10.14

Bundeskanzler Sebastian Kurz: Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Vizekanzler! Liebe Regierungskollegen! Vor allem aber sehr geehrte Damen und Herren Abgeord­nete! Ich freue mich, mit Ihnen heute über den österreichischen Ratsvorsitz und die Situation der Europäischen Union sprechen und diskutieren zu dürfen, aber erlauben Sie mir aus aktuellem Anlass und aufgrund der Geschehnisse gestern in Straßburg vielleicht noch ein paar Worte des Mitgefühls für die Angehörigen der Opfer dieser Tat. Ich glaube, gerade ein Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in der Adventzeit ist etwas besonders Abscheuliches. Wir als Republik Österreich wünschen den Verletzten, dass sie möglichst schnell wieder gesund werden und genesen, und wir hoffen, dass die Be­hörden möglichst schnell den Täter fassen und ihn zur Rechenschaft ziehen können. (Beifall bei ÖVP, FPÖ und SPÖ sowie des Abg. Loacker.)

Es ist wichtig, dass wir in Europa uns gemeinsam für mehr Sicherheit einsetzen, dass wir nicht hinnehmen, dass solche Terroranschläge, dass Anschläge wie diese zur Nor­malität in Europa werden, auch wenn uns natürlich bewusst sein muss, dass es so et­was wie absolute, hundertprozentige Sicherheit niemals geben kann.

Es ist insgesamt eine sehr herausfordernde Zeit, in der wir uns befinden – nicht nur, was die Sicherheit betrifft, sondern vor allem auch, was das Umfeld der Europäischen Union betrifft: Wir erleben seit Jahren Spannungen mit Russland, die durch die Ukrai­nekrise immer stärker und nicht weniger werden, wir erleben, dass in den USA die Situation für uns als Europäer unberechenbarer geworden ist und Freihandel, interna­tionales Recht oftmals infrage gestellt werden, und wir erleben innerhalb der Europäi­schen Union, dass es mehr und mehr an Spannungen und Gräben gibt – Rechtsstaat­lichkeitsverfahren in manchen Mitgliedstaaten, dass Maastrichtkriterien nicht mehr überall ernst genommen und akzeptiert werden, aber natürlich auch Spannungen in der Migrationsfrage, in der Verteilungsdebatte. Das ist keine leichte Situation für Eu­ropa.

Dass erstmals ein Land die Europäische Union freiwillig verlässt und dass es mit Großbritannien noch dazu ein Land ist, das eine Volkswirtschaft so groß wie die Hälfte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammen hat, das reißt natürlich ein riesiges Loch in die Europäische Union und macht uns schwächer und nicht stärker.

In dieser herausfordernden Gemengelage hat Österreich am 1. Juli den Ratsvorsitz in der Europäischen Union übernehmen dürfen. Wir sind nicht nur mit großem Engage­ment gestartet, sondern haben die ganze Zeit über gearbeitet, und ich möchte daher, bevor ich auf die Details eingehe, den Mitgliedern der österreichischen Bundesregie­rung, aber vor allem auch allen Beamtinnen und Beamten, insbesondere denjenigen, die uns in Brüssel in der Ständigen Vertretung vertreten, ein großes Danke sagen. Es ist ein enormer Einsatz der Politik, aber vor allem auch der Verwaltung in diesem Halbjahr gewesen. – Vielen Dank für die tolle Tätigkeit! (Beifall bei ÖVP und FPÖ so­wie des Abg. Plessl.)

Es ist, glaube ich, für Sie, sehr geehrte Damen und Herren, offensichtlich, dass die größte Herausforderung für die Europäische Union im Moment das Abwickeln des Brexits ist. Darüber hinaus haben wir uns aber während des Ratsvorsitzes bewusst auch ausgewählte Ziele gesetzt, bewusst Schwerpunkte gesetzt, die wir uns selbst aussuchen konnten und wollten.

