15.24

Bundeskanzler Sebastian Kurz: Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Geschätzter Herr Präsident! Vor allem aber liebe Kinderbürgermeister aus Graz, die ich gerade treffen durfte – schön, dass wir uns nun im Parlament wiedersehen!

Sehr geehrter Herr Abgeordneter Pilz, ich werde versuchen, auf vieles von dem einzu­gehen, was Sie gesagt haben. Ich werde es allerdings in einer sachlicheren und weni­ger polemischen Art und Weise versuchen, weil ich glaube, dass das der politischen Kultur ganz guttut. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Ich beginne daher bei einem Thema, von dem ich glaube, dass es wichtig ist, es festzuhalten, damit hier nicht schrittweise Geschichtsfälschung betrieben wird. Sie haben die Frage der Grenzkontrollen in Europa angesprochen und eine klare Schuld­zuweisung gemacht. Ich glaube, die Realität schaut ein bisschen anders aus. Wenn es eine Verantwortung dafür gibt, dass heute wieder Grenzkontrollen in Europa notwendig sind, wenn es eine Verantwortung dafür gibt, dass viele Menschen in Europa sich heute wieder Grenzen im Inneren wünschen, dann liegt diese Verantwortung bei all jenen, die 2015 und 2016 eine falsche Flüchtlingspolitik betrieben haben. (Beifall bei ÖVP und FPÖ. – Zwischenrufe bei der SPÖ.)

Ich möchte Sie schon ersuchen, nicht jenen die Schuld zu geben - - (Neuerliche Zwi­schenrufe bei der SPÖ.)

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka – das Glockenzeichen gebend –: Sie haben vorhin eingefordert, dass man eine gewisse Disziplin einhält; das würde ich jetzt auch einmahnen wollen. (Zwischenrufe bei der SPÖ.)

Bundeskanzler Sebastian Kurz (fortsetzend): Schauen Sie, das Problem ist immer: Wenn Argumente nicht mehr ausreichen, dann gibt es Polemik oder Zwischenrufe. (Rufe bei der SPÖ: Sie waren Integrationsminister! Tatsache! Das kann man nach­lesen!) Wenn Sie sich dann beruhigt haben, lassen Sie mich vielleicht wieder ein paar Gedanken weiter ausführen. (Abg. Noll: Herr Bundeskanzler, beruhigen tun wir uns, wenn wir uns beruhigen wollen, und nicht, wenn Sie uns das sagen! – Beifall und Bravorufe bei SPÖ und Liste Pilz.)

Herr Abgeordneter Pilz, was ich Ihnen versprechen kann, ist, dass in Österreich nun eine Regierung die Führung hat, die versuchen wird, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Ich bin froh, dass sich auf europäischer Ebene die Dinge in genau dieselbe Richtung entwickeln. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Es haben nämlich mittlerweile mehr und mehr auf europäischer Ebene verstanden, dass es nur mit einem ordentlichen Außengrenzschutz, nur mit einer Trendwende in der Politik möglich ist, ein Europa ohne Grenzen im Inneren zu sichern. Ich gebe heute ein Versprechen ab: Wir werden es zustande bringen, dass das Europa ohne Grenzen im Inneren wieder eine Selbstverständlichkeit ist. Der Weg dorthin wird ein schwieriger und ein herausfordernder werden. Und ja, vielleicht werden Staaten wie Deutschland auf nationale Maßnahmen setzen, weil sie zuerst so lange in die falsche Richtung gelaufen sind, dass sie nun in ihrer Hektik versuchen, da gegenzusteuern, wo zu lange weggesehen wurde. (Zwischenruf der Abg. Duzdar.)

Wir haben einen Plan – und wir haben den Plan schon lang –, nämlich in der Euro­päischen Union sicherzustellen, dass sich die Staaten untereinander nicht noch mehr in der Frage der Verteilung zerkriegen, dass die Gräben nicht größer werden, sondern dass wir gemeinsam alles versuchen, um die Probleme bei der Wurzel zu packen. Das ist zum Ersten mehr Hilfe vor Ort und Unterstützung für die Menschen, die wirklich in Not sind. (Zwischenrufe bei der SPÖ.) Das ist zum Zweiten der Außengrenzschutz, um sicherzustellen, dass die Menschen nach der Rettung gar nicht mehr nach Europa gebracht werden. Und dann kann man in Europa auch wieder sicherstellen, dass es keine Grenzen im Inneren und keine Gräben zwischen den Mitgliedstaaten gibt und alle gemeinsam in dieselbe Richtung agieren. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Wenn Sie das kritisch sehen, dann ist das Ihr gutes Recht. Das haben weder grüne Ab­geordnete noch Abgeordnete der Liste Pilz entschieden, sondern die Staats- und Regierungschefs haben eine Entscheidung in diese Richtung getroffen. Ich sage allen Vertretern im Parlament hier heute eines: Es war parteiübergreifend möglich, diese Entscheidung im Rat zu treffen.

