10.38

Bundeskanzler Sebastian Kurz: Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Innenminister! Frau Infrastruktur-, Klima- und Umweltministerin! Sehr geehrte Damen und Herren Abge­ordnete! Ich hätte eigentlich eine vorbereitete Rede gehabt, um noch einmal aus unserer Sicht die Situation in Europa die Migration und das Asylwesen betreffend zu schildern, aber, Frau Meinl-Reisinger, vielleicht erlauben Sie mir nach dieser Rede, auf ein paar Punkte einzugehen (Zwischenruf der Abg. Meinl-Reisinger), die Sie angesprochen ha­ben, ganz abseits von dem, was ich an grundsätzlichen Erklärungen vielleicht gern ge­sagt hätte.

Ich möchte bei einem allgemeinen Punkt beginnen: Ich glaube, es ist vollkommen ange­bracht, emotional zu sein, wenn man das Leid der Menschen in Moria, in Griechenland, auf Lesbos sieht, es ist vollkommen richtig, gegenüber diesen Menschen, die unglaublich leiden, Emotionen zu haben, aber ich würde mir schon wünschen, dass wir trotz dieser zu Recht bestehenden Emotionen in der Diskussion dieser politischen Frage in Öster­reich einen sachlichen und respektvollen Umgang untereinander finden. (Beifall bei der ÖVP. – Zwischenruf der Abg. Meinl-Reisinger.)

Ich glaube nicht, dass das ständige Arbeiten mit Emotionen, ohne Fakten, dass der ständige Versuch, in Gut und Böse, in richtig und falsch, in menschlich und unmenschlich einzuteilen, zu schubladisieren, einen positiven Beitrag zu unserer Debattenkultur in Ös­terreich leistet. (Beifall bei der ÖVP. – Abg. Kucharowits: Immer dieselbe Masche! Im­mer! – Abg. Meinl-Reisinger: Unfassbar ...!)

Ich kann Ihnen nur sagen, ich respektiere Ihre Sicht der Dinge zu 100 Prozent. Wir leben in einer pluralistischen Demokratie. Wir leben in einem vielfältigen Europa unter dem Motto: „In Vielfalt geeint“.

Wenn ich darf, würde ich Ihnen jetzt gerne zu einigen Punkten, die Sie angesprochen haben, in aller Sachlichkeit meine Sicht der Dinge skizzieren:

Das Erste ist, Sie haben vollkommen recht, dass es unglaubliches Leid auf Lesbos, kon­kret im Flüchtlingslager Moria, gibt, und Sie haben vollkommen recht, dass diese Bilder, wenn man sie sieht, niemanden kaltlassen. Ich kann Ihnen nur sagen, noch schlimmer ist es, wenn man es nicht im Fernsehen oder in der Zeitung sieht, sondern wenn man es persönlich erlebt. Ich habe als Außenminister auf verschiedenen Reisen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe, unzählige Menschen und unfass­bares Leid gesehen.

Wir haben nicht nur 13 000 Menschen aus dem Flüchtlingslager Moria, wir haben unge­fähr 50 000 Menschen in Griechenland, wir haben ungefähr 50 000 Menschen in den Balkanstaaten, wir haben 3,5 Millionen Flüchtlinge in der Türkei und wir haben noch ein­mal eine deutlich größere Zahl in Syrien, im Irak und in deren Nachbarländern. Wir haben weltweit, je nach Berechnungen, zwischen 70 und 100 Millionen Flüchtlinge.

Ich erspare Ihnen Geschichten über Straßenkinder in Bukarest, die zum Beispiel Kleb­stoff schnüffeln und teilweise in der Kanalisation leben. (Abg. Meinl-Reisinger: Das haben Sie eh schon ein paar Mal erzählt! Das ist ja nichts Neues!) Was tun wir dort? – Wir nehmen sie auch nicht alle auf, sondern Österreich hat ein höchst erfolgreiches Pro­jekt, nämlich Concordia, ins Leben gerufen. (Beifall bei der ÖVP. – Zwischenrufe bei der SPÖ.)

Ich habe im Irak, in Jordanien, im Libanon, in Afrika unzähliges Leid bei syrischen Flüchtlin­gen erlebt. Kommen Sie einmal mit mir ins Somaliland oder anderswohin: Tausende Men­schen in unfassbarer Armut, teilweise unterernährt, furchtbare hygienische Bedingun­gen. Wenn man das sieht, Frau Abgeordnete, dann ist eines klar: Wir können definitiv nicht alle Menschen aufnehmen! Wir wollen aber helfen, und die richtige Antwort ist aus meiner Sicht die Hilfe vor Ort. (Beifall bei der ÖVP. – Zwischenruf der Abg. Meinl-Reisinger.)