Unter dem Motto: Ein Europa, das schützt, haben wir besonders auf drei Bereiche fo­kussiert. – Zum Ersten: Schutz ist natürlich Sicherheit und somit auch der Kampf ge­gen illegale Migration. Ein Europa, das schützt, muss aber auch den Lebensstandard, den wir in Europa aufgebaut haben, absichern, das bedeutet einen Fokus auf die Wett­bewerbsfähigkeit, auf die Wirtschaftskraft der Europäischen Union. Und ein Europa, das schützt, muss Sicherheit exportieren und nicht Unsicherheit importieren, das heißt ein Aktivwerden über unsere europäischen Gebiete, über unsere Grenzen hinaus am Westbalkan und in anderen Regionen dieser Welt.

Ich möchte beim ersten Punkt, bei der Migration meine Zufriedenheit darüber zum Aus­druck bringen, dass wir im Juni eine Trendwende auf europäischer Ebene eingeleitet haben, weg von der reinen Verteilungsdebatte, weg von der Blockade zwischen Vertei­lungsgegnern und Verteilungsbefürwortern hin zu einem Fokus auf andere Bereiche in der Migrationsfrage.

Nicht mehr nur die Debatte, wie wir mit Migranten innerhalb der Europäischen Union umgehen, sondern vor allem die Debatte, wie wir gegen illegale Migration ankämpfen, ist auch durch unser Bemühen in den Mittelpunkt gerückt.

Es ist im Juni mit den Beschlüssen, die wir im Europäischen Rat gefasst haben, eine Trendwende gelungen: ein Fokus nicht nur auf die Verteilung, sondern vor allem auf den Außengrenzschutz, auf die Zusammenarbeit mit Drittstaaten. Ich freue mich, dass es unter den Innenministern, unter dem Vorsitz von Innenminister Kickl, gelungen ist, dass eine Beschlussfassung betreffend Frontex zu deren Stärkung möglich geworden ist – insbesondere bei Rückführungen, aber auch, was die Kooperation mit Drittstaaten betrifft. (Zwischenruf des Abg. Plessl.) Was die Verteilungsdebatte betrifft, so ist es doch aus unserer Sicht sehr positiv zu bewerten, dass die Kommission jetzt einen Vor­schlag vorgelegt hat, ein Papier, das fast zur Gänze unseren Vorschlägen zur ver­pflichtenden Solidarität entspricht.

Am wichtigsten in der Migrationsfrage ist aber wahrscheinlich die Zusammenarbeit mit den Transitländern. In diesem Zusammenhang bin ich froh, dass wir hier ein völlig neu­es Kapitel öffnen konnten: mit der Kooperation mit Ägypten, aber auch anderen nord­afrikanischen Staaten, die jetzt mehr und mehr selbst Rettungen durchführen, nach der Rettung im Mittelmeer die Menschen aber nicht nach Europa, sondern in die Tran­sitländer zurückbringen – mit dem Ergebnis, dass die illegale Migration nach Europa deutlich sinkt. Insgesamt – und ich glaube, Zahlen sind entscheidend – gibt es bei den Ankünften in der Europäischen Union im Vergleich zum Jahr 2015 einen Rückgang von 95 Prozent; und das Wichtigste: auch die Zahl der Todesopfer, der Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, ist massiv zurückgegangen. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Wir befinden uns nach langem Ringen über die Antwort auf die Migrationsfrage inner­halb der Europäischen Union seit dem Jahr 2015 endlich auf dem richtigen Weg. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg, was die Zahlen betrifft, wir befinden uns politisch auf dem richtigen Weg – und ich gebe das Versprechen ab, dass wir uns auch über un­seren Vorsitz hinaus auf europäischer Ebene da weiter engagiert einbringen werden. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Neben der Migration war der zweite Schwerpunkt, den wir uns gesetzt haben, die Stär­kung der Wettbewerbsfähigkeit. Ich bin froh, was die Vollendung des digitalen Binnen­marktes betrifft, dass 85 Prozent der offenen Vorschläge zur Schaffung dieses digitalen Binnenmarktes positiv abgeschlossen werden konnten, unter anderem zum Beispiel die Regelung zum freien Verkehr von nicht personenbezogenen Daten, es gibt aber auch Fortschritte bei der digitalen Besteuerung mittels einer Werbeabgabe.