Der Premierminister von Malta hat gesagt, dass er ein Sozialdemokrat ist, er aber, wenn es um den Schutz der Grenzen geht, sehr klar ist. (Zwischenruf bei der SPÖ.) Der liberale Premierminister Mark Rutte ist mein engster Verbündeter auf europäischer Ebene. (Ruf bei der SPÖ: Ich habe geglaubt, das ist der Orbán!) Auch die konser­vativen Regierungschefs haben den Beschluss letzte Woche selbstverständlich mitge­tragen. Ich sage Ihnen, ich bin sehr hoffnungsfroh, denn der Beschluss letzte Woche hat eine Trendwende gebracht. Er gibt uns die Möglichkeit, nun auch die notwendigen Maßnahmen vor Ort umzusetzen. Die Veränderung in den Köpfen hat begonnen, nun muss sie auf den Boden gebracht werden, und da werden wir als Ratsvorsitz Treiber sein und unseren Beitrag leisten. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Ich bitte Sie daher, uns nicht zu unterstellen, dass wir keinen Plan haben, sondern vielmehr zu akzeptieren, dass wir nicht erst jetzt einen Plan haben, sondern schon in Zeiten einen Plan gehabt haben, wo Sie das nicht wahrhaben wollten – das ist die Realität. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Dieser Plan wird mehr und mehr Wirklichkeit.

Ich erlebe derzeit in Deutschland zwei Dynamiken, nämlich zum einen die Überzeu­gung, dass sich die Flüchtlingspolitik und die Migrationspolitik ändern müssen. Das ist gut und richtig, das unterstütze ich aus tiefster Überzeugung, ganz gleich, mit wem ich da in Kontakt bin. Zum anderen erlebe ich in Deutschland, dass es dort Überlegungen für nationale Maßnahmen gibt. Da sind wir natürlich der Meinung, dass wir nichts mittragen werden, das zum Nachteil Österreichs ist. Wenn es aber darum geht, Mög­lichkeiten auch im Sinne des Beschlusses des Europäischen Rates zu finden, um Sekun­därmigration und das Weiterwinken zu verhindern, weil es Angela Merkel bei der Ratssitzung ein Anliegen war, wenn es darum geht, sind wir selbstverständlich gerne Partner für die Deutschen, weil das genauso im Interesse Österreichs wie im Interesse Deutschlands ist. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Dass der Ratsvorsitz ganz viele Themen mit sich bringen wird, darauf brauche ich, glaube ich, nicht einzugehen, denn das wissen Sie alle. Ich darf mich in diesem Zu­sam­menhang nur noch einmal bei allen Mitgliedern der Bundesregierung bedanken, die eine wirklich sehr tolle Vorbereitungsarbeit geleistet haben, sodass wir vom Bereich der Bildung, Wissenschaft und Innovation bis hin zur Zusammenarbeit im Justizbereich in vielen Bereichen Triloge abschließen werden können. Es gibt einen guten Aus­tausch, der zwischen uns, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Par­la­ment angelaufen ist. Es gibt vieles abzuschließen, weil wir der letzte vollständige Ratsvorsitz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament sind. Es gibt die Brexitver­handlungen, den auszuverhandelnden mehrjährigen Finanzrahmen – es wird uns also ganz gewiss nicht langweilig.

Ich kann Ihnen daher auch versprechen, dass das Migrationsthema bei Weitem nicht das einzige Thema ist, das uns beschäftigt. Ich gebe aber zu, dass es ein Thema ist, das in den letzten Jahren sehr tiefe Gräben in der Europäischen Union ausgelöst hat, weswegen ich sehr froh bin, wenn sich die Dinge nun in die richtige Richtung ent­wickeln, damit wir endlich wieder ein geeintes Europa sein können, das wir auch sein sollten. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Etwas paradox ist: Sie sprechen davon, dass zu viel über Migration gesprochen wird, und veranstalten dann hier im Parlament eine Dringliche Anfrage zu genau diesem Thema. Ich als Regierungschef respektiere das natürlich, denn das ist das gute Recht von Ihnen und den Parlamentariern, und werde daher nun zur Beantwortung Ihrer Fragen kommen, die sich eigentlich fast ausschließlich mit dem Migrationsthema be­schäftigen, obwohl Sie der Meinung sind, dass das Thema ohnehin schon zu viel dis­kutiert wird.

