Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 116. Sitzung / 104

Europas sicherheitspolitische Situation ist somit gekennzeichnet vom Übergang von einem sogenannten ,high risk - high stability' zu einem ,low risk - lower stability' System. Diese neue sicherheitspolitische Lage bedingt die Notwendigkeit, die bisherige Sicherheitsarchitektur von Grund auf neu zu überdenken. Vor allem im Hinblick darauf, daß nicht nur die wirtschaftlichen, politischen, kulturellen oder auch militärischen Verflechtungen und Abhängigkeiten stetig zunehmen, sondern ebenso Bedrohungen, Gefahren und Krisen grenzübergreifend wirken, ist Sicherheit nicht im Alleingang und gegen andere, sondern nach Meinung vieler Experten nur noch kollektiv und gemeinsam erreichbar.

Was für Europa seine Gültigkeit besitzt, ist in erhöhtem Maße auch für Österreich gültig, vor allem wenn man bedenkt, daß der technische Fortschritt der Waffensysteme insbesondere Kleinstaaten sichtlich überfordert. So ist für sie etwa der Aufbau eines eigenen Raketenabwehrsystems und Maßnahmen zum Einsatz oder der Abwehr von elektronischen Kampfmitteln (Satellitenaufklärung, elektronische Aufklärungssysteme, Störsender etc. ...) sowie die Bereitstellung von rasch verfügbaren Krisenreaktions- und Verteidigungskräften - vor allem im Bereich des Luftraumschutzes - völlig undenkbar. Die Annahme einiger österreichischer Regierungspolitiker, man könne solche Systeme teilweise von anderen Staaten ,leihen', ist illusorisch. Sicherheitspolitische ,Trittbrettfahrer' werden von keiner Sicherheitsgemeinschaft geduldet werden, wie das Beispiel Deutschlands in der Frage seiner Auslandseinsätze (Somalia und Bosnien-Herzegowina) deutlich zeigt.

Die österreichische (Nicht)Debatte

Österreich hat 1955 - nach zehnjähriger Besatzung - durch den Staatsvertrag seine Souveränität wiedergewonnen. Voraussetzung dafür war de facto die Verpflichtung zur dauernden Neutralität. Diese wurde nicht als Staatsideologie, sondern als Mittel zur Erreichung eines sicherheitspolitischen Zieles - Wiedererlangung und Bewahrung der Souveränität, Abzug der Besatzer - beschlossen. Seinen aus der Neutralität resultierenden Verteidigungspflichten ist Österreich in der Vergangenheit nur äußerst unzureichend nachgekommen. Wir verdanken, im Gegensatz zur weitverbreiteten und von politischen Gruppen geförderten Meinung, die ,Friedensperiode' nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unserer Neutralität, sondern der Abschreckungswirkung des westlichen Bündnisses - der NATO. In dieser Phase der Umwälzungen und der Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Sicherheitssystems hätte Österreich nun erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Chance seine Sicherheitspolitik frei zu gestalten und einen Beitrag zum Aufbau dieser neuen Ordnung zu leisten.

Die Bundesregierung wäre daher in dieser Phase des Umbruchs gefordert, die entscheidenden sicherheitspolitischen Weichenstellungen zum Wohle unserer Heimat zu treffen. Sie ist aber, wie in vielen anderen Fragen, uneinig und nicht handlungsfähig. Nahezu jeden Tag wird von Mitgliedern der Regierungsparteien ein anderer Standpunkt in Fragen der Sicherheitspolitik vertreten. Aus diesem Grund kommt es auch von seiten der Koalitionsfraktionen zu keiner umfassenden und ehrlichen Diskussion der Sicherheitspolitik im Hohen Haus. Den Höhepunkt bildet das Versagen der Bundesregierung, den gemeinsam in der Regierungserklärung in Aussicht genommenen Optionenbericht, wie vereinbart, bis zum 31. März 1998 dem Nationalrat vorzulegen.

Sowohl die Entscheidungsschwäche der Regierung als auch der Versuch der Diskussionsverhinderung im Parlament (mehrfache Vertagung der Oppositionsanträge) haben dazu geführt, daß die Geschichte Österreich zu überholen droht. Die Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur schreitet mit schnellem Schritt voran, während die Debatte in Österreich am Stand tritt. Während unsere Nachbarstaaten Ungarn, Tschechien bereits 1999 NATO-Mitglied sein werden und Slowenien an der zweiten Erweiterungsrunde teilnehmen wird, ist es noch unklar, ob Österreich im Gegensatz zu vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zumindest assoziierter Partner der parlamentarischen Versammlung der NATO (NAA) ist.

Das offizielle Österreich versucht diese Entwicklung aber immer mehr zu negieren und verwickelt sich dabei in Widersprüche. Man gaukelt der Bevölkerung ein Konzept der österreichischen Sicherheit vor, daß einerseits aus dem Aspekt der Beibehaltung der Neutralität bei gleichbleibend niedrigen Aufwendungen für die Landesverteidigung besteht und andererseits die


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