19.00
Abgeordnete Sabine Mandak (Grüne): Sehr geehrter Herr
Präsident! Hohes Haus! Herr Bundeskanzler! Sie haben in der
Regierungserklärung über die Familie gesprochen und dabei Folgendes gesagt:
„Den Familien ist
bewusst ein Schwerpunkt unserer politischen Arbeit gewidmet. Unser größter
Stolz, unsere größte Hoffnung sind die Kinder. Wir müssen daher alles tun, um
ihre Lebenswelt liebevoll und chancenreich zu gestalten. Die Kinder brauchen
Schutz und Unterstützung. 90 Prozent der Jugend sehen in einer intakten
Familie das schönste Lebensziel. – Ich meine, wir haben die Aufgabe, sie
zu diesem Lebensziel zu ermuntern und noch bessere Voraussetzungen dafür zu
schaffen.“ (Präsident Dipl.-Ing. Prinzhorn übernimmt den
Vorsitz.)
Herr
Bundeskanzler! Das sind ja sehr schöne Worte – ich glaube, Prosa wurde das
genannt – in einer allfälligen Regierungserklärung. Aber ich kann mir
nicht vorstellen, Herr Bundeskanzler, dass das Ihre Antwort ist auf jene
Probleme und Fragen, vor denen Familien derzeit stehen (Abg. Dr. Jarolim:
O ja!), dass Sie sagen, 90 Prozent der Jugendlichen sehen in einer
intakten Familie das schönste Lebensziel, das wollen Sie unterstützen und ihnen
sagen: Ja, so ist es, macht weiter so!, bis eines Tages ein Knall kommt und sie
in der Realität der Familie erwachen. – Ich weiß nicht, welche Familien
Sie kennen, Herr Bundeskanzler! (Beifall bei den Grünen. –
Bundeskanzler Dr. Schüssel: Es gab da eine Umfrage, Frau
Abgeordnete! Das ist aus einer Umfrage zitiert!)
Das ist aus einer
Umfrage zitiert, natürlich! Aber ich sehe es nicht als meinen politischen Auftrag,
hehre Visionen Jugendlicher noch zu bestärken, wenn ich genau weiß, wie die
Realität aussieht. Es ist auch unsere Aufgabe, Herr Bundeskanzler, die
Jugendlichen auf die Wirklichkeit, auf die Realität vorzubereiten (Abg.
Dr. Jarolim: Das ist ja Realität ...!), und diese stellt sich einfach anders
dar. Die Realität sieht nämlich so aus, dass es derzeit in Österreich
40 Scheidungen auf 100 Eheschließungen gibt, und zur Hälfte dieser
Scheidungen kommt es nach weniger als neun Jahren Ehedauer. Es sind jedes
Jahr 19 000 Kinder und Jugendliche, die hievon betroffen sind.
Genau diese Kinder und Jugendlichen brauchen Antworten, sie brauchen Antworten
in der Realität – und nicht eine Bekräftigung von Visionen allein.
Scheidung bedeutet
für diese Kinder, für diese Jugendlichen: Trennung von einem Elternteil; das
bedeutet neue Patchwork-Familien, neue Partnerschaften mit all ihren besonderen
Herausforderungen und auch Problemen. Das heißt, die Erwachsenen, die Kinder
und die Jugendlichen brauchen Beratung, Unterstützung und gesetzliche
Rahmenbedingungen, die auf diese geänderten Lebensbedingungen eingehen, die
diese neuen Formen des Zusammenlebens berücksichtigen. Das ist es, was die
Familien, die Kinder, die Jugendlichen brauchen – und nicht salbungsvolle
Worte, Herr Bundeskanzler! (Beifall bei den Grünen sowie des Abg. Dr. Jarolim.)
Scheidung bedeutet
leider auch Armut. Es sind 57 000 Menschen in Österreich, die
arbeiten und trotzdem nicht von dem Geld, das sie damit verdienen, leben
können – die „working poor“, wie sie so schön genannt werden. In
Wirklichkeit sind davon 178 000 Menschen im Land betroffen, das sind
nämlich all jene, die mit diesen Menschen in einer Familie leben. Und wer ist
am meisten betroffen? – Das ist nicht schwer zu erraten: Alleinerziehende,
Mehrkinderfamilien und Familien von Migrantinnen und Migranten. Diese
Betroffenen brauchen auch keine schönen Worte, sondern diese Betroffenen
brauchen primär eine Grundsicherung, die ihnen das Überleben ermöglicht, und
zwar auf eine menschengerechte Art und Weise.
Die Betroffenen
brauchen auch entsprechende Kinderbetreuungseinrichtungen (Beifall bei den
Grünen), und zwar deshalb, weil es ihnen sonst nicht möglich sein wird,
voll erwerbstätig zu sein, um nicht von nur 20 Stunden Erwerbstätigkeit
überleben zu müssen. Sie wissen, in solchen Situationen ist das Armutsrisiko
dreimal so hoch wie sonst. – Das wären Antworten, die wir
brauchen!
Sie haben einen sehr schönen Familienbegriff, und Sie betonen immer, wie wichtig Ihnen die Familie ist. Trotzdem gewähren Sie Menschen in Österreich nicht das Recht, mit ihrer Familie zusammenzuleben. Es geht dabei um Migrantinnen und Migranten, die hier leben. Die überwie-