Weiters gibt es zahlreiche Maßnahmen im Bildungsbereich – Minister Faßmann ist Ih­nen gerade Rede und Antwort gestanden –, im Forschungsbereich, aber auch Pro­gramme wie Erasmus, die uns als Wirtschaftsstandort in Europa stärken und auch si­cherstellen, dass in Europa langfristig Wohlstand gegeben sein wird.

Der dritte Schwerpunkt, den wir uns gesetzt haben, das Engagement außerhalb unse­rer Grenzen, richtet sich aufgrund der österreichischen Tradition natürlich ganz beson­ders auf die Region des Westbalkans. Ich darf mich beim bulgarischen Premierminister Bojko Borissow und dem bulgarischen Ratsvorsitz bedanken, dass es uns in diesem Jahr gemeinsam, zunächst den Bulgaren und jetzt uns, gelungen ist, den Westbalkan wieder stärker auf das Radar der Europäischen Union zu bringen, den Westbalkan als Region auch wieder stärker in den Blick der Europäischen Union zu bringen.

Es konnten in diesem Jahr nicht nur zahlreiche Kapitel eröffnet werden, sondern es ist auch eine neue Dynamik, was die Annäherung dieser Region an die Europäische Uni­on betrifft, entstanden. Ich bin froh über diese Dynamik, denn ein Mehr an Sicherheit und Stabilität am Westbalkan, eine positive wirtschaftliche Entwicklung dort, das be­deutet unmittelbar positive Auswirkungen für uns in Österreich. Und unser Bekenntnis ist klar: Wir wollen die Staaten des Westbalkans in die Europäische Union bringen, und wir unterstützen sie auf diesem Weg während unseres Ratsvorsitzes und auch darüber hinaus. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Engagement über unsere Grenzen hinaus bedeutet nicht nur Engagement am West­balkan. Ein für die Europäische Union manchmal fast vergessener Kontinent ist der afrikanische Kontinent – ein Kontinent mit einer extremen Bevölkerungsentwicklung: Jetzt sind es über eine Milliarde Menschen, Mitte des Jahrhunderts werden es über zwei Milliarden, Ende des Jahrhunderts vier Milliarden Menschen sein. Es ist ein Kon­tinent, auf dem es in vielen Staaten ein durchaus positives Wirtschaftswachstum gibt, aber die Dynamik eine noch schnellere sein muss, wenn wir wollen, dass sich die Le­bensbedingungen für die Menschen dort wirklich nachhaltig verändern.

Ich bin froh, dass es mit zahlreicher Unterstützung anderer Mitgliedstaaten in der Euro­päischen Union, mit Unterstützung von Kommissionspräsident Juncker und einigen Kommissaren, mit Unterstützung von Präsident Kagame, dem Präsidenten der Afrika­nischen Union, möglich ist, dass wir nächste Woche gemeinsam mit der Afrikanischen Union in Wien ein Wirtschaftsforum abhalten, wo knapp tausend Wirtschaftsvertreter anwesend sein werden, unter ihnen auch die CEOs der größten europäischen Unter­nehmen, mit dem klaren Ziel, wirtschaftliche Entwicklung in Afrika zu unterstützen. Ne­ben der klassischen Form der Entwicklungszusammenarbeit braucht es europäische Investments am afrikanischen Kontinent, damit sich die Lebensbedingungen der Men­schen dort verbessern, damit es Arbeitsplätze gibt und damit vor allem auch Ausbil­dungsplätze geschaffen werden. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Ich hoffe, dass wir mit diesem Wirtschaftsforum einen positiven Beitrag zu einer guten Entwicklung in den afrikanischen Staaten leisten können, denn die Menschen dort ha­ben es sich verdient, dass das Leid weniger wird und die Lebensbedingungen besser werden.

Darüber hinaus haben wir uns freiwillig einen Schwerpunkt im Bereich Kampf gegen Antisemitismus gewählt. Wir haben die erste europäische Konferenz zum Kampf gegen Antisemitismus abgehalten – nicht nur mit positiven Reaktionen aus den jüdischen Gemeinden quer durch Europa, sondern auch von vielen anderen, die sich bewusst sind, dass es unsere Aufgabe ist, gegen Antisemitismus anzukämpfen, gerade in einer Zeit, in der in Frankreich und anderen Staaten viele Jüdinnen und Juden sagen, dass sie nicht mehr in Sicherheit leben können.

