Nationalrat, XXV.GPStenographisches Protokoll123. Sitzung / Seite 139

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schutz in Form des Beschwerderechts vor den Verwaltungsgerichten und dem VwGH sowie dem VfGH zur Geltendmachung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte sowie der Zugang zur Normenkontrolle müssen in vollem Umfang gewährt werden.

Bei einer auf Art. 72 AEUV gestützten Befugnis zur Abweichung von Sekundärrecht ist die Einhaltung insbesondere folgender Grundrechte jeweils in der Ausprägung der dazu ergangenen höchstgerichtlichen Judikatur zu beachten: Aus dem Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK) ergibt sich das Verbot der Aus- oder Zurückweisung von Fremden in einen Staat, in dem eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder die Gefahr einer Kettenabschiebung (d.h. Gefahr, dass der Schutzsuchende von dort aus [weiter] abgeschoben wird) in den Herkunftsstaat ohne Prüfung der damit verbundenen Gefahren droht. Dieses Abschiebungsverbot gilt, sofern stichhaltige Gründe einer realen Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegen (EGMR 3.4.2014, A.A.M./Schweden, Nr. 68519/10, Rn. 58 ff.). Gemäß Art. 18 GRC bzw. Art. 33 GFK darf ein Fremder nicht in einen Staat aus- oder zurückgewiesen werden, in dem ihm Verfolgung droht (Non-Refoulement). Das Verbot der Aus- und Zurückweisung in einen sicheren Staat ergibt sich daraus jedoch nicht. Als „sicher“ im Sinne der GFK gilt ein Staat, sofern einerseits von ihm selbst keine Verfolgung ausgeht, sowie andererseits auch nicht die Gefahr besteht, dass der Schutzsuchende von dort aus (weiter) in den Verfolgerstaat verbracht wird (Kettenabschiebung). Des Weiteren verlangt das Verbot der Kollektivausweisung eine Individualprüfung der Schutzsuchenden, insbesondere die Feststellung der Personenidentität (Art. 19 Abs. 1 GRC bzw. Art. 4 ZP Nr. 4 EMRK), wodurch grundrechtskonform nur einzelfallbezogene Aus- oder Zurückwei­sungen erfolgen (EGMR 23.2.2012, Hirsi-Jamaa u.a./Italien, Nr. 27765/09, Rn. 183 ff.).

Das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 47 GRC bzw. Art. 13 EMRK) umfasst das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das Recht auf Behandlung der Sache vor einem unabhängigen, unparteiischen und durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen, öffentlichen Verfahren innerhalb angemessener Frist sowie das Recht auf Prozesskostenhilfe. Dabei genügt nicht die bloße Behaup­tung einer Verletzung der EMRK, sondern diese muss vertretbar begründet sein (EGMR 28.10.1999, Wille/Liechtenstein, Nr. 28396/95). Das Recht auf einen wirk­samen Rechtsbehelf ist insbesondere bei einer Abschiebung, die gegen das Folter­verbot in Art. 3 EMRK verstoßen würde, zu berücksichtigen. In einem solchen Fall, muss im Rahmen der Beschwerde eine unabhängige und gründliche Prüfung des Vorbringens über das Risiko einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung gewährleistet sein (Breuer, in Karpenstein/Mayer [Hrsg], EMRK. Kommentar2 [2015], Art. 13 EMRK Rn. 51). Dem Rechtsbehelf muss daher eine aufschiebende Wirkung zukommen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass im Falle einer Aus- oder Zurück­weisung in einen Staat, in dem keine Verletzung von Art. 3 EMRK droht, dem Rechts­behelf nicht zwingend aufschiebende Wirkung zukommen muss. Dem Betroffenen muss lediglich das Recht eingeräumt werden, gegen die Aus- oder Zurückweisung eine wirksame Beschwerde erheben zu können.

Das Recht auf eine gute Verwaltung erfordert insbesondere, dass jeder Fremde, bevor ihm gegenüber eine für ihn nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, die Möglichkeit erhält, sachdienlich und wirksam seinen Standpunkt vorzutragen (Art. 41 GRC). Ebenso muss auch das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRC bzw. Art. 8 EMRK) – unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohles – sichergestellt sein.

Eine aus Art. 72 AEUV abgeleitete Befugnis zur Abweichung von Sekundärrecht lässt die Geltung einschlägiger innerstaatlicher Normen, die Sekundärrecht umsetzen, unbe­rührt. Ist die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren


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