10.49

Abgeordneter Mag. Christian Kern (SPÖ): Meine sehr geehrten Damen und Herren auf der Regierungsbank! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuseher! Wir wissen, dass Europa an einem Wendepunkt steht. Wir sehen, dass wir an einem Punkt stehen, wo Europa massiv unter Druck kommt – und zwar durch Entwicklungen im Inneren der Europäischen Union –, indem wir es mit Regierungen und deren politi­schen Vertretern zu tun haben, die Europa ganz bewusst schwächen wollen. Wir se­hen auch, dass wir durch äußere Umstände vor massiven Herausforderungen stehen: Das ist der amerikanische Präsident – ich brauche Ihnen das nicht im Detail zu schil­dern –, der jedenfalls keinen Respekt vor der Integrität Europas hat, das ist die expan­sionistische Politik Chinas, das ist aber auch die Entwicklung digitaler Konzerne, wah­rer Riesen, die die politische Kraft entwickelt haben, ganze Länder gegeneinander aus­zuspielen.

Angesichts dieser Herausforderungen, vor denen wir stehen, bin ich davon überzeugt, dass es nur eine einzige Antwort gibt, die wir America first gegenüberzustellen haben, und diese lautet: Europe united! (Beifall bei SPÖ, NEOS und Liste Pilz.)

Es ist eine Notwendigkeit, Europa zu stärken. Wir wissen, dass es ein starkes Öster­reich nur in einem starken Europa geben kann. Es ist ein patriotischer Akt der Heimat­liebe, Europa zu stärken. Wir wissen, dass es keine Möglichkeit gibt, die Herausforde­rungen unserer Zeit innerhalb der Grenzen eines einzigen Landes zu meistern. Das wird auch Deutschland und den anderen großen Ländern nicht gelingen. Es wird uns nur dann gelingen, wenn wir gemeinsam an den Herausforderungen arbeiten.

Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir nicht alles mit dem Maßstab der Nützlichkeit beurteilen können. Ja, es ist so, dass Österreichs Volkseinkommen mit dem EU-Beitritt 50 Milliarden Euro höher ist als ohne, aber die Nützlichkeit ist nicht der einzige Maßstab, mit dem wir die europäischen Herausforderungen bewerten müssen. Es ist so, dass Europa – da hat der Herr Bundesminister völlig recht – eine Wertege­meinschaft ist.

Ich möchte an dieser Stelle für mich formulieren, was diese Werte ausmacht: Es geht um ein Bekenntnis zur Demokratie, es geht um ein Bekenntnis zum Rechtsstaat, es geht um ein Bekenntnis zur Gleichberechtigung, und es geht darum, dass wir in Euro­pa der Auffassung sind, dass die Würde des Menschen unteilbar ist. (Beifall bei der SPÖ, bei Abgeordneten der NEOS sowie der Abg. Zadić.)

Wenn wir über Europa reden und nachdenken, dann bin ich der Auffassung, dass Europa den größten zivilisatorischen Fortschritt darstellt, der auf unserem Kontinent stattgefunden hat. Wenn es ein Bild gibt, das wir mit der europäischen Einigung ver­binden, dann ist es die Handreichung von Kohl und Mitterand in Verdun angesichts Tausender Gräber von Menschen, die im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind. Das ist ein beeindruckendes Bild, denn die beiden haben uns damit gezeigt, dass es mög­lich ist, jahrhundertelange Konflikte, Chaos, Auseinandersetzungen und Rivalitäten im gemeinsamen Geist zu bewältigen.

Mitterand war es auch, der erklärt hat: Nationalismus ist Krieg! (Beifall bei der SPÖ sowie der Abg. Zadić.) Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns das vor Augen führen, gerade in einer Zeit des aufkommenden Chauvinismus und Nationalismus in vielen politischen Fragestellungen.

Sie alle kennen die Konzepte des Italien zuerst, des Frankreich zuerst, des vielleicht auch Deutschland zuerst – das alles sind politische Ansätze, die vielleicht in einem ein­zigen Land funktionieren, aber wenn alle damit anfangen, dann werden wir am Ende kein stärkeres, kein gemeinsames Europa haben, sondern dann werden alle Verlierer sein; deshalb müssen wir den Nationalismus dort einordnen, wo er hingehört, nämlich in die Vergangenheit der europäischen Geschichte. (Beifall bei der SPÖ sowie der Abg. Griss.)

