jedoch nur dann erreicht werden, wenn die Mitgliedstaaten von den sekundärrechtlichen Vorgaben betreffend den RFSR abweichen dürfen.
Hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 72 AEUV ist es erforderlich, diese einerseits anhand des Wortlauts des Art. 72 AEUV und andererseits im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofes der EU (EuGH) zu vergleichbaren Abweichungserlaubnissen im Primärrecht, insbesondere im Rahmen der „ordre public“-Klauseln der Grundfreiheiten des Binnenmarkts sowie in Art. 346 und Art. 347 AEUV, zu bestimmen. Daraus ergibt sich, dass die Begriffe der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit als autonome, unionsrechtliche Begriffe zu qualifizieren sind.
Der Begriff der öffentlichen Ordnung setzt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH voraus, „dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“ (EuGH 17.11.2011, Rs. C-434/10, Aladzhov, Rn. 35). Dabei „können die konkreten Umstände, die möglicherweise die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung rechtfertigen, von Land zu Land und im zeitlichen Wechsel verschieden sein“, wodurch den Mitgliedstaaten ein „Beurteilungsspielraum innerhalb der durch [die Verträge] gesetzten Grenzen zuzubilligen“ ist (EuGH 14.10.2004, Rs. C-36/02, Omega Spielhallen, Rn. 31). Der Begriff der inneren Sicherheit umfasst nach ständiger Rechtsprechung des EuGH „die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung“ (u.a. EuGH 23.11.2010, Rs. C-145/09, Tsakouridis, Rn. 44).
„[D]en Mitgliedstaaten [steht es] im Wesentlichen weiterhin [frei], nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern, dass jedoch diese Anforderungen im Kontext der [Union], insbesondere wenn sie eine Ausnahme […] rechtfertigen sollen, eng zu verstehen sind, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Union bestimmt werden kann“ (EuGH 10.07.2008, Jipa, Rn 23). Bei Inanspruchnahme der aus Art. 72 AEUV abgeleiteten Befugnis zur Abweichung von Sekundärrecht ist die Erforderlichkeit der gesetzten Maßnahmen im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und/oder des Schutzes der inneren Sicherheit nachzuweisen (EuGH 4.3.2010, Rs. C-38/06, Kommission/Portugal, Rn. 62 ff; EuGH 15.12.2009, Rs. C-409/05, Kommission/Griechenland, Rn. 50 ff.). Das Kriterium der Erforderlichkeit impliziert die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen. Siehe dazu auch die jüngste Rechtsprechung des EuGH, wonach der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört“ (EuGH 2.9.2015, Rs C-309/14, CGIL, Rn. 24), und demnach im gesamten Anwendungsbereich des Unionsrechts zu beachten ist. Maßnahmen, die innerstaatlich aufgrund Art. 72 AEUV eingeführt werden, müssen somit zur Zweckerreichung (Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und/oder des Schutzes der inneren Sicherheit) erforderlich und verhältnismäßig sein.
Gänzliche Einhaltung primär-, völker- und verfassungsrechtlicher Vorgaben
Trotz einer aus Art. 72 AEUV abgeleiteten Kompetenzermächtigung für die Mitgliedstaaten, womit die Befugnis zur Abweichung von Sekundärrecht einhergeht, sind weiterhin alle primär- bzw. völkerrechtlichen Garantien, wie insbesondere die Grundrechte-Charta der Union (GRC) und insofern auch die EMRK und die GFK, einzuhalten.
Gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV ist die GRC mit den Verträgen (EUV und AEUV) rechtlich gleichrangig und somit Teil des primärrechtlichen Unionsrechts. Art. 51 Abs. 1 GRC bestimmt, dass die GRC nicht nur die „Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen
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