Ich komme nun zur Beantwortung Ihrer Fragen.

Zu den Fragen 1 bis 3:

Wir prüfen derzeit alle rechtlichen und operativen Möglichkeiten. Wir befinden uns dabei im ständigen Austausch mit der deutschen Bundesregierung, mit der Kanzlerin und dem Innenminister. Neben meinen Kontakten ist insbesondere Innenminister Kickl im Kontakt mit seinem deutschen Kollegen. Wir warten die deutschen Entscheidungen ab und werden darauf adäquat reagieren.

Zu den Fragen 4 bis 6, 36 bis 39 sowie 41:

Bereits im Februar wurde die gemeinsame Regierungskonferenz zwischen der öster­reichischen Bundesregierung und der bayerischen Staatsregierung vereinbart. Am 20. Juni wurden dann diverse Themen, die unsere bilateralen Beziehungen betreffen, besprochen, um den Kontakt zu vertiefen und insbesondere den wirtschaftlichen Aus­tausch zu fördern. Es gilt nun, die Ergebnisse aus Deutschland abzuwarten. Jedenfalls ist aber klar, dass es keine Vereinbarung zulasten Österreichs geben wird.

Zu den Fragen 7 bis 9:

Ich bitte um Verständnis: Das liegt nicht im Vollzugsbereich Österreichs.

Zur Frage 10:

Ich zitiere Zahlen aus dem Innenministerium: Im Jahr 2017 wurden 234 Asylwerber im Rahmen der Dublin-III-Verordnung von Deutschland nach Österreich überstellt. Im Jahr 2018 waren es bis Ende Mai 201 Asylwerber.

Zur Frage 11:

Die deutsche Regierungslinie ist noch offen. Bereits heute gibt es Maßnahmen zum Schutz unserer Südgrenzen. Wir sind aber jederzeit bereit, diese Maßnahmen auszu­weiten. Einen Teil dieser Überlegung bildet die grenz- und fremdenpolizeiliche Einheit Puma. Mit dem Bundesminister für Inneres bin ich diesbezüglich im laufenden Kontakt.

Zur Frage 12:

Laut Informationen des Innenministeriums kann ich wieder Auskunft geben: Von 1. Jänner bis 30. Juni 2018 wurden insgesamt 250 illegal eingereiste oder aufhältige Fremde mit Ausgangsland Slowenien in Österreich aufgegriffen. Im selben Zeitraum wurden 161 Fremde nach Slowenien zurückgewiesen.

Zur Frage 13:

Laut Informationen des Innenministeriums: Zwischen 1. Jänner und 30. Juni wurden insgesamt 819 illegal eingereiste oder aufhältige Fremde mit Ausgangsland Ungarn in Österreich aufgegriffen. Im selben Zeitraum wurden 161 Fremde nach Ungarn zurück­gewiesen.

Zur Frage 14:

Wieder laut Information des Innenministeriums: Für die zur Durchführung von Grenz­kontrollen notwendigen Verordnungen werden jeweils vom BMI gemeinsam mit BMF und BMLV Kostenschätzungen vorgenommen.

Zu den Fragen 15 und 16:

Unser vordringliches Ziel bleibt: sichere Außengrenzen und keine Grenzen in Eu­ro­pa. – Wir bereiten uns aber selbstverständlich auf alle Szenarien vor, weil das auch unsere Verpflichtung als Bundesregierung ist. Wir werden uns bemühen, individuelle Beeinträchtigungen möglichst gering zu halten. Wir haben selbstverständlich die Möglichkeit, engmaschigere Grenzkontrollen durchzuführen. (Ruf bei der SPÖ: Das war jetzt aber keine Antwort!)

Zur Frage 17:

Unsere Meinung ist klar: Wir brauchen eine europäische Lösung der Migrationsfrage, so wie ich das auch schon seit mehreren Jahren vertrete. – Die Beschlüsse des Euro­päischen Rates von vergangener Woche haben eine Trendwende eingeleitet. Sie gehen meiner Meinung nach in die richtige Richtung, denn nur durch funktionierende Außengrenzen ist es möglich, die Last mancher Mitgliedstaaten zu reduzieren, die Menschen vor Ort besser zu unterstützen und gleichzeitig die Streitigkeiten und Gräben in Europa zuzuschütten.

