10.50

Bundeskanzler Sebastian Kurz: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Frau Abgeordnete, ich muss meinen Plan für diese Europastunde jetzt ein bisschen verwerfen: Ich hätte eigentlich eine Rede zu den Schwerpunkten des Ratsvorsitzes – zu dem Erreichten, zu dem noch Anstehenden – vorbereitet gehabt, aber nach dieser Rede muss ich ein Stück weit versuchen, wieder ein bisschen Ordnung in die Unordnung, die da aus meiner Sicht entstanden ist, zu bringen.

Das waren jetzt recht wahllose Anschuldigungen, Anpatzversuche, Vorwürfe, die teil­weise sehr viel mit Ihrer politischen Haltung zu tun haben (Abg. Meinl-Reisinger: Geh, bitte! – Abg. Leichtfried: Was ist da anpatzen, wenn man die Wahrheit sagt?), die eine andere ist als meine, das stimmt, das tut aber relativ wenig zur Sache, was den ös­terreichischen Ratsvorsitz betrifft. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Ich möchte einmal mit ein paar Punkten beginnen, die Sie angesprochen haben. Kein uneigennütziges Vorgehen in Asylfragen: Na ja, natürlich nicht, aber bitte, das ist ja selbstverständlich, dass wir in der Migrationsfrage auf europäischer Ebene eine Hal­tung vertreten, die auch der unsrigen entspricht, die gut für Österreich und somit auch für Europa ist.

Sie haben gesagt, Sie wünschen sich mehr europäischen Geist und weniger Blick auf die Nationalstaaten: Was gut für die Mitgliedstaaten ist, ist auch gut für Europa, und umgekehrt. Das ist kein Widerspruch! (Beifall bei ÖVP und FPÖ. – Abg. Zinggl: Das ist aber wirklich ein Unsinn!)

Ein weiterer ganz wesentlicher Punkt gleich zu Beginn: Was tun wir bei Pensionen und Arbeitslosigkeit? – Also bitte, wir als Bundesregierung tun sehr viel, und ich würde mir wünschen, dass andere Bundesregierungen in Europa so erfolgreich unterwegs wären wie wir. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Wir haben in Österreich ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent, eine massiv sinkende Arbeitslosigkeit, und das ist ein guter, vorbildhafter Weg (Zwischenruf des Abg. Ross­mann), der hoffentlich in anderen Mitgliedstaaten auch so gelingt, aber bitte machen Sie doch nicht die Europäische Union dafür verantwortlich, dass in manchen Mitglied­staaten die Pensionen niedrig sind oder die Arbeitslosigkeit hoch ist! Wenn jemand nicht daran schuld ist, dann ist das die Europäische Union! Die Europäische Union wird das auch nicht alleine lösen können – diese Verantwortung sollte man der Europäi­schen Union gar nicht erst umhängen wollen. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Zum österreichischen Ratsvorsitz: Ich möchte mit einem großen Danke an alle Verant­wortlichen beginnen und möchte da zuallererst die Beamtinnen und Beamten hervor­heben. Die Politiker leisten während des Ratsvorsitzes viel, es ist intensiv, es ist an­strengend, aber die Politikerinnen und Politiker haben auch den Vorteil, in der Öffent­lichkeit zu stehen, die Lorbeeren dafür zu ernten. Ich möchte ein großes Danke an die österreichische Beamtenschaft richten, und zwar sowohl in Wien und auch bei der Ständigen Vertretung in Brüssel, an Alexander Schallenberg als Sektionschef im Bun­deskanzleramt, aber auch an alle anderen, die da eine großartige Arbeit leisten. Es ist eine sehr intensive Tätigkeit, wir werden auf Brüsseler Ebene dafür gelobt, mit welcher Professionalität da vorgegangen wird – Kommissionspräsident Juncker hat sich explizit auch für die Verhandlungsführung in vielen Ratsarbeitsgruppen bedankt. Vielen Dank an alle österreichischen Beamtinnen und Beamten, die da eine ausgezeichnete Arbeit leisten! (Allgemeiner Beifall.)