Wenn jedes Jahr Tausende Jüdinnen und Juden Europa verlassen und nach Israel aufbrechen, weil sie sich in Europa nicht mehr sicher fühlen, dann sollte uns das nicht nur zu denken geben, sondern dann muss das ein Anstoß für unser Handeln sein. Ich bin froh, dass wir mit dieser Konferenz einen ersten Schritt machen konnten, um auf dieses Thema aufmerksam zu machen. Ich bin den Kolleginnen und Kollegen im Euro­päischen Rat, aber auch den Innen- und Justizministern dankbar dafür, dass unsere Erklärung dort auch angenommen wurde und somit hoffentlich ein stärkeres Augen­merk auf den Kampf gegen Antisemitismus gelegt wird – ganz gleich, ob noch immer vorhandenen oder neu importierten. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich habe einleitend schon gesagt, der Brexit ist für uns das größte Thema während des Ratsvorsitzes – nicht weil es uns Freude bereitet, dass ein Land aus der Europäischen Union austritt, sondern weil wir, wenn es schon zu diesem Austritt kommt, alles tun sollten, damit der Austritt möglichst geordnet statt­findet; und wir sollten vor allem alles tun, dass es auch nach dem Austritt ein gutes Mit­einander zwischen Großbritannien und der Europäischen Union gibt. Da geht es nicht nur um die Grenze zwischen Irland und Nordirland, die nie wieder zu einer harten Grenze werden darf, weil wir aus der Geschichte gelernt haben, wozu das führen kann, sondern da geht es vor allem auch darum, eine gute wirtschaftliche Kooperation, eine starke politische Kooperation, ein ordentliches Miteinander aufrechtzuerhalten. Groß­britannien verlässt die Europäische Union, aber es verlässt nicht Europa – und ein gu­tes Miteinander wird für uns entscheidend sein.

Es ist daher wichtig, dass wir auch während dieses Rates – ich werde mich im An­schluss an die heutige Sitzung auf den Weg nach Brüssel machen – noch einmal einen Anlauf nehmen und versuchen, mit Theresa May einen Weg zu finden, dass der Deal, der ein guter ist, der ausverhandelt wurde, auch im britischen Parlament Unterstützung findet. Wir werden das Austrittsabkommen sicherlich nicht aufschnüren, aber wir müs­sen uns bemühen, darüber hinaus, insbesondere was das zukünftige Verhältnis betrifft, einen Weg zu finden, der für beide Seiten ein guter ist.

Ich hoffe wirklich inständig darauf, dass sich in Großbritannien die vernünftigen Kräfte durchsetzen, dass es am Ende des Tages zu einer Unterstützung für diesen Deal kommt, ein Hard Brexit vermieden wird und somit der Schaden, der durch den Brexit ohnehin entsteht – für Europa, aber insbesondere für Großbritannien –, zumindest auf ein erträgliches Maß reduziert wird. Es werden noch intensive Wochen sein, was die Brexitdebatte betrifft.

Ich darf mich abschließend ganz besonders bei Michel Barnier bedanken, der ausge­zeichnete Arbeit geleistet hat, und ich hoffe, dass wir als Ratsvorsitzende ihn bei seiner Tätigkeit stets bestmöglich unterstützen konnten. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Es sind noch zwei intensive Wochen, die uns bis zum Ende des österreichischen Ratsvorsitzes bevorstehen. Wir werden bis zum letzten Tag alles geben. Als überzeugter Europäer ist es nicht nur eine intensive Tätigkeit, sondern, ich gebe zu, auch eine wunderschöne Tätigkeit, wenn man auf europäischer Ebene einen Beitrag leisten kann. – Vielen Dank an alle, die uns hier unterstützt ha­ben. (Anhaltender Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

10.31

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich danke dem Herrn Bundeskanzler und darf die Gruppe der NMS Scharnstein, die mit insgesamt 60 Schülerinnen und Schülern hier ist, herzlich im Hohen Haus willkommen heißen. (Allgemeiner Beifall.)

Zu Wort gelangt der Herr Vizekanzler. – Bitte.