10.05

Abgeordnete Mag. Beate Meinl-Reisinger, MES (NEOS): Herr Präsident! Werter Herr Bundeskanzler! Werte Mitglieder der Bundesregierung! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauerinnen und Zuschauer! Es ist eine für mich mittlerweile ungewohnte Fülle an Menschen hier im Raum. Man merkt, dass die Zeit der physi­schen Distanzierung irgendwie schon Nachwehen zeitigt, dahin gehend, dass ich wirk­lich im ersten Moment gedacht habe: Hu, viele Menschen in einem Raum! Ich freue mich aber von ganzem Herzen, Sie alle wiederzusehen; das möchte ich auch einmal sagen.

Wir befinden uns in Woche sechs, die Menschen in Österreich haben sich gut an die Regeln oder auch Anweisungen der Regierung betreffend physische Distanzierung gehalten, und die Zahlen sind gut. So ist es nun auch möglich, und das muss auch immer das Ziel sein, dass wir mehr Freiheiten erlangen. Mir ist klar, dass es in dieser Zeit, die ja wahrscheinlich noch einige Monate, vielleicht sogar Jahre andauern wird, ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit gibt. Dieses Spannungsverhältnis gibt es immer, ich glaube, man muss nur sehr aufpassen – und das möchte ich gleich einmal vorweg sagen, weil mir schon sehr sauer aufgestoßen ist, was ich heute im „Morgenjournal“ gehört habe; da hat ein Soziologe in Bezug auf Israel gesagt, Freiheit sei das Gegenteil von Gesundheit –, daraus kein Gegensatzpaar zu machen, immer auf einen Diskurs und eine gute Ausgewogenheit zu achten, damit man ja nicht in die Situation kommt, dass solche Aussagen getätigt werden, Freiheit sei das Gegenteil von Gesundheit.

Der Grund, warum ich jetzt damit einleite, ist: Mir geht es nicht darum, zurückzublicken. Mir geht es jetzt um die nächste Phase, die Phase der Wiedererlangung der Freiheit. Und nein, das sage ich hier auch, unser Ziel als NEOS ist nicht eine neue Normalität, sondern ein Wiedererlangen der Freiheit, der offenen Gesellschaft, auch der inter­na­tionalen Vernetzung; sie kann vielleicht eine Etappe am Weg dorthin sein. Mir geht es nicht darum, zurückzublicken und zu bewerten; dafür ist jetzt, glaube ich, auch der falsche Zeitpunkt. Wir müssen jetzt nach vorne schauen. Es ist ja auch viel gelungen und schon viel gesagt worden.

Was braucht es jetzt aber, um gut aus dieser Krise herauszukommen? Es wird immer wieder vor der Gefahr einer zweiten, einer dritten Welle oder vielleicht weiteren Wellen gewarnt. Was braucht es also, damit wir alle gemeinsam hier verhindern können, dass es zu neuerlichem Freiheitsentzug kommt? – Wir haben von Anfang an eingemahnt, und das soll uns auch jetzt leiten, dass es eine Balance braucht: Es geht um die Frage der Gesundheit, der Nichtüberlastung des Gesundheitssystems und genauso um den Blick auf die Wirtschaft und auf die Gesellschaft; weder darf die Wirtschaft kippen, noch darf – bitte schön! – die Gesellschaft kippen. Diese Balance muss hergestellt werden; den Menschen wird sehr viel abverlangt.

Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem wir auch der Regierung etwas abverlangen, nämlich umfangreiche Transparenz betreffend all ihre Entscheidungen. Wir haben vor Wochen als Hohes Haus sehr viel Macht in die Hände der Regierung gelegt. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, sozusagen auf der Basis dieser Ermächtigungsgesetze zu regieren: per Verordnungen, per Erlass. Es musste ja alles ganz schnell gehen. Jetzt kommen wir in eine neue Phase, in der das gewissenhaft und transparent und rechtstaatlich passieren muss. Wenn Sie so wollen: Die Phase von Speedsheets, die dann irgendwie zu Vor­lagen, Verordnungen, Erlässen werden, die es mit der Verfassungskonformität viel­leicht nicht immer ganz genau nehmen, muss jetzt vorbei sein. (Beifall bei den NEOS.)