Um Ihnen ein paar Zahlen zu nennen: 1 200 Sitzungen, Vorbereitungstermine ver­schiedener Ratsarbeitsgruppen, 80 Trilogverhandlungen, 23 Ratstagungen, unzählige Gespräche, Vorbesprechungen zum Brexit, allein 250 Veranstaltungen in Österreich, 13 informelle Ministertreffen, der informelle Gipfel in Salzburg, die Subsidiaritätskonfe­renz in Vorarlberg, und darüber hinaus noch Themen, die wir nicht behandeln müssten, die uns aber wichtig erscheinen, wie zum Beispiel die heute stattfindende Antisemi­tismuskonferenz oder das EU-Afrika-Wirtschaftsforum. Wir leisten als Ratsvorsitz eine beachtliche Arbeit – ein großes Danke an das Regierungsteam, an die Beamtinnen und Beamten und an alle, die das möglich machen! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Ein paar inhaltliche Punkte, warum aus meiner Sicht ein Fokus darauf gelegt werden sollte: Der Brexit ist mit Abstand das größte Thema unseres Ratsvorsitzes. Bitte ver­zeihen Sie, wenn ich nicht auf alle Themen eingehe, die Sie angesprochen haben, aber ich bin mir in einer Frage ganz sicher: Wenn die Brexitverhandlungen nicht ge­lingen, wenn es zu einem Hard Brexit kommt, dann ist das nicht nur ein großer Scha­den für Großbritannien, sondern auch für die Europäische Union, und dann sind wirk­lich Arbeitsplätze in Gefahr.

Daher ist der Schwerpunkt des österreichischen Ratsvorsitzes, das, worin wir am meis­ten Zeit investieren, dass wir die Einheit der EU‑27 während der Brexitverhandlungen wahren, dass wir Michel Barnier bestmöglich unterstützen. Ich darf mich bei Gernot Blümel bedanken, der erst am Montag eine Sitzung des Allgemeinen Rates einberufen hat; wir werden am Sonntag mit den Staats- und Regierungschefs zusammentreffen. Ich darf morgen noch einmal Theresa May treffen, um alles zu tun, damit die Einheit der EU‑27 gewahrt bleibt, damit wir als Europäische Union ein ordentlicher Verhand­lungspartner sind und damit hoffentlich am Ende auch eine Mehrheit im britischen Parlament gefunden werden kann. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um einen Hard Brexit zu vermeiden, und zwar nicht nur im Interesse von Großbri­tannien, sondern auch im Interesse der Europäischen Union. Das ist der Schwerpunkt unseres Ratsvorsitzes. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Darüber hinaus hat man als Ratsvorsitz die Möglichkeit, manche Themen ganz beson­ders weit oben auf die Agenda zu setzen, und wir haben das getan. Unter dem Motto: ein Europa, das schützt, haben wir drei Bereiche ausgewählt, die uns ganz besonders wesentlich erscheinen: erstens die Migration, zum Zweiten die Vollendung des digitalen Binnenmarkts, um Wohlstand in Europa abzusichern, und zum Dritten den Einsatz auch außerhalb unserer Grenzen, denn ein Europa, das schützt, muss Sta­bilität und Sicherheit exportieren und nicht Unsicherheit importieren. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Wir setzen daher auch einen Schwerpunkt auf Regionen außerhalb unserer Grenzen mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Afrika im Rahmen des Afrikaforums, aber vor allem auch auf dem Westbalkan.

Ein paar Worte zu all diesen Themen: Bei der Migration bin ich wirklich dankbar für die Trendwende, die uns gelungen ist. Ich habe das Jahr 2015 auf europäischer Ebene miterlebt. Im Unterschied (in Richtung Abg. Zadić) zu Ihnen habe ich schon zahlreiche Sitzungen in Brüssel miterlebt (Abg. Meinl-Reisinger: Das war arrogant!) und weiß, glaube ich, einzuschätzen, wie die Entscheidungsfindung dort stattfindet, wie mühsam es manchmal ist, etwas in die richtige Richtung zu bewegen, dass man sich manchmal auch mit Zwischenschritten und kleinen Schritten zufriedengeben muss – weil es wich­tig ist, dass die Richtung stimmt –, was ich erkenne, wenn ich die Zielsetzung 2015, nämlich illegale Migration zu organisieren und zuzulassen, dass Menschen ungeordnet nach Europa kommen, wenn sie einen Schlepper bezahlen, mit dem vergleiche, was wir jetzt erleben, nämlich den Versuch, das System endlich in Ordnung zu bringen, il­legale Migration zu verhindern und die Menschen vor Ort zu unterstützen.

Ich bin froh, dass wir diesen Systemwechsel eingeleitet haben, ich bin froh, dass es Verhandlungen mit den nordafrikanischen Staaten gibt. Was Frontex betrifft, so unter­stützen wir zu 100 Prozent den Vorschlag der Europäischen Kommission. Ich bin auch überzeugt davon, dass es da am Ende des Tages eine Einigung geben wird, wenn alle Seiten – die Bedenkenträger genauso wie auch die Kommission – bereit sind, sich ein Stück weit zu bewegen.

