13.40

Abgeordneter Yannick Shetty (NEOS): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Ministerin! Frau Staatssekretärin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es wurde heute schon mehrfach gesagt, die Coronakrise darf zu keiner gesellschaftlichen, zu keiner sozialen Krise werden. Die Maßnahmen, die wir unter diesem Tagesordnungs­punkt diskutieren, sind wichtig. Wir diskutieren heute über die Notstandshilfe, das Ar­beitslosengeld, die Mindestsicherung. Das ganze Land spricht seit Wochen über Schul­schließungen, Schulöffnungen, Matura hin oder her, und ich habe dabei die große Be­fürchtung, dass wir darauf vergessen, was währenddessen passiert, bis diese Maßnah­men dann in zwei, drei, vier oder fünf Wochen wirken. Bis beispielsweise die Schulen wieder öffnen, sind Zehntausende Kinder zu Hause hinter verschlossenen Türen, ohne dass Lehrer, Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter oder andere familiäre Bezugspersonen einen Kontakt zu ihnen haben.

Die „unsichtbaren Opfer“ der Krise nennt Unicef jetzt schon Kinder und Jugendliche an­gesichts der Coronakrise, und über die möchte ich heute mit Ihnen sprechen. Es ist nämlich gut belegt, dass während Ferienzeiten, Feiertagen, aber ganz besonders in Krisensituationen wie der jetzigen, Phänomene wie häusliche Gewalt, sexueller Miss­brauch, Vernachlässigung, Ausbeutung ansteigen; und aktuelle Belege aus Ländern wie den USA bestätigen diesen traurigen Trend.

Was die Coronakrise dabei besonders heikel macht, sind die Ausgangsbeschränkun­gen, der Wegfall sozialer Kontakte und die gleichzeitig auftretenden teils massiven Existenzängste bei Eltern, zum Beispiel, wenn sie ihren Job verloren haben. Schulen, Kindergärten und Sportstätten sind geschlossen, Familien, Freunde und Verwandte sind tabu, das soziale Umfeld ist mit einem Schlag auf die Kernfamilie und die eigenen vier Wände reduziert, und dabei fallen besonders oft die Großeltern weg, die im Re­gelfall zusätzlich zu den Eltern ein sozialer Kontaktpunkt sind. Man verbringt unge­wohnt viel Zeit miteinander – oft ohne Rückzugsmöglichkeiten – und ist eben in die ei­genen vier Wände eingesperrt.

Diese Bedingungen stellen schon für stabile Familienverhältnisse – und ich glaube, viele von Ihnen erleben zurzeit Ähnliches – eine große Herausforderung dar, da möch­te man sich gar nicht ausmalen, wie das in Familien ausschaut, in denen die Situation von Haus aus eine viel schwierigere ist. Hinzu kommt, dass nur wenige Wochen nach den geplanten Schulöffnungen bereits mehrmonatige Sommerferien ins Haus stehen, der geplante Sommerurlaub flachfällt und noch nicht klar ist, welche Freizeitaktivitäten in welchem Ausmaß überhaupt möglich sein werden.

Die „Tiroler Tageszeitung“ titelt heute: „Corona-Krise als Gefahr für Kinder“. Medien be­richten, dass die Kindergefährdungsmeldungen seit Beginn der Coronakrise in einigen Bundesländern massiv zurückgegangen sind. Das ist kein gutes Zeichen, im Gegenteil: Die gängigen Frühwarnsysteme, die normalerweise funktionieren, Schulen und Kinder­gärten, fallen nun weg und vieles bleibt unentdeckt.

Deswegen bringe ich heute folgenden Entschließungsantrag ein, damit wir jetzt – rechtzeitig und nicht im Nachhinein – entgegenwirken:

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Yannick Shetty, Kolleginnen und Kollegen betreffend „Dringende Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche während und nach der Corona-Krise“

Der Nationalrat wolle beschließen:

Die Bundesregierung, insbesondere die Bundesministerin für Arbeit, Familie und Ju­gend, wird aufgefordert, umgehend Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugend­lichen vor häuslicher Gewalt, Missbrauch und anderen Nebeneffekten der Corona-Kri­se umzusetzten. Insbesondere wird gefordert:

- als Sofortmaßnahme das System nach Vorbild Tirols, dass bei Nicht-Erreichen eines Kindes durch die Schule automatisch Meldung an das Jugendamt erstattet wird, auf ganz Österreich auszuweiten;