Ich sage Ihnen als Vertreterin des Parlaments auch, dass sich diesbezüglich das Par­lament auf die Füße zu stellen hat und zu sagen hat: Wir müssen hier als Volks­ver­tretung die Kontrolle in die Hand bekommen und Transparenz einmahnen! Ich erinnere daran, dass wir ganz am Anfang auch den Vorschlag gemacht haben, dass diese Einschränkungen der persönlichen Freiheit nicht per Verordnung oder Erlass festgelegt werden, sondern sehr wohl auch hier im Haus, im Hauptausschuss diskutiert werden müssen. Warum? – Weil es das Recht des Parlaments, der gewählten Volksvertretung ist, bei so drastischen Maßnahmen mitzudiskutieren, alle Informationen, alle Fakten auf den Tisch zu bekommen und das permanent zu verlangen. Ich glaube, das wäre der bessere Weg gewesen. Jetzt, für diese zweite Phase ist es aber ganz, ganz wesent­lich, denn: „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ – Damit ist eine Politik der Angst permanent prolongierbar.

Ich sage: „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ Was meine ich damit? – Es gibt zum einen die Situation, dass wir Daten in Österreich nicht erheben. Ich habe mit Erstaunen zu Kenntnis genommen, dass es keine statistische Erfassung von Vorerkrankungen bei Covid-Patienten gibt, wir bekommen also nicht auf Knopfdruck eine Liste der Vor­erkrankungen, die zu schwereren Verläufen geführt haben. Das wird dann vielleicht durch Studien begleitet, aber die Wissenschaftler sagen schon: Wir haben zu wenige Daten zur Verfügung! – Ich glaube, in so einer Phase wird jeder Patient, wenn das anonymisiert wird, sagen: Selbstverständlich stelle ich das zur Verfügung! Österreich nimmt auch nicht an internationalen wissenschaftlichen Diskussionen teil. – Das ist zu wenig!

„Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ – Das gilt auch für die Zahlen und Daten und Fakten, die wahrscheinlich verfügbar sind. Wir haben mehrfach um Antworten auf fol­gende Fragen gebeten: Was sind eure Entscheidungsgrundlagen, die Entschei­dungs­grundlagen der Regierung? Wer sind die Experten, die euch beraten? Welche Modelle gibt es? Welche Berechnungen gibt es? Was ist denn eigentlich die Strategie?

Lassen Sie mich dazu noch etwas sagen, auch zur Rolle des Hohen Hauses, des Parlaments: Seit Wochen mahnen wir das ein, durchaus auch in den Gesprächen – Sie wissen das! – der Parteichefs mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, und mit dem Herrn Vizekanzler. Was ist die Strategie? Welche Modelle? Welche Berechnungen? Ich weiß, am Schluss ist es immer eine politische Entscheidung, und das ist auch gut so. Es ist vielleicht auch an der Zeit, dass man wieder einmal erklärt, dass politische Ent­schei­dungen immer eine Interessenabwägung bedeuten und man eben nicht einfach nur Epidemiologen oder singulär Ökonomen folgt. Es ist eine politische Entscheidung, aber: Was ist die Grundlage? Was ist die Strategie? – Wir haben das nie erfahren.

Gestern am Abend haben wir ein Mail aus dem ÖVP-Klub bekommen, das uns darüber informiert, dass wir heute irgendwann einmal die Containment-2.0-Strategie bekom­men werden. Halten Sie das für die transparente und redliche und aufrichtige Vor­gangs­weise, wie man mit dem Hohen Haus in dieser Phase umgeht? – Ich nicht, meine sehr geehrten Damen und Herren von ÖVP und Grünen! (Beifall bei NEOS und FPÖ sowie bei Abgeordneten der SPÖ.)

Das Heckmeck – könnte man schon fast sagen – betreffend Risikogruppen könnte ich jetzt ja auch anführen: Seit bald vier Wochen diskutieren wir darüber, wer zu den Risikogruppen gehört. Wo werden die Testergebnisse gespeichert? Was ist mit den anderen Bereichen des Gesundheitssystems? Ich habe mit Kollegen aus Dänemark gesprochen, und die können sagen: Die Zahlen betreffend Chemotherapie sind in den letzten Wochen um so und so viel Prozent zurückgegangen, die Zahl der Arztbesuche ist in den letzten Wochen um so und so viel Prozent zurückgegangen! – Warum kön­nen wir in Österreich das nicht sagen? Oder gibt es diese Daten? Können Sie sie auf den Tisch legen?