Der Zustrom von Menschen nach Europa ist im Vergleich zum Jahr 2015 um 95 Pro­zent zurückgegangen. Es gibt noch immer zu viele Tote im Mittelmeer, aber es sind wesentlich weniger als im Jahr 2015 und folgende. Die Richtung, in die wir unterwegs sind, stimmt, und ich behaupte einmal, dass diese Bundesregierung sehr viel dazu bei­getragen hat, dass das so der Fall ist. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Zu dem zweiten Schwerpunkt, den wir gewählt haben, dem digitalen Binnenmarkt: Ich bin froh, dass wir Regelungen zum Verkehr von nicht personenbezogenen Daten, er­mäßigte Steuersätze für E-Books, die Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs, und – diesbezüglich möchte ich dem Finanzminister ganz herzlich danken – auch eine An­näherung zur digitalen Besteuerung vereinbaren konnten, damit es ein gerechteres System gibt, also nicht nur kleine und mittelständische Unternehmen ihre Steuern be­zahlen, sondern am Ende des Tages auch die Digitalkonzerne dieser Welt ordentlich in Europa besteuert werden. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Dann zum dritten Thema, zum Westbalkan: Sie haben wahrscheinlich mitverfolgt – und das ist nicht unser Verdienst, aber ich freue mich trotzdem –, dass es eine Lösung im Namensstreit in Mazedonien, eine positive Entwicklung, was die Annäherung der Westbalkanstaaten an die Europäische Union betrifft, Kapiteleröffnungen mit Serbien und Montenegro und einen intensivierten Dialog zwischen Belgrad und Pristina gege­ben hat. Erst diese Woche konnte ich Vertreter der sechs Westbalkanstaaten in Wien empfangen, die sich alle unisono dafür bedankt haben, wie wir den österreichischen Ratsvorsitz anlegen und dass wir der Region des Westbalkans auf europäischer Ebene endlich wieder jenen Stellenwert verschafft haben, den diese Region verdient.

In diesem Sinne ein großes Danke an die Frau Außenministerin und an alle, die sich bemühen, dass eine Region, die uns am Herzen liegt, während unseres Ratsvorsitzes einen deutlichen Schritt in Richtung Annäherung an die Europäische Union machen kann! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Darüber hinaus werden natürlich die Themen behandelt, die anstehen, es gibt Triloge, die abzuarbeiten sind und Verhandlungen, die zu führen sind, auch wenn es schwierig ist. Der Mehrjährige Finanzrahmen zum Beispiel ist etwas, bei dem ich sehr kritisch und skeptisch war, dass es möglich ist, da einen Erfolg zu erzielen. Ich bin sehr positiv überrascht worden, denn das Verhandlungstempo war deutlich höher, als ich mir es erwartet hätte. So werden wir im Dezember den Staats- und Regierungschefs eine vollständige Verhandlungsbox vorlegen können. Es ist da deutlich mehr gelungen, als wir uns vorher erwartet hätten.

Weitere Fortschritte gibt es zum Beispiel bei Erasmus+, beim Europäischen Solidari­tätskorps, bei der Initiative Digital Europe oder beim Binnenmarktprogramm.

Darüber hinaus könnte ich Ihnen viele andere Themen aufzählen, wie zum Beispiel im Umweltbereich die Reduzierung der CO2-Emissionen von neuen Pkws oder auch das Verbot von bestimmten Einwegkunststoffartikeln.

Ich glaube, ich muss nicht die ganze Liste der Fortschritte in allen Ministerien aufzäh­len, um sagen zu können, dass sich nicht nur die österreichische Beamtenschaft, son­dern auch die Politik redlich bemüht, Erfolge beim österreichischen Ratsvorsitz zu­stande zu bringen. Auf europäischer Ebene ist es oft ein Bohren harter Bretter. Es braucht oft viel Durchhaltevermögen, es ist sehr intensiv. Ich bin aber froh darüber, dass wir diese Aufgabe innehaben. Ich bin dankbar dafür, dass sie von allen Betei­ligten so gut gehandelt wird. Ich denke, dass uns die positiven Kommentare, die es in Europa gibt, auch wenn sie nicht immer in die österreichische Medienlandschaft Einzug finden, eigentlich recht geben. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

11.03

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich darf darauf aufmerksam machen: Die Re­dezeit beträgt ab nun 5 Minuten.

Zu Wort gemeldet ist Herr Abgeordneter Lopatka. – Bitte.