Zu den Fragen 18 bis 22 sowie 25 und 33:

Erstmals haben wir uns im Europäischen Rat auf sogenannte Ausschiffungsplattformen geeinigt – wir haben das früher stets als sichere Schutzzonen bezeichnet –, womit eine Trendwende gelungen ist. Die Diskussion, ob es dort die Möglichkeit geben soll, Asylanträge zu stellen oder nicht, ist nach wie vor im Gange. Es gibt diesbezüglich unterschiedliche Zugänge. Wir setzen auf den Zugang der Resettlement-Programme direkt aus Kriegsgebieten, um keine Pull-Faktoren zu schaffen. Das ist ein Paradig­menwechsel weg von der unbeschränkten Aufnahme in Mitteleuropa hin zu einer Lösung der Frage in den Herkunfts- und Transitländern.

Zur Frage 23:

Wir wollen Frontex stärken, das ist richtig. Was das Asylpaket anbelangt, werden wir die Arbeiten – wie in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates festgehalten – in den entsprechenden Gremien auf Basis der Arbeit des bulgarischen Vorsitzes fort­setzen.

Erlauben Sie mir nur eine Bemerkung dazu. Nachdem es jahrelang erfolglose Diskus­sionen dazu gegeben hat und ich letzte Woche bei der Sitzung des Europäischen Rates dabei war, bei der sich die Meinungen nicht verändert, sondern verhärtet haben, bin ich nicht sonderlich optimistisch, dass es wirklich leicht sein wird, diesbezüglich eine Einstimmigkeit zu erzielen. Daher liegt unser Fokus auch auf der Frage, wo wir alle an einem Strang ziehen.

Zu den Fragen 24, 26 und 27:

Wir sind als proeuropäische Bundesregierung mit einem proeuropäischen Programm angetreten. Die Bundesregierung bekennt sich selbstverständlich auch zur österreichi­schen Verfassung und zum humanitären Völkerrecht. Ich bitte Sie, das auch nicht infrage zu stellen.

Zur Frage 28:

Österreich leistet in vielfältiger Form einen Beitrag zur Bekämpfung von Flucht­ursachen, und zwar durch die Entwicklungszusammenarbeit, durch die Unterstützung seitens des Auslandskatastrophenfonds und vor allem – das wird sehr gerne vergessen – als Netto­zahler in der Europäischen Union. Die Europäische Union ist der größte Leister von Entwicklungszusammenarbeit weltweit. Wir haben gerade heute erst wieder in der Bun­desregierung Beschlüsse im Rahmen des Auslandskatastrophenfonds gefasst.

Zu den Fragen 29 bis 33:

Ich darf bei diesen Fragen auf die federführende Zuständigkeit des Außenministeriums in Zusammenarbeit mit anderen Ministerien verweisen.

Zur Frage 34:

Entsprechend dem Integrationsgesetz – und das ist nun wichtig, Herr Abgeordneter Pilz – erhält jeder anerkannte Flüchtling Deutschkurse bis zum Sprachniveau A2 und ist bei sonstiger Kürzung der Mindestsicherung zur Teilnahme an diesen Kursen ver­pflichtet. Es ändert sich nichts am Angebot für Deutschkurse und an der gesetzlichen Verpflichtung. Was allerdings beim Integrationsbudget in diesem Bereich geschehen ist, ist, dass die Anzahl der Deutschkurse an die positiven Asylbescheide angepasst worden ist.

Zur Frage 35:

Aus Integrationssicht ist es vorrangig, den Schwerpunkt auf Personen mit langfristiger Aufenthaltsperspektive zu legen. Derzeit sind rund 32 000 anerkannte Flüchtlinge beim AMS gemeldet. Davon sind über 9 000 Personen unter 25 Jahren, die potenzielle Ziel­gruppe der Lehrlingsausbildung in Mangelberufen sein können. Wir haben also eine Zahl von 32 000 anerkannten Flüchtlingen, die beim AMS gemeldet sind und die arbeitsfähig sind. Und wir haben über 9 000 junge Menschen, die eine potenzielle Zielgruppe für die Lehrlingsausbildung in Mangelberufen sind.

Ich glaube, es ist wichtig, diese Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen. Ich kann hier nur an die Arbeitgeber appellieren, wenn es Bedarf gibt, auch auf diese Menschen zuzugehen. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Zur Frage 40:

Wir können und wollen nicht beeinflussen, was internationale Medien über Österreich beziehungsweise einzelne Mitglieder der Bundesregierung berichten. Selbstver­ständ­lich halte ich es aber für sinnvoll, wenn diese Medien auch meine Parteizugehörigkeit richtig nennen. – Vielen Dank. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

15.41

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gelangt Abgeordnete Zadić. – Bitte.