11.17

Mitglied des Europäischen Parlaments Mag. Evelyn Regner (SPÖ): Frau Präsi­dentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Sehr geehrte Zuseherinnen und Zuseher! Ich bin nicht nur europäische Abgeordnete, ich bin auch Gewerkschafterin (Abg. Neubauer: Und was sind Sie lieber?), und deshalb kann ich mich noch sehr gut daran erinnern, wie froh meine britischen Kolleginnen und Kollegen über die europäischen Regeln für bessere Arbeitsbedingungen waren, denn aufgrund europäischer Gesetze sind insbe­son­dere berufstätige Frauen in Großbritannien besser geschützt: gleiche Bezah­lung für die gleiche Arbeit (Abg. Martin Graf: So wie in Österreich!), mehr Rechte für Schwan­gere und Mütter am Arbeitsplatz, fairere Regelungen in der Teilzeit, bei atypischen Arbeitsverhältnissen; das heißt: eine stärkere Stimme der Beschäftigten. Das sind große Errungenschaften, die die Briten nur durch die Europäische Union haben, und das wird ihnen jetzt weggenommen.

Die großen Verlierer und Verliererinnen des Brexits sind also nicht die Konzerne, Anwälte, Wirtschaftsprüfer und so weiter, denn die werden es sich schon richten können; die machen London zum noch größeren Steuersumpf und schöpfen ihre Milliarden an Gewinnen ab. Die größten Verliererinnen und Verlierer sind Frauen, die in Teilzeit arbeiten, sind einfache Beschäftigte, sind Pensionistinnen und Pensionisten und sind vor allem junge Menschen, die der europäischen Idee absolut verhaftet sind, die Europa im Alltag wahrnehmen und denen jetzt die Chancen für die Zukunft genommen werden. (Beifall bei der SPÖ. – Ruf: Märchenstunde!)

Nach einer beispiellosen Lügenkampagne hat eine Mehrheit der Britinnen und Briten für den Brexit gestimmt, und jetzt erst – jetzt erst, nach all dieser Zeit – wird für viele deutlich, welche dramatischen Folgen das hat, welche dramatischen Nachteile das mit sich bringt. Mit dem Brexit ist Großbritannien in eine Sackgasse hineingeraten. Es gibt keinen sinnvollen Ausweg. Das Gescheiteste wäre es, zurückzugehen, umzukehren, zurückzukommen. Wir als europäische Abgeordnete, fraktionsübergreifend, sehr viele an der Zahl, haben eine eindeutige Botschaft geschickt: We want you to stay!, weil es eine Lose-lose-Situation ist.

Spätestens jetzt muss es allen vollkommen klar sein: All das, was wir in Europa haben, ist keine Selbstverständlichkeit, das ist hart erkämpft, das ist errungen. Wir müssen tagtäglich erstreiten, uns dafür einsetzen, dass wir das, was wir erreicht haben, weiter­entwickeln, aber wir müssen auch den Finger in die Wunde legen, weil noch lange nichts perfekt ist. Es gibt unendlich viel zu tun. Nicht alle Menschen in Europa haben vom Wohlstandsversprechen etwas gehabt. Da ist vieles auf der Strecke geblieben, und auch bei den Briten und bei den Britinnen ist das passiert.

Unsere Vision, unsere sozialdemokratische Vision ist deshalb eine, die beim Alltag ansetzt, bei handfesten Dingen. Es geht nicht darum, zu träumen – ich meine, ich träume sehr gerne, aber ich will ja keine Märchen erzählen, was in hunderttausend Jahren einmal möglich sein wird –, sondern es geht darum, handfeste Dinge, die den Alltag der Menschen in Europa betreffen, auf den Tisch zu legen, einzufordern und da etwas voranzubringen, die Menschen also mitzunehmen.

Wir fordern soziale Mindeststandards, klare Regeln und Kontrollen, damit die Pflegerin oder der Lkw-Fahrer aus Osteuropa nicht mehr Beschäftigte zweiter Klasse sind, son­dern Kollegen, echte Kollegen. Wir wollen, dass in Jugend investiert wird, gute Jobs für junge Köpfe, dass man sich den Skikurs leisten kann – nicht als Eliten­programm –, ein beheiztes Kinderzimmer als absolute Selbstverständlichkeit, und wir fordern eine echte Garantie in Bezug auf Kinder, nicht dass den Ärmsten aufgrund der Indexierung der Familienbeihilfe noch mehr weggenommen wird. (Beifall bei der SPÖ.)

Apple, Google und Co sollen auch ihren fairen Anteil an Steuern zahlen und nicht nur das berühmte Kaffeehaus, der Würstelstand ums Eck oder die Physiotherapeutin. Einstimmigkeit ist in diesem Zusammenhang nicht hilfreich, es ist nicht hilfreich, wenn es im Rat der Einstimmigkeit bedarf. Wir brauchen ein demokratischeres System, das heißt, das Einstimmigkeitserfordernis muss weg, denn sonst kommen wir da gar nicht mehr vom Fleck, wenn es um Steuern geht, und das sind Dinge, die wirklich den Alltag der Menschen betreffen. (Beifall bei der SPÖ.)

Wir kämpfen so lange, bis Frauen endlich gleichberechtigt sind, bis die Wohnkosten nicht mehr als ein Viertel des Einkommens ausmachen. Ich zähle da schon viele Dinge auf, die den Alltag der Menschen betreffen. Auch die Rechtsstaatlichkeit ist eine absolut unabdingbare Voraussetzung. Diese handfesten, echten Verbesserungen, die den Menschen in Europa wirklich etwas bringen, sind mit dem Kurz’schen Schmal­spureuropa, das in erster Linie auf Subsidiarität pocht, nicht möglich. (Abg. Neubauer: Was haben denn Sie zustande gebracht?) Diese Verbesserungen sind nicht möglich, wenn man in erster Linie darauf schaut, was das für die Konzerne und für die Groß­spender bedeutet. Es geht darum, auf den kleinen Mann, auf uns alle, auf den Alltag der Menschen zu schauen. (Beifall bei der SPÖ.)

Dass die FPÖ die Wörter Europa und Vision gleichzeitig in den Mund nimmt, ist ja wohl ein schlechter Scherz. Wir erinnern uns alle an die Öxitfantasien von Herrn Vilimsky (Präsidentin Bures gibt das Glockenzeichen), und von den Europazerstörern im Europäischen Parlament mag ich gar nicht reden. (Abg. Höbart: Europazerstörer!)

Unsere sozialdemokratische Vision ist klar: Europa wird sozial sein, oder es wird nicht sein. (Beifall bei der SPÖ. – Abg. Martin Graf: Bei Ihnen werden wir uns nicht einmal den Namen merken! – Zwischenruf der Abg. Winzig.)

11.22

Präsidentin Doris Bures: Nächster Redner: Mitglied des Europäischen Parlaments Dr. Georg Mayer. – Bitte.