11.22

Abgeordnete Dr. Pamela Rendi-Wagner, MSc (SPÖ): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Hohes Haus! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir alle haben ein Privileg. Wir haben das Privileg, in einem Land zu leben, in dem unsere Kinder in gute Schulen gehen können, in dem wir im Krankheitsfall in gute Krankenhäuser gehen können und dort gut versorgt werden, wenn es uns an Ge­sundheit mangelt. Wir leben in einem Land, in dem die öffentliche Infrastruktur gut funktioniert. Wir verlassen uns auf dieses System jeden Tag, jeder und jede Einzelne von uns.

Der Grund, warum wir uns auf dieses System verlassen können und warum dieses System funktioniert, ist eigentlich recht einfach. (Abg. Bösch: Nichts funktioniert! Abg. Belakowitsch: Nichts funktioniert! Haben Sie der Frau Wiesinger nicht zuge­hört? ... Schule nicht, Gesundheit, Infrastruktur ...!) Der Grund ist: Jede Frau, jeder Mann und fast jede Firma zahlt Steuern und leistet so einen Beitrag dafür, dass dieses System funktioniert – einen Beitrag für unsere Allgemeinheit, dafür, dass wir uns jeden Tag auf die Ärzte, auf die Krankenhäuser, auf die Sicherheit, auf die Infrastruktur, auf die öffentlichen Verkehrsmittel verlassen können. Was aber passiert, wenn sich je­mand weigert, seinen gerechten Anteil und Beitrag zu leisten? – Dann schwächt uns das. Es schwächt uns alle, es schwächt das System und die Gesellschaft, in der wir le­ben. Wir laufen vor den großen Herausforderungen im Hintergrund auf eine Situation zu, in der die Finanzierung dieses Systems, auf das wir uns jeden Tag verlassen, bald an seine Grenzen kommen könnte.

Das gilt für Österreich, sehr geehrte Damen und Herren, und das gilt vor allem auch für die Europäische Union. Daher ist eines im Zentrum unseres Denkens und politischen Gestaltens, nämlich die Steuergerechtigkeit. Steuergerechtigkeit ist zentral, wenn es darum geht, ob die Europäische Union in Zukunft geschwächter sein wird oder gestärkt in die Zukunft blicken wird. Tatsache ist, dass die Europäische Union derzeit von einer massiven Schieflage bedroht ist.

Kein Mensch kann verstehen, dass es einige US-Großkonzerne gibt, davon viele, die ihre jährlichen Millionenumsätze und -gewinne mit dem Onlinehandel machen, die mo­natlich wenig bis gar keine Beiträge in unser System zahlen, während jeder Arbeitneh­mer, jede Arbeitnehmerin, jedes Unternehmen brav seine, ihre Steuern zahlt, seine, ih­re Beiträge, damit unser System, in dem wir alle leben, funktioniert.

Eine internationale Kaffeehauskette, die uns allen, glaube ich, nicht unbekannt ist, zahlt in Österreich Steuern in der Größenordnung von 800 Euro pro Jahr bei einem Umsatz von 18 Millionen Euro pro Jahr. (Abg. Kickl: ... Kogler wieder einmal einen Kaffee trin­ken, dann passt das wieder!) Das ist eine Schieflage, sehr geehrte Damen und Herren, weil jedes kleine Kaffeehaus in Österreich, jedes Gasthaus in Wien mehr Steuern zahlt als diese internationale Kaffeehauskette, aber nur einen Bruchteil dieses Gewinnes er­zielt. (Beifall bei der SPÖ.)

Ich sage Ihnen: Wenn wir diese Schieflage in Europa nicht beseitigen, dann wird die EU niemals in der Lage sein, jene Stärke zu erlangen, die angesichts der globalen Ver­änderungen, Herausforderungen und internationalen Umbrüche notwendig ist – Europa muss stärker werden und gestärkt werden –, eine Stärke, die gut für die europäischen Bürgerinnen und Bürger ist, eine Stärke, die auch wichtig und notwendig für die eu­ropäische Wirtschaft ist. Ja, es ist Zeit für mehr Fairness in Europa, es ist Zeit für eine gerechte und faire Besteuerung von internationalen Onlinekonzernen. Es ist auch Zeit, den sozialen Zusammenhalt innerhalb Europas endlich mehr zu stärken. Wir brauchen ein gemeinsames Projekt – ein Projekt, das uns in Europa verbindet und eint, das die Integration fördert und das Auseinanderdriften des europäischen Kontinents verhindert.

Solche Projekte hat es in der Geschichte der Europäischen Union immer gegeben. Ganz zu Beginn, nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde versprochen: Nie wieder! Es gab dann das gemeinsame Projekt des Binnenmarktes, später die gemeinsame Währung – derartige gemeinsame Projekte, an denen man gemeinsam arbeitet, verbinden und machen eine Union, einen Staatenverbund stark.

