9.08

Abgeordneter Mag. Gernot Blümel, MBA (ÖVP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren des Hohen Hauses! Werte Zuseherinnen und Zuseher auf der Galerie, vor den Fernsehschirmen und via Livestream! „Europa in bewegten Zeiten. Was bedeutet das für Österreich?“ ist das Thema dieser Aktuellen Stunde.

Am vergangenen Wochenende jährte sich ein großes europäisches Ereignis: Es war der 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer. Die Trennung Europas ist damals überwunden worden und eine Einigung damit greifbar geworden. Wenn Sie die Bilder, die am Wochenende durch die Medien gegangen sind, gesehen haben, dann haben Sie gemerkt, dass die Euphorie von damals auch heute noch spürbar ist. Dagegen wirkt die Debatte, die wir heute über Europa führen, oft ein wenig grotesk, denn 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist das meistdiskutierte Thema innerhalb der Euro­päischen Union der Austritt eines Mitgliedstaates aus der gemeinsamen Union.

Wenn wir das Thema dieser Aktuellen Stunde ernst nehmen und beantworten wollen, was das für Österreich bedeutet, dann müssen wir versuchen, herauszufinden, wie es so weit kommen konnte, wie es von dieser Euphorie zum Austritt eines Mitgliedstaates gekommen ist. Viele hier im Hohen Haus haben das historische Ereignis von damals bewusst miterlebt. Viele von Ihnen können sich wahrscheinlich noch genau daran erinnern, wo sie damals waren und was sie genau getan haben, als sie zum ersten Mal vom Fall der Berliner Mauer gehört haben.

Für meine Generation gilt das ehrlicherweise nicht mehr so. Ich war damals gerade acht Jahre alt und kann nicht sagen, dass mir die historische Tragweite dieses Ereig­nisses so ganz bewusst war; wahrscheinlich gilt Ähnliches für jene 41 Nationalrats­ab­geordneten in diesem Haus, die so alt wie ich oder jünger sind.

Mir persönlich ist die Dimension dieses Ereignisses erst einige Zeit später bewusst geworden, und zwar interessanterweise bei einem Familienausflug. Ich war damals mit acht Jahren nicht sehr begeistert von Familienausflügen, aber irgendwann einmal hat uns mein Vater geschnappt und wir sind gemeinsam auf einen Ausflug gefahren. Als wir dann da waren und aus dem Auto gestiegen sind, ist plötzlich meine Urgroßmutter neben mir auf der Straße zusammengebrochen und hat zu weinen begonnen. Ab diesem Zeitpunkt hatte dieser Ausflug meine volle Aufmerksamkeit. Mein Vater hat mir im Nachhinein erklärt, dass sie nach 50 Jahren zum ersten Mal ihre alte Heimat wie­dergesehen hat. Sie war vertriebene Sudetendeutsche, und es hat 50 Jahre gedauert, bis sie ihr Elternhaus wiedersehen konnte; es hat 50 Jahre gedauert, bis sie wieder durch die Straßen ihrer Jugend gehen und ihre Verwandten auf dem Dorffriedhof besuchen konnte. Erst der Fall des Eisernen Vorhangs infolge des Falls der Berliner Mauer hat ihr das ermöglicht. Damals war für mich dann klar, dass etwas Historisches passiert ist.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte es den Anschein, als ob die Welt eine neue geworden wäre – nicht nur in Europa –, es hatte den Anschein, als ob es einen eindeutigen Sieger im Streit der großen Weltanschauungen gäbe. Marktwirtschaft und Demokratie haben sich als eindeutig stabiler und erfolgreicher erwiesen als die anderen Systeme. Wenn man sich die Zahlen verdeutlicht, dann sieht man das auch sehr klar: 1970 hat es weltweit circa 35 repräsentative Demokratien gegeben; bis Anfang des 21. Jahrhunderts ist diese Zahl auf circa 120 angewachsen. Den größten Zuwachs gab es im Europa der Neunzigerjahre.

Die Euphorie war damals so groß, dass der US-amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama in Anlehnung an Hegel gemeint hat, das „Ende der Geschichte“ sei gekommen, und auch ein Buch darüber geschrieben hat. Er schreibt, der Sieg der Demokratie und Marktwirtschaft habe sich auch in Europa in einem immer stärker wer­denden europäischen Ganzen, in einer sich immer weiter vertiefenden Europäischen Union durchgesetzt und kaum jemand habe damals die Frage gestellt, ob dieses Sys­tem beständig sein wird oder ob es noch ein anderes geben wird.

Wir müssen feststellen, dass die Welt heute eine andere geworden ist. Seit Mitte der Nullerjahre sinkt die Zahl der Demokratien weltweit wieder. Das Platzen diverser Bla­sen hat auch die Kritiker befeuert, die Kritiker von Demokratie und freier globalisierter Marktwirtschaft. 2015 ist eine Flüchtlingswelle über Europa hinweggerollt und hat manche Binnengrenzen wiederauferstehen lassen; und im Juni 2016 haben sich die Briten dazu entschieden, die gemeinsame Union zu verlassen.