Ich bin dem Koalitionspartner in diesem Zusammenhang auch dankbar für das gemein­same Vorgehen beim Auslandskatastrophenfonds. Als ich Außenminister war, haben wir noch gekämpft, dass der Auslandskatastrophenfonds von 5 Millionen Euro auf 10 Mil­lionen Euro erhöht wird. Heute ist der Auslandskatastrophenfonds mit 50 Millionen Euro dotiert.

Ich bin auch stolz darauf, dass Österreich als eines der ersten Länder Hilfsgüter nach Griechenland geliefert hat, nämlich Quartiere für 2 000 Menschen. Sie können dort win­terfest untergebracht und ordentlich, menschenwürdig versorgt werden. Vielen Dank an den Innenminister, der als einer der Ersten eine solche Aktion gestartet hat und auch die Hilfsgüter geliefert hat. (Beifall bei der ÖVP.)

Der zweite Punkt: Sie haben gesagt, Österreich tut da zu wenig. Andere haben in den letzten Tagen Worte wie: Österreich tut gar nichts!, Österreich nimmt niemanden auf!, verwendet. Auch da würde ich gerne auf die Zahlen hinweisen: In den letzten fünf Jahren hat Österreich über 200 000 Menschen aufgenommen. Wir sind das Land in Europa, das am drittmeisten belastet ist. (Abg. Meinl-Reisinger: Genau deswegen liegt es im Inter­esse Österreichs, dass wir europäisch vorgehen!) Wir sind das Land in Europa, das, nach Schweden, die zweitmeisten Kinder aufgenommen hat. Wir haben alleine in diesem Jahr, alleine in den ersten acht Monaten dieses Jahres 3 700 Kindern einen positiven Bescheid ausgestellt. Das bedeutet, 3 700 Kinder haben alleine in diesem Jahr in Öster­reich Schutz gefunden. (Abg. Kucharowits: Die seit Jahren auf die Entscheidungen ge­wartet haben! Seit Jahren!)

Bitte verzeihen Sie, wenn ich mir, wenn ich von anderen Ländern höre, dass sie zwei, vier oder 16 Kinder aufnehmen, nicht denke: Unglaublich, was die leisten! – Österreich hat da deutlich mehr getan als die Masse aller anderen Länder (Abg. Meinl-Reisinger: Habe ich gesagt!), und wir sollten zunächst einmal diejenigen integrieren, die schon hier sind, bevor wir über Neuaufnahmen diskutieren. (Beifall bei der ÖVP.)

Was mich in dem Zusammenhang auch ein Stück weit irritiert, ist der Versuch, es so darzustellen, als würde Österreich die europäische Linie blockieren. Sie haben gesagt, wir sind schuld am Scheitern der europäischen Politik, wir stellen uns gegen eine euro­päische Lösung. (Zwischenrufe bei den NEOS.) Kennen Sie das, wenn man den Ein­druck hat, dass eine Debatte sich in Österreich anders abspielt als im Rest der Welt und im Rest Europas? Sie zitieren vollkommen zu Recht, was Deutschland tut, aber ich gebe Ihnen hier vielleicht einen größeren europäischen Überblick: Es ist vollkommen richtig, dass Deutschland sich bereit erklärt hat, in einem ersten Schritt gemeinsam mit anderen Ländern 400 Kinder aufzunehmen, und dann auf 1 500 Flüchtlinge – die in Deutschland aufgenommen werden sollen – erhöht hat.

Bei diesem ersten Schritt, der Aufnahme von 400 – einer meiner Meinung nach relativ kleinen Zahl, wenn man vergleicht, was Österreich geleistet hat –, haben sich neun an­dere Länder bereit erklärt, mitzumachen. 17 Länder haben gesagt, sie machen da nicht mit, darunter auch sozialdemokratisch geführte Länder wie Dänemark und Schweden – das Land, das bisher immer für die unbeschränkte Aufnahme in Europa gestanden ist, hat sich an diesem deutschen Programm nicht beteiligt –; 17 Länder, die nicht mitge­macht haben, und zehn Länder, die mitmachen

In einem zweiten Schritt hat Deutschland erklärt, man erhöht auf 1 500 Flüchtlinge, die man aufnimmt. Wissen Sie, wie viele andere Länder sich bereit erklärt haben, auch die­sem Weg zu folgen und zu erhöhen? – Ich kenne kein einziges. (Abg. Meinl-Reisinger: Was ist das für ein Argument?) Vielleicht haben Sie andere Informationen, aber meinen Informationen nach haben 26 Länder in der Europäischen Union gesagt, nein, sie sto­cken nicht auf, sie werden nicht in ähnlich großer Zahl wie Deutschland Menschen auf­nehmen.