- ein deutlich verstärkter Einsatz von psychologischem Personal ab Wiederöffnung von Schulen und Kindergärten zur Aufarbeitung der Nebeneffekte der Krise auf Kinder und Jugendliche;

- Informationen zur Sensibilisierung des Lehr- und Kindergartenpersonals für die Aus­wirkungen der Corona-Krise auf die psychische und physische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bereitzustellen;

- Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in den Sommerferien zu ermög­lichen, z.B. im Rahmen der teilweisen Öffnung von Kindergärten und schulischen Be­treuungsmöglichkeiten zur Entschärfung angespannter familiärer Situationen;

- Freizeitprogramme für Kinder und Jugendliche für eine spielerische Abwechslung im Alltag außerhalb der eigenen vier Wände und zur Entlastung der Eltern;“

*****

Kinder haben keine Lobby, keine mächtigen Fürsprecher, die sich für sie ins Zeug hau­en. Sie brauchen uns, und daher ist es unsere Verantwortung, sie vor den Folgen die­ser Krise zu schützen. (Beifall bei den NEOS und bei Abgeordneten der Grünen.)

13.45

Der Antrag hat folgenden Gesamtwortlaut:

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Yannick Shetty, Kolleginnen und Kollegen

betreffend Dringende Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche während und nach der Corona-Krise

eingebracht im Zuge der Debatte in der 27. Sitzung des Nationalrats über den Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales über den Antrag 434/A(E) der Abgeordneten Gabriele Heinisch-Hosek, Kolleginnen und Kollegen betreffend Maßnahmenpaket zur Verhinderung einer sozialen Krise (127 d.B.)– TOP 9

Der Kampf gegen das Corona-Virus fordert unzählige Kollateralschäden, von denen uns manche noch sehr lange begleiten werden. Besonders vulnerable Gruppen wie Kinder leiden unter Nebenwirkungen von Krisen, die meist erst zu spät erkannt wer-den. Es ist allgemeinhin bekannt, dass während Krisensituationen, aber auch bei Fe­rienzeiten und Feiertagen Phänomene wie häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch zunehmen. Die New York Times berichtet bereits jetzt von einer Zunahme an Kindes­missbrauchsfällen während der Beschränkungen durch die Corona-Krise.1 Die gleichen Entwicklungen hätte es während der Wirtschaftskrise 2008 ebenfalls gegeben, als ver­mehrt Kinder mit Verletzungen in Spitäler eingeliefert wurden oder an schweren Kopf­traumata verstarben. Diese Nebeneffekte bildeten sich noch Jahre nach der Wirt­schaftskrise ab und haben das Potential, die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen und somit unserer Gesellschaft nachhaltig zu beeinträchtigen. Auch UNICEF warnt be­reits eindringlich davor, rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, damit aus der Corona Gesundheits-Krise keine nachhaltige Kinderrechts-Krise wird.2 Häusliche Gewalt, se­xueller Missbrauch, Vernachlässigung, Ausbeutung und Teenager-Schwangerschaften sind nur einige der Phänomene, die durch Krisen verstärkt werden.

Eine fatale Besonderheit der Corona-Krise im Vergleich z.B. zu Wirtschaftskrisen sind jedoch die Ausgangsbeschränkungen und der Wegfall sozialer Kontakte bei gleichzei­tig teils massiven Existenzängsten. Schulen, Kindergärten und Sportstätten sind ge­schlossen, Aktivitäten im Freien sollen nach Möglichkeit eingeschränkt werden. Aber auch Bars und andere Lokale, Geschäfte oder das tägliche Treffen mit Nachbar_innen und Freund_innen ist nicht oder nur extrem beschränkt möglich. Das soziale Umfeld ist mit einem Schlag auf die Kernfamilie und die eigenen vier Wände beschränkt. Be­sonders Großeltern, die Eltern oft bei der Kindererziehung oder Freizeitgestaltung un­terstützen, fallen weg und man verbringt ungewohnt viel Zeit miteinander, oft ohne Rückzugsmöglichkeiten. Diese Bedingungen wirken sich schon auf stabile Familienver­hältnisse massiv aus, sozial schwächere Familien sind jedoch in besonderem Maße betroffen.

