10.41

Bundesministerin für Justiz Dr. Alma Zadić, LL.M.: Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Zuseherinnen und Zuseher! Die heutige Europastunde mit dem Titel „Europaweiter Einsatz gegen Gewalt an Frauen“ greift ein sehr wichtiges Thema auf, denn Gewaltschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Frage, die wir nur gemeinsam lösen können.

Leider gehört Gewalt gegen Frauen in Österreich und in Europa nicht der Vergangenheit an. Wenn wir uns die Zahlen zum Beispiel zu den Femiziden, den Frauenmorden, anschauen, so sehen wir auch in Österreich erschütternde Zahlen. Im Jahr 2019 wurden in Österreich 39 Frauen ermordet, viele davon von ihren Ex-Partnern oder Familien­mitgliedern. Das Jahr 2018 stellt ein trauriges Rekordjahr dar: In diesem Jahr wurden sogar 41 Frauen ermordet.

Doch man muss überhaupt nicht bei den Morden ansetzen, um herauszufinden, wie allgegenwärtig Gewalt gegen Frauen ist, nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa. Weltweit ist jede dritte Frau von Gewalt betroffen. EU-weit erlebt die Hälfte der Frauen sexuelle Belästigung oder Übergriffe ab dem 15. Lebensjahr.

Diese Zahlen, meine Damen und Herren, sind schockierend, denn jede und jeder von uns kennt nach dieser Statistik eine Frau, die Gewalt erfahren hat, jede und jeder von uns kennt eine Frau, die sexuelle Belästigung erfahren hat. Das bedeutet, Gewalt an Frauen ist real, Gewalt an Frauen ist überall und sie ist leider trauriger Alltag.

Auf europäischer Ebene haben wir zahlreiche Maßnahmen gesetzt, um uns gegen Gewalt an Frauen in Europa zu wehren. Ich bin im regelmäßigen Austausch mit den Justizministerinnen und Justizministern anderer Mitgliedstaaten. Es sind zahlreiche Maßnahmen, die auf den Weg gebracht wurden und die aktuell besprochen werden.

Zuletzt waren es Maßnahmen gegen Gewalt und Hass im Netz, die auch als Thema beim informellen JustizministerInnenrat der EU besprochen wurden. Es wurde auch das Arbeitsprogramm der portugiesischen Ratspräsidentschaft vorgestellt, und einer der Schwerpunkte ist die EU-Strategie für Opferrechte, denn diese soll eine hohe Priorität unter der portugiesischen Ratspräsidentschaft bekommen. Gleichzeitig soll auch der Schutz der vulnerablen Personen eine besondere Bedeutung haben. Es wird schon im ersten Halbjahr eine Konferenz zu diesem Thema geben, bei der hoffentlich auch die ersten Maßnahmen auf den Weg gebracht werden können.

Außerdem – das wurde schon angesprochen – wird auch diskutiert, ob die EU als Gesamtes der Istanbulkonvention beitreten kann. Der Rat der Europäischen Union wartet mit Spannung auf das Gutachten des Gerichtshofes hinsichtlich der Frage, ob ein Beitritt zulässig wäre. Ein Beitritt wäre aus meiner Sicht jedenfalls wichtig und richtig. Alle Mitgliedstaaten haben das Übereinkommen unterzeichnet, 21 haben es ratifiziert, und der Rat wird auch weiterhin darauf einwirken, dass das Istanbuler Übereinkommen auch von den anderen Mitgliedstaaten ratifiziert wird. Wir hoffen daher, dass es auch auf europäischer Ebene rasch viel Bewegung und zahlreiche Maßnahmen geben wird, die wir gemeinsam auf den Weg bringen können. (Beifall bei Grünen und ÖVP.)