Welche Schlüsse muss man als überzeugter Demokrat und Proeuropäer daraus ziehen? (Ruf bei der FPÖ: Das wirst du uns wohl gleich sagen!) – Eine Erkenntnis muss wohl lauten, dass sich der Erfolg von Demokratie offensichtlich nicht ganz von selbst einstellt. Er ist nicht gottgegeben und es gibt kein Naturgesetz, das ein demo­kratisches Zusammenleben vorschreibt. Es gibt eben kein „Ende der Geschichte“. Wenn wir uns nicht ständig um den Erhalt des Erreichten bemühen, dann können wir genauso gut alles wieder recht schnell verlieren. Um sicherzustellen, dass genau das nicht passiert, sollten wir versuchen, die Gründe zu verstehen, warum die Briten die gemeinsame Union verlassen. Genau diese Frage haben wir uns im Vorfeld der öster­reichischen Ratspräsidentschaft vor circa einem Jahr gestellt, und es war schnell klar, dass es ungefähr drei Themenkomplexe gibt, die dazu geführt haben, dass die Britin­nen und Briten sich dafür entschieden haben, aus der EU auszutreten.

Ganz klar war die Angst vor Migration einer der Hauptmotivationsgründe, Wohlstands­verlustängste bildeten den zweiten Themenkomplex, und der dritte ist die Angst vor politischem Kontrollverlust.

Wollen wir aus dem Brexit lernen, dann müssen wir uns als Politikerinnen und Politiker bemühen, auf diese Fragen und Ängste Antworten zu geben. Darüber hinaus hat im letzten Jahr in Europa eine weitere Angst um sich gegriffen: die Angst vor dem Klima­wandel. All diese Themen bewegen die Menschen in Europa, und auf all diese Themen erwarten sie sich von der Politik Antworten.

Trotzdem gibt es immer noch Politiker, Kommentatoren, selbsternannte Intellektuelle, die der Meinung sind, dass man diese Ängste, eine oder mehrere davon, kleinreden sollte. Oft wird dann davon gesprochen, dass das ja nur subjektive Ängste seien. (Abg. Scherak: ... sollen sie sonst sein?!) Oft wird gesagt, dass sich die Intensität der Emotionen nicht durch empirische Daten beweisen lässt oder dass manche dieser Ängste nur von politischen Mitbewerbern aus Opportunität geschürt werden.

Ich glaube, die Vergangenheit hat gezeigt, dass es nicht gelingen kann, die Probleme und Herausforderungen kleinzureden oder sie nur als Propaganda des politischen Mit­bewerbers zu brandmarken. Das gilt sowohl für die Migration als auch für den Klima­wandel.

Genauso falsch wäre es aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man ständig die Apokalypse beschwört, wenn man ständig mit Fünf-vor-zwölf-Diktionen versucht, Eingriffe in Rechtstaat und Eigentum legitimieren zu wollen.

Ich bin überzeugt davon, dass es einen anderen Weg, einen dritten Weg braucht. Wir müssen die Ängste der Menschen ernst nehmen und gleichzeitig Antworten geben, die Chancen schaffen, aber auch verantwortungsvoll mit dem bisher Erreichten umgehen. Das war immer der Weg der Volkspartei und das wird er auch immer bleiben, meine sehr geehrten Damen und Herren. (Beifall bei der ÖVP.)

30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat Europa die Chance gehabt oder hätte Europa die Chance gehabt, den Weg der Vereinigung und des Wohlstandes weiter­zugehen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Europäische Rat eine Entscheidung zu treffen, und zwar dahin gehend, ob Beitrittsverhandlungen mit einem weiteren Beitritts­kandidaten aufgenommen werden oder nicht. Es handelt sich dabei um Nordmaze­donien.

Dieses Land hat Unglaubliches geleistet. Dieses Land hat in einem demokratischen Prozess alle bilateralen Konflikte mit den Nachbarstaaten gelöst. Dieses Land hat alle Forderungen erfüllt, die ihm die Europäische Union gestellt hat, um Beitrittsver­hand­lungen beginnen zu können. Wer weiß, was es heißt, den Namen eines ganzen Lan­des zu ändern, der weiß, was das für eine Leistung war. Ich erinnere daran, was pas­siert, wenn in Österreich Bezirke zusammengelegt werden (Abg. Kickl: Oder Parteien umgestrichen!): Da wird die Apokalypse ausgerufen. – Sie haben den Namen des ganzen Landes geändert. Nachdem aber alle Schwierigkeiten beseitigt und alle Bedin­gungen erfüllt waren, sagt die Europäische Union Nein zur Aufnahme von Beitrittsver­handlungen. Ich halte das nicht nur für einen historischen, sondern auch für einen schweren moralischen Fehler. (Abg. Meinl-Reisinger: Nein!)

Der Grund dafür war das Veto des französischen Präsidenten, der diese Entscheidung eben im Alleingang verhindert hat. Ich hätte mir gewünscht, dass Emmanuel Macron sich in diesem Moment an seine Selbstbeschreibung als die eines glühenden Euro­päers erinnert hätte, denn gerade in einer Zeit, in der ein Mitglied die gemeinsame Union verlässt, wäre es ein schönes Zeichen gewesen, ein neues Mitglied einzuladen.

Ich hoffe sehr, dass Europa diesen und andere Fehler beheben wird, denn die Zukunft Österreichs soll in einem starken und geeinten Europa liegen – und dafür werden wir mit aller Kraft arbeiten. – Vielen Dank. (Beifall bei der ÖVP.)

9.18

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu einer einleitenden Stellungnahme ist der Herr Bundesminister zu Wort gemeldet. – Bitte.