Das bedeutet, dass wir hier, glaube ich, nicht davon sprechen sollten, dass Österreich isoliert ist. Wir sind mit unserer Linie Teil der absoluten Mehrheit in der Europäischen Union. Was mich stört, ist, dass die innereuropäische Debatte in Österreich nicht er­wähnt wird. Was mich in Österreich, auf nationaler Ebene, ein Stück weit irritiert, ist, wie sehr hier Politiker der Volkspartei für ihre Linie beschimpft werden, mit wie viel Hass wir im Internet zu kämpfen haben, welche Aussagen es da von manchen Politikern gibt.

Die Sozialdemokratie hat gesagt, unser Vorgehen sei menschenunwürdig. (Abg. Sche­rak: Eure eigenen Leute!) Prof. Taschner ist gestern in einer Ausschusssitzung angegrif­fen worden, und es wurde gesagt, man sei persönlich enttäuscht von ihm. Als Landes­hauptmann Doskozil sich dafür ausgesprochen hat, keine Flüchtlinge aufnehmen, als er gesagt hat, keine Menschen aus Moria übernehmen zu wollen, gab es diese Wortmel­dungen vonseiten der Sozialdemokratie auf einmal nicht mehr. (Beifall bei der ÖVP.)

Jetzt ein letzter, aber, so glaube ich, langfristig wichtiger Punkt, nämlich zur Frage, wie das europäische Asylsystem, wie dieser gemeinsame europäische Weg, den wir wollen, aussehen soll – das ist ein Punkt, der, glaube ich, nachdenklich machen sollte –: Im Jahr 2015 sind nicht nur über eine Million Menschen nach Europa gekommen und es gab eine Überforderung in Mitteleuropa, im Jahr 2015 sind auch Tausende Menschen im Mittelmeer ertrunken. Wir haben dieses System stets bekämpft und haben Gott sei Dank irgendwann auch die Mehrheit in der Europäischen Union davon überzeugt, dass es unwürdig ist, wenn Europa einen Weg geht, der dazu führt, dass das Mittelmeer zum Massengrab wird. Die europäische Politik hat sich geändert: in Richtung Außengrenz­schutz, in Richtung Kampf gegen die Schlepper, in Richtung Hilfe vor Ort statt unbe­schränkter Aufnahme in Mitteleuropa.

Es sollte einem schon zu denken geben, Frau Abgeordnete Meinl-Reisinger, wenn grie­chische Behörden und griechische Verantwortliche immer wieder sagen: Wenn ihr Men­schen aufnehmt, dann überlegt doch, von wo!

Ist es richtig, Menschen aus Lesbos aufzunehmen, oder löst das nur aus, dass diejeni­gen, die auf Lesbos weiter zurückbleiben, dort einen unglaublichen Frust entwickeln und teilweise auch gewaltsam versuchen, nach Mitteleuropa durchzubrechen? (Abg. Meinl-Reisinger: Das verstehe ich ja! Ich verstehe das total!) Löst das nicht aus, dass sich noch mehr Menschen aus der Türkei und anderen Ländern auf den Weg nach Lesbos machen und dann auf ihrem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrinken?

Ich kann Ihnen nur sagen, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete: Ich unterstütze einen europäischen Weg, aber was ich in diesem Leben sicher nicht unterstützen werde, ist ein europäischer Weg, der dazu führt, dass Menschen unter falschen Vorstellungen nach Europa gelockt werden, die Schlepper immer mehr verdienen und Unzählige auf ihrem Weg nach Mitteleuropa ertrinken. Das ist ein Weg, den wir definitiv nicht unterstüt­zen werden. (Anhaltender Beifall bei der ÖVP.)

10.50

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist Abgeordneter Lopatka. (Der Beifall hält nach wie vor an.) – Abgeordneter Lopatka ist am Wort. – Bitte.