Auch im Justizministerium haben wir einige Maßnahmen auf nationaler Ebene gesetzt, um uns gegen Gewalt an Frauen zu wehren. Zu Beginn der Coronapandemie haben wir uns dieses Problems bewusst angenommen, denn die Frauenministerin und ich haben uns zusammengesetzt und gesehen: Überall auf der Welt, wo ein Lockdown verhängt wurde, gibt es Probleme hinsichtlich Gewalt an Frauen. Gerade die Situation eines verstärkten Lockdowns, in der man in einem Haushalt, auf engem Raum die Zeit rund um die Uhr zusammen verbringen muss, kann dazu führen, dass Gewalt an Frauen und in der Familie eskaliert. Wir haben daher zahlreiche Maßnahmen gesetzt.

Ich war zu diesem Zeitpunkt sowie auch später mit zahlreichen Frauenorganisationen in Kontakt, mit Gewaltschutzorganisationen, mit der Interventionsstelle, weil es einfach wichtig war, aus den Erfahrungen des Lockdowns und aus den Maßnahmen, die wir gesetzt haben, zu lernen. Wir haben gestern auch ein Treffen mit der Allianz gewaltfrei leben gehabt, bei dem wir uns insbesondere über die Erfahrungen mit dem Lockdown ausgetauscht haben.

Wir haben auch erkannt, dass wir zahlreiche Maßnahmen, die wir damals gesetzt haben, ins Dauerrecht überführen können. Dazu möchte ich ein paar Beispiele nennen: Wir haben im Lockdown gesehen, dass es wichtig wäre, eine einstweilige Verfügung bei Gericht auf elektronischem Wege beantragen zu können. Die vielen, vielen positiven Rückmeldungen, die wir dazu bekommen haben, haben uns dazu bewogen, dass wir diese Maßnahme ins Dauerrecht überführen.

Warum ist das so wichtig? Warum ist es wichtig, dass Frauen auf elektronischem Wege einstweilige Verfügungen zum Schutz vor Gewalt beantragen können? – Meine Damen und Herren, viele Frauen trauen sich nicht aus dem Haus, viele Frauen haben Angst, auf dem Weg zum Gericht gesehen zu werden, sie haben Angst, dass ihr gewalttätiger Mann vielleicht erfahren könnte, dass sie gerade zum Gericht geht. Daher gibt es jetzt die Möglichkeit, dass die Opferschutzorganisationen die betroffene Frau vertreten und im Namen der Frau bei Gericht selbst eine einstweilige Verfügung im Bereich des Ge­waltschutzes beantragen können. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.) Ich glaube, dass das eine sehr große Erleichterung für viele, viele Frauen ist, und zwar nicht nur im Lockdown, sondern allgemein.

Wie bereits von Abgeordneter Disoski erwähnt, haben wir auch den Bereich des Opfer­schutzes massiv ausgeweitet. Wir haben das Budget für den Opferschutz aufgestockt, insgesamt um zusätzlich 4,2 Millionen Euro, und haben diesen Opferschutz auch auf Hass und Gewalt im Internet ausgeweitet. Das ist deswegen so wichtig, weil Hass und Gewalt, Gewalt gegen Frauen  diese strukturelle Gewalt gegen Frauen  oftmals im Internet beginnen. Es ist daher wichtig, den Frauen in diesen Momenten die Unter­stützung zu geben, nicht nur die psychosoziale Unterstützung, sondern auch die juris­tische Prozessbegleitung, damit sie sich effizient, effektiv, rasch und vor allem mutig zur Wehr setzen können. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der ÖVP.)

Wir haben den Opferschutz auch für Kinder ausgeweitet. Kinder sind die stillen Zeugen der Gewalt, insbesondere der häuslichen Gewalt, und Kinder werden sehr oft, wenn sie dann vor Gericht aussagen müssen, retraumatisiert. Bis jetzt war es so, dass viele Kinder, die traumatisiert sind, auf Spenden angewiesen waren, beziehungsweise die Frauenschutzorganisationen, die Kinderschutzorganisationen auf Spenden angewiesen waren, um diese Kinder zu unterstützen. Wir haben jetzt die Prozessbegleitung für Kinder, die häusliche Gewalt erleben, die erleben, wie ihre Mütter geschlagen werden, ausgeweitet, sodass auch sie psychosoziale und juristische Prozessbegleitung bekom­men. (Beifall bei Grünen und ÖVP.)

