9.05

Abgeordnete Dr. Pamela Rendi-Wagner, MSc (SPÖ): Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler! Herr Minister! Hohes Haus! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Coronakrise hat nicht nur enorme gesundheitliche Folgen – nein, viele Menschen in unserem Land trifft sie auch wirtschaftlich und sozial sehr hart. Man muss es so sagen, wie es ist: Diese Krise hat viele Verliererinnen und Verlierer. Unsere Aufgabe – vor allem auch Ihre Aufgabe, Herr Bundeskanzler – ist es, niemanden in dieser so schwierigen Zeit alleinzulassen, niemanden zurückzulassen, zum Beispiel die Frau in Spielberg in der Obersteiermark, die nach 30 Jahren in der Fertigung ihren Job verliert, wenige Jah­re vor der Pension, oder auch die 16-Jährige im selben Betrieb, die gerade ihr zweites Lehrjahr begonnen hat. Beide stehen plötzlich vor dem Nichts, weil ihre Firma zusperrt – Corona­krise.

Da ist der 57-jährige gelernte Maurer, der es schon vor der Krise sehr schwer hatte, mit seinem kaputten Kreuz eine Stelle zu finden; langzeitarbeitslos nennt man das. Da ist die alleinerziehende Mutter aus Wien, die in den letzten Monaten nicht mehr weiß, wie sie die Miete für sich und ihre Kinder zahlen soll. Da sind aber auch die vielen Unter­nehmerinnen und Unternehmer unseres Landes, die sich ihr Leben lang ihren persön­lichen Traum aufgebaut haben, die alles investiert haben, alles hineingesteckt haben und von heute auf morgen ihre Betriebe schließen müssen, ihren Traum, ihre Zukunft aufgeben müssen. (Abg. Wurm: Das haben wir immer gesagt!) Ja, diese Krise kennt viele Verliererinnen und Verlierer, und einige von ihnen habe ich in den letzten Tagen, Wochen und Monaten persönlich getroffen. Ich habe ihnen zugehört, ich habe mit ihnen gesprochen. Sie waren verzweifelt. Sie alle sind aber keine Einzelfälle.

Nein, Österreich – so ehrlich muss man sein, Herr Bundeskanzler – ist unter jenen Län­dern in Europa mit dem stärksten Wirtschaftseinbruch: minus 8 Prozent. Die Arbeits­losigkeit ist in Österreich doppelt – doppelt! – so stark gestiegen wie in Deutschland. Ja, wir erleben einen Winter der Rekordarbeitslosigkeit: über eine halbe Million Menschen ohne Job, eine halbe Million in Kurzarbeit.

Vom Negativrekord beim Impfen, Herr Bundeskanzler, ganz zu schweigen: Nur Tschechien liegt in Europa hinter uns, was die Durchimpfungsrate betrifft. Muss das so sein? – Nein, das muss nicht so sein! (Beifall bei der SPÖ sowie des Abg. Margreiter.)

Viele fragen sich: Warum ist denn die Arbeitslosigkeit in Österreich doppelt so stark gestiegen wie in unserem Nachbarland Deutschland? Der Tourismus alleine als Erklä­rung ist zu wenig. Warum ist unsere Wirtschaft wesentlich stärker eingebrochen als in 25 anderen EU-Ländern? Ja, warum? – Die Gründe liegen auf der Hand: Weil Sie die Unternehmerinnen und Unternehmer von Anfang an über Nacht zu Bittstellern gemacht haben, weil die von Ihnen versprochene Hilfe während der ersten Welle zu wenig, zu spät und zu bürokratisch war und dadurch im März letzten Jahres binnen zwei Wochen 200 000 Menschen in Österreich ihren Job verloren haben – 200 000 Menschen, das gab es noch nie, Herr Bundeskanzler –, weil seit dem zweiten Lockdown noch immer viele kleine und mittlere Unternehmen – zum Teil noch immer seit November! – auf Hilfszahlungen warten, die nicht einmal eine Ansprechstelle haben, nur eine Hotline, die aber keinen Zugang zu den Daten hat und keine Auskunft geben kann.