Wir müssen uns heute fragen: Was kann dieses gemeinsame, stärkende und einende Projekt in Europa sein? – Aus unserer Sicht ist es notwendig, dass dieses neue ge­meinsame Projekt den europäischen sozialen Zusammenhalt stärkt und die sozialen Unterschiede, die derzeit auf europäischer Ebene bestehen, verringert; denn Tatsache ist, dass die Kluft zwischen reichen und armen EU-Ländern immer größer wird, dass der Unterschied zwischen Ost und West, der Unterschied zwischen Nord und Süd in Europa immer größer wird.

Ist das gesund? Ist das stärkend? Macht uns das stark und widerstandsfähig für die Zukunft und alle Herausforderungen, die auf jede Einzelne und jeden Einzelnen von uns und auf die Union warten beziehungsweise schon bestehen; Stichwort Klimakri­se? Diese Entwicklungen sind eine Gefahr. Sie sind eine Gefahr für unser gemeinsa­mes europäisches Friedensprojekt, sie sind eine Gefahr für den sozialen Frieden.

Schauen wir uns die Zahlen an! In Griechenland liegt die Jungendarbeitslosigkeit bei über 30 Prozent – über 30 Prozent! Schauen wir nach Deutschland! Dort liegt sie, und das ist gut, bei 6 Prozent. Das ist ein Unterschied von fast 30 Prozent zwischen zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union – ein extrem großer, ein signifikanter Unter­schied. Das ist nicht gesund, das ist eine Imbalance innerhalb einer Union, die eigent­lich gestärkt und geeint sein sollte. Des Weiteren wissen wir, dass ein Fünftel aller EU-Bürger – 20 Prozent, und da rede ich von über 100 Millionen Menschen in Europa – von Armut bedroht ist.

Die Lohnschere zwischen den europäischen Ländern ist in den letzten Jahren größer geworden. Sie ist enorm. Sie ist innerhalb der Länder, vor allem aber innerhalb der Union, größer geworden. Die sozialen Standards sind nicht vergleichbar – in Osteuro­pa herrschen ganz andere als in Westeuropa.

Auch die Unterschiede der Unternehmensbesteuerung innerhalb der Europäischen Union sind ungerecht. Es ist nämlich ungerecht, sehr geehrte Damen und Herren, dass eine Druckerei im Burgenland 25 Prozent Körperschaftsteuer, Unternehmenssteuer, zahlen muss, während es eine halbe Autostunde entfernt – über der ungarischen Gren­ze – Unternehmen gibt, ungarische Druckereien gibt, mit lediglich 9 Prozent Unterneh­mensbesteuerung. Das ist ein großer Unterschied. Ungarn hat – und das müssen wir wissen – die niedrigste Körperschaftsteuer Europas. (Abg. Loacker: Und was ist jetzt die Antwort? – Zwischenrufe der Abg. Doppelbauer und Schellhorn.) Das ist ein Steu­erwettlauf nach unten.

Das ist auch den österreichischen Unternehmen und UnternehmerInnen gegenüber nicht gerecht, und Österreich muss sich stark machen, dass diese großen Steuerunter­schiede ein Ende haben, dass dieser Steuerwettlauf nach unten endlich beendet wird. (Beifall bei der SPÖ.)

Wir brauchen ein faires Steuersystem, bei dem die Staaten nicht gegeneinander aus­gespielt werden. Ja, und es waren Sie, Herr Finanzminister Blümel, der Sie beim Fi­nanzministerrat unter anderem angekündigt haben, dass sich Österreich aus der Grup­pe der Staaten, die für die Finanztransaktionssteuer weiterarbeiten wollen, zurückzie­hen will. Ich finde, das ist der falsche Weg, denn wenn man gestalten will, Zukunft ge­stalten will, dann, Herr Bundesminister, muss man sich einbringen, aber auch mit Über­zeugungskraft Überzeugungsarbeit leisten, und dann braucht es Haltung.

Die Welt ist in einem großen Umbruch, und Europa muss stärker, handlungsfähiger werden, und es braucht ein klares politisches, gesellschaftliches Bekenntnis. Ihrem Re­gierungsprogramm müssen Taten folgen, das werden wir genau beobachten.

Die Stärkung kann aber nur gelingen, wenn Schieflagen überwunden werden. Nur wenn wir, sehr geehrte Damen und Herren, die Politik und die Gesellschaft, bereit sind, am Gemeinsamen zu arbeiten, am Konsens zu arbeiten, wenn wir bereit sind, gemein­sam Verantwortung zu übernehmen, dann wird es uns gelingen, trotz aller Umbrüche, die global, international passieren, auch in Europa erfolgreich in die Zukunft zu gehen. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind bereit, das Unsrige für ein star­kes Österreich in einem starken Europa zu tun. – Vielen Dank. (Beifall bei der SPÖ.)

11.31

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Bundesminister für Finan­zen Blümel. – Bitte.