Nationalrat, XXI.GP Stenographisches Protokoll 107. Sitzung / Seite 80

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Erstens: Sie wollen den Eindruck erwecken, der Sozialstaat wäre in Österreich gefährdet. – Das ist falsch! Das ist politische Taktik, um einer Bundesregierung, einer Reformkoalition, die ihr Hauptaugenmerk auf die soziale Reform gelegt hat, gerade auf diesem entscheidenden Feld zu begegnen. (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Freiheitlichen.)

Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten, Anrechnung von Kindererziehungszeiten für die Pension, Familienhospizkarenz, "Abfertigung neu", Kinderbetreuungsgeld, Künstlersozialversicherung – all das wurde heute schon genannt. (Abg. Dr. Mertel: Unfallrentenbesteuerung, Ambulanzgebühren ...!) Ich glaube, nebenbei bemerkt, nicht, dass auch nur eines dieser Vorhaben mit Zweidrittelmehrheit in diesem Haus beschlossen werden hätte können. Sie von der Opposition wollen nicht den sozialen Fortschritt, Sie wollen bestenfalls für wenige, ja für immer weniger Leute Erworbenes absichern. Was mit den nächsten Generationen ist, ist Ihnen im Wesentlichen egal! (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Freiheitlichen.)

Zweiter Punkt – auch das wurde heute schon erwähnt –: Die Initiatoren dieses Volksbegehrens schreiben: In allen Verfassungen Europas, außer England, ist der Sozialstaat verankert. – Ich sage: Na und? Was nützt es dem Alten und Kranken in Holland oder in Belgien, wenn er zur Entsorgung ansteht, dass der Sozialstaat in der Verfassung steht? – Es nützt ihm nichts, und ich verwahre mich dagegen, dass uns die Verfassungs- und Rechtsordnungen dieser Länder als Vorbild für die sozialstaatliche Gestaltung dienen sollen! (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Freiheitlichen.)

Ich denke, wir haben hier eine bessere, eine andere Antwort in Form der Familienhospizkarenz gefunden, eine Antwort auf wirklich christlich-abendländischem Fundament. (Beifall bei der ÖVP.)

Meine Damen und Herren! Das dritte Argument ist ein demokratiepolitisches. Ich habe es schon erwähnt: Ich glaube nicht, dass irgendeines der von mir genannten großen Projekte hier mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden hätte können.

Ich möchte auch nicht – und ich habe das hier schon einmal gesagt –, dass die sozialpolitische Diskussion aus dem Parlament und aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit hinter irgendwelche Polstertüren verlagert wird und nicht mehr einsichtig ist. Und ich behaupte, dass die Verfasser dieses Volksbegehrenstextes – nicht die Unterzeichner und auch nicht alle Unterstützer – da auch noch anderes im Auge hatten.

Es ist, wenn man über Jahrhunderte das Problem der Sozialismen aller Richtungen mit der Gewaltenteilung und mit dem demokratischen Meinungsbildungsprozess verfolgt, immer ein Anliegen gewesen, neben der Gewaltentrennung und neben dem Parlament ein übergeordnetes und kontrollierendes soziales Organ zu haben, vom Wohlfahrtsausschuss bis zum Zentralkomitee. Wie erklären Sie mir, dass ausgerechnet im Herzstück unserer demokratischen Verfassung gleichrangig der Sozialstaat stehen soll?

Ich glaube, dass gerade die Spitzen der unterstützenden Parteien, und vor allem auch Herr Professor Talos, Verfassungs- und Politiklehrer der Linken, prominent seit Jahrzehnten, wissen, dass hier das alte sozialistische Motto "Demokratie, das ist nicht viel. Sozialismus heißt das Ziel!" unter neuen Gesichtspunkten wieder eingebracht werden soll. (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Freiheitlichen.)

Und aus diesen drei Gründen – aus demokratiepolitischen, aus ethischen, und weil wir für den sozialen Fortschritt stehen – werden wir mit allem Respekt und mit hohem Verantwortungsbewusstsein diesen Volksbegehrenstext im Sozialausschuss behandeln. (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der Freiheitlichen.)

13.12

Präsident Dr. Werner Fasslabend: Nächste Rednerin ist Frau Abgeordnete Wochesländer. – Bitte.


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