes Denken in Zusammenhängen zu fördern, zu denken ist an intrinsische Anreizsysteme anstelle von Noten- und Testdruck, ein Schwerpunkt sollte schließlich auf der Ressourcenorientierung anstelle der Defizitorientierung sowie auf der Inklusion anstelle der Selektion liegen.“

Insofern bin ich schon einigermaßen verwundert und auch enttäuscht, dass Sie als zuständige neue Ministerin die nun legistisch im vorliegenden Gesetzestext sozusagen eingerahmten Maßnahmen Ihres Vorgängers doch eher unkritisch betrachten und sie ohne Reflexion auch wirklich übernehmen. Wir werden sehen, wie sich die künftige Regierung zusammensetzen wird und wie der künftige Bildungsminister oder die künf­tige Bildungsministerin mit dieser Thematik umgehen wird.

Eines sollte uns jedenfalls klar sein: Wie die Politik das Bildungswesen gestaltet, ent­scheidet zu einem ganz, ganz wesentlichen Teil über die Bildungskarrieren der Kinder und Jugendlichen. Daher möchte ich abschließend eine Frage an Sie alle richten, die jeder und jede für sich beantworten soll: Gestehen wir mit den Maßnahmen, die wir hier beschließen oder die hier beschlossen werden sollen, auch wirklich jedem Kind die gleichen Bildungschancen zu? (Bundesrätin Mühlwerth: Ja!) – Ich habe leider nicht den Eindruck, dass wir das an dieser Stelle und in diesem Moment tun, und daher gibt es seitens der sozialdemokratischen Fraktion auch keine Zustimmung zu diesem Ge­setzentwurf. (Beifall bei der SPÖ.)

17.51

Vizepräsident Dr. Magnus Brunner, LL.M.: Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Sonja Zwazl. Ich erteile es ihr.