Laut Medienberichten sind die Kindergefährdungsmeldungen seit Beginn der Corona-Krise in Österreich in einigen Bundesländern zurückgegangen.3 Kein Grund zur Freu­de, sind sich Expert_innen einig. Der Grund dafür sei leicht zu erklären: die gängigen Frühwarnsysteme wie Schulen und Kindergärten fallen nun weg - rund ein Viertel aller Gefährdungsmeldungen gehen normalerweise von Schulen und anderen Kinderbetreu­ungseinrichtungen aus. Häusliche Gewalt und Missbrauch finden weiterhin statt, nur eben hinter verschlossenen Türen und unter verschärften Umständen. Hinzu kommt, dass viele Eltern zurzeit unter massiven Existenzängsten leiden, ihren Job verlieren, Miete etc. nicht bezahlen können und nicht wissen, wie die Zukunft aussieht. Kinder und Jugendliche werden häufig zu Opfern dieser Umstände, sie verlieren ihr gewohn­tes soziales Netz, erleiden zu Hause enormen emotionalen Stress, leiden unter Schlaf­störungen, fangen wieder an zu bettnässen, entwickeln Angststörungen oder leiden an Einsamkeit und Vernachlässigung.

Es braucht konkrete Maßnahmen, um Kindern und Jugendlichen soziale Kontakte und räumliche Ausweichmöglichkeiten zu bieten, wenn diese sonst Gefahr laufen, nachhal­tigen psychischen oder physischen Schaden zu nehmen. Zwar sollen Schulen und Kin­dergärten schon bald wieder öffnen, jedoch kommen nur wenige Wochen später be­reits mehrmonatige Sommerferien auf die Eltern zu und das unter Wegfall eines even­tuell geplanten Urlaubs und weiterhin bestehenden Einschränkungen der Freizeitaktivi­täten in noch unklarem Ausmaß. Es braucht hier dringend Möglichkeiten, Schulen und Kindergärten zumindest teilweise oder auf freiwilliger Basis geöffnet zu halten, ein flä­chendeckendes Ersatzfreizeitprogramm anzubieten und kostenlose psychologische Nachbetreuung zu ermöglichen, wo diese notwendig ist. Zur akuten Hilfestellung soll das Vorgehen nach Vorbild Tirols, dass bei längerem Nicht-Erreichen von Schulkindern automatisch das Jugendamt benachrichtigt wird, in ganz Österreich umgesetzt werden.

Wenn wir nicht wollen, dass die Kinder und Jugendlichen von heute die zukünftigen Patient_innen der Kinder- und Jugendpsychiatrie von morgen werden, wie Martin Sprenger4 es formuliert, müssen wir besser gestern als heute handeln, jedenfalls aber schnell.

1          https://www.nytimes.com/2020/04/07/opinion/coronavirus-child-abuse.html

2          https://www.unicef.org/coronavirus/agenda-for-action

3          https://www.noen.at/niederoesterreich/chronik-gericht/coronavirus-experten-alarmiert-wegen-gewalt-gegen-kinder-oesterreich-epidemie-kinder-wien-coronavirus-gewalt-202016542

4          https://www.addendum.org/coronavirus/wie-weiter-sprenger/

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgenden

Entschließungsantrag

Der Nationalrat wolle beschließen:

"Die Bundesregierung, insbesondere die Bundesministerin für Arbeit, Familie und Ju­gend, wird aufgefordert, umgehend Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugend­lichen vor häuslicher Gewalt, Missbrauch und anderen Nebeneffekten der Corona-Kri­se umzusetzten. Insbesondere wird gefordert:

•           als Sofortmaßnahme das System nach Vorbild Tirols, dass bei Nicht-Erreichen eines Kindes durch die Schule automatisch Meldung an das Jugendamt erstat­tet wird, auf ganz Österreich auszuweiten;

•           ein deutlich verstärkter Einsatz von psychologischem Personal ab Wiederöff­nung von Schulen und Kindergärten zur Aufarbeitung der Nebeneffekte der Kri­se auf Kinder und Jugendliche;

•           Informationen zur Sensibilisierung des Lehr- und Kindergartenpersonals für die Auswirkungen der Corona-Krise auf die psychische und physische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bereitzustellen;

•           Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in den Sommerferien zu ermöglichen, z.B. im Rahmen der teilweisen Öffnung von Kindergärten und schulischen Betreuungsmöglichkeiten zur Entschärfung angespannter familiärer Situationen;

•           Freizeitprogramme für Kinder und Jugendliche für eine spielerische Abwechs­lung im Alltag außerhalb der eigenen vier Wände und zur Entlastung der El­tern;"

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Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Der Entschließungsantrag ist ordnungsgemäß eingebracht, ausreichend unterstützt und steht mit in Verhandlung.

Zu Wort gelangt Frau Abgeordnete Graf. – Bitte.