Wir haben kürzlich eine Studie gesehen, die besagt, dass sich 45 Prozent der Österrei­cher aktiv zur Europäischen Union bekennen. Das ist eine Größenordnung, die zwar etwas besser als in der unmittelbaren Vergangenheit ist, aber nicht das Ziel unserer Wünsche sein kann. Unser Wohlstand, unsere Sicherheit – darauf hat der Herr Bun­deskanzler völlig zu Recht hingewiesen – hängen an dieser europäischen Einigung. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe in der Politik, Europa über die Parteigrenzen hinweg zu stärken und da zu kooperieren. Insofern darf ich Ihr Angebot, Herr Bundeskanzler, herzlich gerne annehmen.

Aus meiner Sicht geht es aber auch darum, einen rationalen, sinnvollen Dialog über Europa zu führen. Herr Bundesminister Hofer hat betont, seine Vorstellung von Europa ist weniger Europa, aber das effizienter. Ich bin der Auffassung, dass wir sehr vor­sichtig dabei sein müssen, auf dem Mythos der Gurkenkrümmungsverordnung zu sur­fen, denn wir sollten diese Diskussion ganz ernsthaft führen.

Wir haben uns in den vergangenen Wochen bemüht, zu fragen, da wir gerne in der Tiefe mit Ihnen diskutieren wollen, was denn der Grundsatz des weniger Europa, des effizienteren Europas, der Stärkung der Subsidiarität eigentlich bedeutet. Wir haben eine parlamentarische Anfrage eingebracht und wollten wissen, welche Rechtsakte Ihrer Meinung nach dem Subsidiaritätsprinzip widersprechen. Die Antwort war denkbar enttäuschend, denn Sie haben uns mehr oder weniger keine Antwort geliefert und nur darauf hingewiesen, dass das alles noch zu überlegen wäre. (Zwischenruf des Abg. Mölzer.)

Ich bin der Meinung, dass wir uns ernsthaft damit auseinandersetzen sollten, und ich stimme auch zu, dass wir die großen Fragen europäisch lösen sollen, und da ist die Präsidentschaft eine Chance dazu. Wir alle miteinander und Sie ganz besonders ha­ben durch den Ratsvorsitz wirklich die Chance dazu, Europa handlungsfähig zu ma­chen. Und wir brauchen ein handlungsfähiges Europa! (Beifall bei der SPÖ, bei Abge­ordneten der NEOS sowie der Abg. Bißmann.)

Ich möchte Ihnen ein paar Punkte mitgeben, die ich für wichtig erachte, wenn wir über die großen Fragen Europas reden: Wir haben dafür zu sorgen, dass die Solidarität intakt bleibt. Einer der Punkte, die die Solidarität untergraben, ist der Umstand des or­ganisierten Steuerbetrugs. Ich würde mir wünschen, dass Sie mit aller Konsequenz die Steuerfluchtrouten schließen. (Beifall bei der SPÖ sowie der Abgeordneten Noll und Zadić.)

Wir wissen, dass jedes Jahr 600 Milliarden Euro an Steueroasen fließen und damit dem Steueraufkommen Europas entzogen werden. Das ist nicht akzeptabel. Unser Ziel muss es sein, diese Steueroasen mit aller Konsequenz zu bekämpfen. Unser Ziel muss es auch sein, dass jene, die von diesem Großsteuerbetrug und diesen Steu­erverschiebungen profitieren, gezwungen werden, ihre Geschäfte tatsächlich offenzu­legen.

Ich muss auch sagen, dass ich mir mehr Engagement hinsichtlich der Harmonisierung von Steuersätzen wünschen würde. Wir erleben, dass Nettoempfänger in unserer un­mittelbaren Umgebung – wie Ungarn – ihre Steuersätze für Unternehmensgewinne auf 9 Prozent reduziert haben. Da beginnt sich eine Spirale in Gang zu setzen, bei der am Ende die einzigen Steuerzahler, die übrigbleiben, die Arbeitnehmer und Arbeitnehme­rinnen, die Arbeiter und Angestellten, Einzelpersonen, Klein- und Mittelunternehmer sein werden. Das ist, ehrlich gesagt, nicht mein Bild von Europa. Wenn wir das zu­lassen, dann schwächen wir die Solidarität. (Beifall bei der SPÖ.)

