Nationalrat, XXI.GP Stenographisches Protokoll 49. Sitzung / Seite 95

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Zum Beweis der reinen Opferrolle Österreichs hat der Herr Bundeskanzler in seiner Rede am Dienstag lange Passagen eines Telefonates zwischen Seyss-Inquart und Hermann Göring am Abend des 11. März 1938 zitiert. Was der Herr Bundeskanzler dabei aber unter den Tisch fallen ließ, war, dass Seyss-Inquart nicht ein verschwörerischer, illegaler Nationalsozialist war, sondern zu diesem Zeitpunkt Mitglied der österreichischen Bundesregierung und österreichischer Innenminister.

Meine Damen und Herren! Die Nationalsozialisten kamen daher nicht bei Nacht und Nebel im Gefolge der einmarschierenden deutschen Wehrmacht ins Land, sondern sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglieder der Bundesregierung, und das auf Grund eines Vertrages des damaligen österreichischen Bundeskanzlers mit Adolf Hitler. Auch in der österreichischen Bundesregierung saßen am 11. März 1938 nicht nur Opfer, sondern auch Täter.

Meine Damen und Herren! Die historische Wahrheit ist ganz einfach, dass 1938 und in der Zeit davor die Probleme so vielfältig waren, dass die damalige ständestaatliche faschistische Regierung mit ihnen allein nicht fertig wurde. Dazu fehlte allein schon die für faschistische Bewegungen typische Massenbasis. Und da die Hilfe von demokratischen Staaten schlicht und einfach nicht möglich war, weil ein faschistisches Regime diese Hilfe nicht erwarten konnte, hatte letztendlich das antidemokratische ständestaatliche Regime nur zwei Möglichkeiten: sich entweder an den faschistischen Mächten Italien oder Deutschland zu orientieren oder sich im Inland Hilfe zu suchen und damit den Weg zurück zur Demokratie zu finden.

Meine Damen und Herren! Die Tragik Österreichs im Jahr 1938 und davor war, dass sich seine Regierung konsequent für den Faschismus und gegen die Demokratie entschieden hat.

Meine Damen und Herren von der ÖVP! Österreich ist 1938 nicht als demokratischer Staat untergegangen, sondern es musste als faschistischer Trabant zuerst Italiens und dann Deutschlands nahezu zwangsläufig seine Selbständigkeit verlieren, weil es den demokratischen Weg verlassen hatte. – Und das ist die historische Wahrheit!

Meine Damen und Herren! Es bleibt für mich nur die Frage: Warum diese Debatte, und warum hier und heute? – Für mich gibt es darauf nur eine erkennbare Antwort, nämlich die, dass Sie offensichtlich weder Willens noch fähig sind, die Verantwortung für die eigene Geschichte zu übernehmen. (Beifall bei der SPÖ.)

15.24

Präsident Dr. Heinz Fischer: Nächster Redner ist Herr Abgeordneter Dr. Kurzmann. Gleiche Redezeit. – Bitte.

15.24

Abgeordneter Dr. Gerhard Kurzmann (Freiheitliche): Herr Präsident! Frau Bundesminister! Hohes Haus! Leopold von Ranke, der große Historiker des vergangenen Jahrhunderts, hat die Aufgabe der Geschichtswissenschaft einmal wie folgt beschrieben oder umschrieben: Er hat gesagt, die vornehmste Aufgabe der Historie sei die Erforschung und Darstellung dessen, wie es in der Vergangenheit wirklich gewesen ist. Das ist zugegebenermaßen ein sehr puristischer Standpunkt, der durch die Entwicklung in der Geschichtsschreibung auch überarbeitet worden ist. Es gehört heute selbstverständlich auch die Interpretation zur Geschichtswissenschaft dazu. Meine Damen und Herren! Aber nur Interpretation oder nur Suggestivfragen ohne jede Grundlagenforschung können die Geschichte nicht ersetzen.

Im Laufe der Geschichte hat es immer wieder Versuche gegeben, die Geschichte zu politisieren, zu instrumentalisieren, sie in den Dienst einer politischen Partei oder, wenn Sie wollen, von Staaten, von Dynastien zu stellen, und etwas Ähnliches, so scheint mir, erleben wir auch heute. Dies ist eine vorwiegend politisch-taktische Diskussion, die nur zu dem Zweck geführt wird, um in die Schlagzeilen zu kommen. (Beifall bei den Freiheitlichen und der ÖVP.)

Was nun die Ereignisse von 1938 betrifft, so ist unbestritten, dass das damalige Österreich durch den Einmarsch ausländischer, reichsdeutscher Truppen aufhörte, zu existieren. Bundeskanzler Dr. Schuschnigg hat in einer Radiorede am 11. März 1938 wörtlich gesagt:


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