Ich meine, daß es einen qualitativen Sprung in der Rechtsprechung des Höchstgerichtes darstellt, wenn man von der Anonymität zur Transparenz übergeht und wenn es dazu kommt, daß es von diesem amorphen Spruchkörper des Verfassungsgerichtshofes aus auch ein bißchen den Sprung zum Individuum mit der "dissenting opinion" gibt.
Frau Präsidentin Limbach hat auch versucht, den Zuhörern, den anwesenden Experten und Abgeordneten, die Angst zu nehmen. Die österreichischen Verfassungsrichter begründen ihre Ablehnung vor allem damit, daß der Aufwand und die Arbeit allzu groß sein werden. – Selbstverständlich ist es ein Aufwand, eine "dissenting opinion" zu formulieren und sie dann auch schriftlich auszufertigen! Aber was ich immer noch nicht verstehe, ist, warum man sich vor dieser Aufgabe so scheut! Denn was heißt das? – In der Praxis würde das ja heißen, daß jene, die auch sonst in "dissenting opinion" sind, das nicht genau überlegen und begründen wollen. (Die Rednerin dreht sich im Zuge ihrer Ausführungen immer wieder nach hinten, zum vorsitzführenden Präsidenten Dr. Brauneder um.)
Ich spreche immer wieder zum Herrn Präsidenten, weil er ja einer der wenigen ist, die jetzt da sind und auch bei der Enquete anwesend waren. Das Argument, daß der Arbeitsaufwand ein großer ist, ist ja dadurch zu entkräften – und das habe ich ja dort auch den Verfassungsrichtern entgegengeworfen –, daß man fragt: Ja wird denn sonst nicht genau überlegt und juristisch begründet?! – Das ist für mich eine Frage aus der Praxis der Betroffenheit. Die Antwort darauf sind sie mir auch schuldig geblieben.
Frau Kollegin Frieser informiert das noch anwesende Plenum des Nationalrates sehr falsch, wenn sie meint, daß alle Richter des Verfassungsgerichtshofes gegen die "dissenting opinion" gewesen seien. Also bitte! Der Präsident des Verfassungsgerichtshofes hat in seinen Ausführungen eine eindeutige Stellungnahme für die "dissenting opinion" abgegeben!
Er hat dann natürlich, weil er ja der Präsident ist, seine persönliche Meinung zurückgestellt und sich sozusagen der Mehrheit des Spruchkörpers angeschlossen. Das ist genau das, was wir für die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes einfordern! Das war geradezu ein Musterbeispiel für eine "dissenting opinion"!
Wir fordern, daß jemand, der nicht die Mehrheitsmeinung vertritt, transparent, nachvollziehbar, anschaulich und auch – wir sind ja hier die Volksvertretung! – volksnäher begründet, warum er sich nicht der Meinung der Mehrheit anschließt. Insofern, so muß ich sagen, war diese positive Übung ja ein Beispiel dafür, wie es demnächst im Verfassungsgerichtshof schon sein könnte.
Und was es – sozusagen aus der Sicht der Betroffenen gesprochen – für mich so notwendig macht, dieses Minderheitsvotum einzuführen, ist die Tatsache, daß der Verfassungsgerichtshof diesen Nimbus der Unfehlbarkeit verlieren sollte. Er ist nämlich nicht unfehlbar.
Durch die "dissenting opinion" wird nun die Möglichkeit geschaffen, diesen Nimbus abzubauen, und wird erreicht, daß die Richter sich als das präsentieren, was sie sind, nämlich Menschen auf zwei Beinen mit einem Hirn, die aufgrund der Rechtsordnung bestimmte Entscheidungen zu treffen haben.
Letztendlich ist eine "dissenting opinion" nichts anderes als auszuführen, daß auch anders entschieden hätte werden können, und die Möglichkeit, die wesentlichen Argumente für eine andere Entscheidung, die auch möglich gewesen wäre, nachzuvollziehen.
Ein Letztes noch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich meine, daß auch die Spannbreite der strittigen Meinungen, die es im Verfassungsgerichtshof gibt, und dieses Getuschel dann im nachhinein – wer hat wann, wie und wo; ich meine, es spricht sich ja letztendlich alles herum – vermieden werden könnten, daß damit endlich Schluß sein könnte.
Für mich ist es eine Tatsache, daß die Verfassungsrichter und -richterinnen in Österreich nicht nur so klug, sondern auch so besonnen sind, dieses Instrument nur in wirklich wesentlichen Fragen einzusetzen. Es gibt zum Beispiel in Deutschland ja keinen Zwang zur "dissenting opinion", sondern nur die Möglichkeit, dieses Instrument einzusetzen. Und das wird dort sehr sorgsam