Ich erwarte als Zweites, dass wir dem Lohn- und Sozialdumping einen Riegel vorschie­ben. Lohn- und Sozialdumping darf sich in Europa nicht lohnen. Es kann nicht sein, dass Länder mit niedrigeren Sozialstandards davon profitieren, wenn ihre Arbeitneh­mer in Länder mit höheren Sozialstandards geschickt werden. Da entsteht eine Spirale, an deren Ende wir nur Verlierer sind.

Die Einschränkung der Personenfreizügigkeit wird uns da auch nicht helfen, denn das ist nicht die richtige Antwort. Wir haben uns darum gekümmert, dass die Entsendericht­linie im Europäischen Rat beschlossen wird und dass sie letztendlich vor drei Wochen auch im Europäischen Parlament beschlossen worden ist. Das ist ein entscheidender Fortschritt, aber er reicht nicht. Jetzt geht es darum – da liegt der Ball bei Ihnen –, dass wir dafür sorgen, dass die Gesetze, die beschlossen worden sind, auch tatsächlich kontrolliert werden. Dafür brauchen wir eine europäische Arbeitsagentur, am besten in Österreich, und ich bitte Sie, dieses Projekt zu unterstützen. (Beifall bei der SPÖ.)

Ich darf in diesem Zusammenhang die Bischöfe zitieren, die in ihrem beeindruckenden Europagebet festgehalten haben, dass es notwendig ist, ein soziales Europa zu bauen. Ich halte die soziale Säule für wirklich entscheidend, und da geht es nicht darum, dass wir vernadern, dass österreichisches Geld an osteuropäische Länder bezahlt wird, son­dern da geht es darum, dass wir unsere eigenen Standards schützen. Es geht mir auch da um eine rationale Diskussion.

Der dritte Punkt, der mir wichtig ist, ist jener, den wir vielleicht schon ein bisschen ver­gessen haben. Vor mehr als zehn Jahren hat uns die Finanzkrise, die wüsten Spe­kulationen, der entgrenzte Kapitalismus an den Rand des Abgrunds geführt. Wir haben bis heute noch nicht die Konsequenzen daraus gezogen, was das bedeutet. Wir wis­sen, dass wir die Spekulationen einzudämmen haben. Es ist wichtig, dass das Projekt der Finanztransaktionssteuer wieder Fahrt aufnimmt. Es ist wichtig, dass wir die Ban­kenunion vollenden. Es ist wichtig, dass wir einen europäischen Währungsfonds schaf­fen, um uns verteidigen zu können, wenn sich die Geschichte wiederholt.

Da geht es mir nicht darum, dass das eine Transferunion ist, und da würde ich Sie bitten, das auch nicht zu vernadern, denn wenn es heute Spekulationen gegen ganze Länder wie Griechenland oder Italien gibt, dann betrifft uns das alle, dann können wir nicht wegschauen, denn am Ende werden wir diese Rechnung zahlen. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen enttäuscht über die Zurückhaltung, die Sie diesbezüglich bislang an den Tag gelegt haben. (Beifall bei der SPÖ sowie des Abg. Noll.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe gelesen, es geht um eine Achse der Willigen. Ich kann das nur voll und ganz unterstützen. Ich meine, um diese Herausfor­derungen zu bewältigen, sollten wir diese Achse der Willigen mit den Macrons, den Merkels, den Scholz’, den Sanchez’ anführen, nicht mit jenen, die Europa schwächen wollen, wie den Orbáns, den Salvinis. Wir brauchen ein handlungsfähiges Europa, und wir brauchen das Verständnis dafür, dass es unsere Schicksalsgemeinschaft ist. (Bei­fall bei SPÖ, NEOS und Liste Pilz.)

Ich darf zum letzten Satz kommen. Jacques Delors hat einmal formuliert: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“. Ich möchte hinzufügen: Ich denke, dass sich nie­mand in einen Binnenmarkt verliebt und auch nicht in die Grenzsicherung. Es ist eine Notwendigkeit, aber wir brauchen eine kraftvolle Vision und das Verständnis, dass wahrer Patriotismus, wahre Heimatliebe nicht nur rot-weiß-rot, sondern europäisch ist. – Danke. (Anhaltender Beifall bei der SPÖ sowie Beifall bei Abgeordneten von NEOS und Liste Pilz.)

11.00

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Abgeordneter Wöginger. – Bitte.