Meine Damen und Herren, der Kampf gegen Gewalt an Frauen ist eine gesamtgesell­schaftliche Aufgabe. Dieser Kampf betrifft nicht nur die Justiz, er betrifft nicht nur die Polizei, er betrifft auch nicht nur das Frauenressort, er betrifft uns alle. Wenn wir etwas ändern wollen, wenn wir auch als Bundesregierung etwas ändern wollen, wenn wir als Gesellschaft etwas ändern wollen, wenn wir Gewalt an Frauen massiv reduzieren wollen, dann müssen wir auch über die Machtverhältnisse sprechen. Wir müssen über Sexismus reden, wir müssen über die gefährlichen Folgen patriarchaler Strukturen sprechen. Wir müssen auch die gesamtgesellschaftlichen Ursachen für Gewalt an Frauen ansprechen. Und wir müssen uns auch der sozialen Frage stellen, denn die Freiheit und Sicherheit von Frauen ist immer auch eine Frage der ökonomischen Abhängigkeit von Frauen. Daher geht es auch um den Bildungsbereich, es geht um den sozialen Bereich, es geht um Aufklärungsarbeit, es geht um Präventionsarbeit. (Beifall bei Grünen und ÖVP sowie der Abg. Künsberg Sarre.)

Wir alle sind gefordert, einen Beitrag zu leisten. Auch wir alle in der Bundesregierung sind gefordert, unseren Beitrag zu leisten, und ich kann Ihnen versichern, dass wir das auch alle tun. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen kann uns nur gemeinsam gelingen.

Zum Abschluss möchte ich nicht nur an die vielen Maßnahmen erinnern, die wir auf den Weg gebracht haben oder auf den Weg bringen können, sondern ich möchte mich auch an die Mädchen in diesem Land wenden, die gerade aufwachsen und vielleicht zum ersten Mal mit Wörtern wie hysterisch, emotional oder Furie zum Schweigen gebracht werden. Diesen Mädchen möchte ich sagen: Eure Meinung zählt, sprecht sie aus! Lasst euch nicht kleinkriegen und hört nicht auf die anderen, denn ihr habt das Recht, eure Meinung zu sagen! (Beifall bei Grünen und ÖVP sowie bei Abgeordneten von SPÖ und NEOS.)

Ich möchte mich auch an jene Frauen wenden, die gerade in Angst vor ihren Partnern leben. Diesen Frauen möchte ich sagen: Ihr seid nicht alleine! Holt euch Hilfe! Zahlreiche Frauenschutzorganisationen, Gewaltschutzzentren, die Interventionsstelle bieten Schutz und Unterstützung – egal in welcher Sprache.

Ich möchte mich auch an alle in Österreich lebenden Menschen wenden und ihnen sagen: Zivilcourage ist das wichtigste Mittel gegen Gewalt an Frauen. Schaut hin, wenn ihr etwas seht! Sagt, wenn ihr etwas hört! Oft kann die Hilfe durch Außenstehende den entscheidenden Unterschied machen, denn die Person, die diese Hilfe am dringendsten braucht, kann oftmals nicht danach fragen.

Zu guter Letzt möchte ich mich auch an alle Organisationen wenden, die bereits seit Jahren und Jahrzehnten diesbezüglich unglaublich wichtige Arbeit leisten. Den vielen Organisationen möchte ich hier meinen Dank aussprechen, denn Sie leisten Unglaubliches und unterstützen zahlreiche Frauen in Notsituationen. (Beifall bei Grünen und ÖVP sowie bei Abgeordneten der NEOS.)

Meine Damen und Herren Abgeordnete, wir haben einen weiten Weg hinter uns, aber wir haben auch noch einen weiten Weg vor uns. In diesem Sinne: vielen herzlichen Dank fürs Zuhören. (Beifall bei Grünen und ÖVP.)

10.54

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Frau Abgeordnete Pfurtscheller ist zu Wort gemel­det. Die Redezeiten betragen ab jetzt wieder 5 Minuten. – Bitte.