50 Milliarden Euro, das ist die gute Nachricht, gibt es für die heimische Wirtschaft. 50 Milliarden heißt aber noch nicht, dass dieses Geld alleine hilft. 50 Milliarden heißt nicht, dass dieses Geld dort ankommt, wo es auch am dringendsten gebraucht wird, denn wohin dieses Geld, diese 50 Milliarden Euro fließen – es ist Steuergeld, Herr Bun­deskanzler –, wohin diese Steuermittel fließen, darf, wenn es nach Ihnen geht, niemand wissen – die größte Summe, die je ein Finanzminister freihändig in der Zweiten Republik ausgeben konnte, und niemand in diesem Land darf es wissen.

Was auch niemand weiß und niemand versteht, ist, warum unser Finanzminister, der jetzt mit anderen Dingen sehr beschäftigt ist  das wissen wir , warum genau dieser Finanzminister noch immer keinen Plan auf den Tisch gelegt hat, wie Österreich die 3 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds abholen will – 3 Milliarden Euro, kein Plan! Die Zeit läuft. Wir können darauf nicht verzichten. Wo ist der Plan für diesen Wiederaufbaufonds? (Beifall bei der SPÖ.)

Das alles, Herr Bundeskanzler, müsste nicht so sein, und ich gehe weiter, das alles darf nicht so sein. Wenn es darum geht, Menschen in Beschäftigung zu halten, Betriebe in Österreich zu retten, neue Jobs zu schaffen, ja, unser Land aus dieser Krise zu führen, dann ist die SPÖ immer – darauf können Sie sich verlassen – ein konstruktiver, ein verlässlicher Partner gewesen und wird es auch weiter sein.

Wir haben dazu klare Ideen und Vorschläge geliefert: für ein großes Konjunkturpaket zur Ankurbelung der österreichischen Wirtschaft, für eine freiwillig geförderte Viertage­woche, um Hunderttausende Arbeitsplätze zu sichern, für ein höheres Arbeitslosengeld (Zwischenruf des Abg. Haubner), um die Existenzen einer halben Million Menschen zu sichern, die Kaufkraft zu stärken, damit auch die Wirtschaft wieder anzukurbeln, für eine Pflegearbeitsstiftung, um Arbeitslose zu Pflegekräften auszubilden. (Ruf bei der ÖVP: ... weniger Arbeitslosigkeit!) Ja, und einen weiteren Vorschlag von uns haben Sie gestern aufgegriffen, das ist ein positiver Schritt, nämlich unseren Vorschlag, die gesetzliche Mieterhöhung heuer auszusetzen. Damit sind eine Million Menschen in unserem Land entlastet – ein guter, ein richtiger, ein erster Schritt. (Beifall bei der SPÖ.)

Das ist ein erster Schritt, und viele weitere müssen folgen, denn diese Krise löst sich nicht von selbst. Die Wirtschaft muss angekurbelt werden, das alleine reicht aber nicht. Das alleine wird nicht reichen, denn Menschen, die trotz aller Bemühungen in dieser schwierigen Zeit länger als ein Jahr keinen Job gefunden haben, schaffen es nicht alleine. Sie brauchen Unterstützung und sie brauchen vor allem eines: Sie brauchen eine ehrliche Chance. Diese Chance, und so ehrlich muss man auch sein, haben sie nur durch die öffentliche Hand. Das weiß ich und das wissen Sie alle – nur durch die öffent­liche Hand.

Herr Bundeskanzler, deswegen schlage ich Ihnen heute die Joboffensive für Langzeit­arbeitslose vor. Schaffen wir gemeinsam 40 000 sinnvolle, neue Jobs für Langzeitar­beitslose in Österreich! (Beifall bei der SPÖ.)

Die Wirtschaft nach oben bringen, die Arbeitslosigkeit runterbringen, das ist eine Mammutaufgabe, die ebenso das Gemeinsame braucht wie die Bekämpfung dieser Jahrhundertgesundheitskrise. Das Gemeinsame: Arbeiten wir gemeinsam daran!

Und, Herr Bundeskanzler, führen Sie entschlossen einen Kampf gegen Corona, gegen die Arbeitslosigkeit, gegen die Pleitewelle! Führen Sie bitte keinen Kampf gegen die österreichische Justiz! (Lang anhaltender Beifall bei der SPÖ.)

9.14

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zu Wort gemeldet ist der Herr Bundeskanzler. Ich erteile ihm das Wort.