Ich komme aber auch zu anderen Bereichen: Der Arbeitsmarkt ist ein ganz wesent­licher Bereich. Wir haben jetzt erst, diese Woche, erfahren, dass die Zahl der Men­schen in Kurzarbeit in diesem Land von 600 000 auf 900 000 raufgeschnellt ist. Anfang April waren über 600 000 Menschen arbeitslos. Wir brauchen diese Zahlen wöchent­lich! Ich gehe davon aus, dass die Zahlen am 1. Mai weitaus höher sein werden. Wir können davon ausgehen, dass mehr als ein Drittel aller unselbstständig Beschäftigten entweder arbeitslos sein oder aufgrund von Kurzarbeit keine Beschäftigung haben wird. Ich erwarte mir in so einer Phase, in der wir ja auf Sicht fahren und diese Ent­scheidungen Schritt für Schritt treffen – wie Sie das immer sagen –, dass das trans­parent wöchentlich auf den Tisch gelegt wird.

Ich möchte, dass genauso auf den Tisch gelegt wird, wie es mit Insolvenzen aus­schaut. Jedes Geschäft, jeder Betrieb, der jetzt zusperren muss, weil ihm das Geschäft verboten wurde und die Hilfen nicht ankommen, sperrt nicht mehr auf; diese Arbeits­plätze sind verloren, dieser Wohlstand ist verloren. Das muss uns völlig klar sein. (Zwischenruf der Abg. Steinacker. – Zwischenrufe bei der SPÖ.)

Ich komme zu den Wirtschaftshilfen, die ja angeblich ankommen: Bürokratismus und Förderdschungel! – Wir wissen das, und auch da gibt es keine Transparenz, auch nicht hinsichtlich der Abwickelung über die Wirtschaftskammer, was den Härtefallfonds an­geht, und über die Cofag. Darüber werden wir heute noch diskutieren, denn wir erach­ten es als Parlament, das das Budgetrecht im Land hat, als Selbstverständlichkeit, dass wir auch kontrollieren, wie 38 Milliarden Euro in dieser Krise verwendet werden. (Beifall bei NEOS, SPÖ und FPÖ. – Zwischenrufe bei der ÖVP.)

„Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ – Das betrifft auch die Bildung. Wie viele Kinder erreichen wir jetzt in dieser Phase nicht? Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern gesagt – und das ist völlig faktenbefreit und realitätsfern –, es brauche betreffend Kindergärten keine Änderung, die seien ja offen. Wissen Sie, was die Realität ist? – Eltern müssen gegenüber Kindergärten nachweisen, dass sie einen dringenden Bedarf haben, denn sonst wird ihnen nicht erlaubt, ihr Kind in Betreuung zu geben! (Zwi­schenrufe bei der ÖVP.) Ja, in welcher Welt leben wir denn eigentlich, meine Damen und Herren, dass wir als Eltern als Bittsteller auftreten und das nachweisen müssen?! (Beifall bei NEOS und FPÖ sowie bei Abgeordneten der SPÖ.)

Ich warte darauf, dass die Eltern für einen Tag die Arbeit niederlegen, damit Sie einmal sehen, was Sie mit einer Politik, die sagt, dass das doch alles vereinbar ist, anrichten! Vielleicht ist es aber auch die Ideologie, dass die Frau eh zu Hause ist und sich wunderbar um die Kinder kümmern kann. (Beifall bei den NEOS. – Ruf bei der ÖVP: Unglaublich! – Weitere Zwischenrufe bei der ÖVP.)

„Wer nichts weiß, muss alles glauben.“ – Meine sehr geehrten Damen und Herren, in so einer Zeit ist das wirklich gefährlich, denn Vertrauen, Verlässlichkeit, Planbarkeit und Berechenbarkeit gerade der nächsten Schritte (Zwischenruf der Abg. Steinacker) sind ganz, ganz wesentlich für die Bevölkerung und selbstverständlich auch für die gewählte Volksvertretung. (Präsident Sobotka gibt das Glockenzeichen.)

Es wäre alles anders, wenn wir in Österreich wie viele entwickelte Demokratien schon ein Informationsfreiheitsgesetz hätten, also ein Gesetz, das den Menschen ein Recht auf Information und Transparenz garantiert, statt eines Bittstellertums, dass wir fragen müs­sen, um Zahlen und Daten und Fakten bekommen zu können. Unser Antrag dazu - -

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich darf Sie bitten, zum Schluss zu kommen!

Abgeordnete Mag. Beate Meinl-Reisinger, MES (fortsetzend): Ich komme zum Schluss, keine Sorge.

Unser Antrag liegt schon längst im Ausschuss. Jetzt wäre die Zeit, dem näherzutreten und endlich für umfangreiche Information und Transparenz zu sorgen. – Vielen Dank. (Beifall bei den NEOS sowie bei Abgeordneten von SPÖ und FPÖ.)

10.15

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Bundeskanzler Kurz. – Bitte.