16.29

Abgeordneter Mag. Jörg Leichtfried (SPÖ): Frau Präsidentin! Geschätzte Damen und Herren der Bundesregierung! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich wollte eigentlich nicht schon wieder darauf herumreiten, aber anscheinend ereilt es mich irgendwie, nachdem Herr Platter, glaube ich, gestern sehr pathetisch vom gehaltenen Versprechen gesprochen hat. Auch der Herr Bundeskanzler hat von Versprechen gesprochen und jetzt auch Herr Wöginger. (Abg. Hörl: Ihr kennt nur gebrochene!) Herr Hörl hat jetzt – wahrscheinlich unfreiwillig – ein wichtiges Stich­wort geliefert: gebrochene Versprechen.

Ich darf Sie, geschätzte Damen und Herren, daran erinnern, dass ungefähr acht oder neun von Ihnen, die hier sitzen – man verliert ja langsam den Überblick, wie viele das wirklich sind, aber ich schätze einmal, acht oder neun –, versprochen haben, wenn Herr Kurz geht, gehen Sie auch. – Na, was ist jetzt? Was ist jetzt? Sie sitzen ja noch immer da. (Beifall bei der SPÖ. – Zwischenrufe bei der ÖVP. – Zwischenruf der Abg. Belakowitsch.)

Ich würde sagen: Reden wir nicht über das Versprechen – dazu sind Sie jetzt nicht mehr absolut qualifiziert –, sondern reden wir über das harte Arbeiten, das würde diesem Land wahrscheinlich besser tun! (Zwischenrufe bei der ÖVP.)

Herr Vizekanzler, ich habe versucht, Ihrer Rede sehr genau zu folgen. Sie war von der Länge her ein bisschen wie eine neue Vorstellungsrede. Das wäre nicht notwendig gewesen, aber sei’s drum. Mir ist nur eines aufgefallen: Sie haben gemeint – und das finde ich bemerkenswert und entspricht komplett Ihrer Integrität –, dass man sehr kritisch gegenüber den Neonazis und Staatsverleugnern auftreten muss. Was mir aber ein bisschen gefehlt hat – und das insbesondere jetzt aufgrund dieser Untertöne, die es so in der Regierung gibt –: Ich hätte mir schon erwartet, Herr Vizekanzler, dass Sie auch etwas Kritisches zum Austrofaschismus und möglichen jetzigen Kultstätten sagen. (Beifall bei der SPÖ.)

Wir sind aber jetzt in einer dramatischen Situation, wir sind in der vierten Welle einer Pandemie, die schrecklich ist – meines Erachtens hat über Jahrhunderte wirklich nichts in Europa so gewütet. Ich habe mich lange gewundert, was diesen Sommer und die­sen Herbst mit der Regierung passiert ist. Zuerst plakatieren Sie: Die Pandemie ist gemeistert!, dann traut sich keiner, etwas über die Impfung zu sagen, weil es in Ober­österreich eine Wahl gegeben hat, und am Ende zerbricht das türkise System und es passiert wieder nichts.

Es ist hoch an der Zeit, geschätzte Damen und Herren der Bundesregierung, dass endlich wieder diese Pandemie bekämpft wird. Frau Abgeordnete Klubobfrau Meinl-Reisinger hat gemeint, Herr Kickl möge sich zusammenreißen. – Ja, dem stimme ich zu, und vielleicht nicht nur Herr Kickl, sondern auch die eine oder andere mehr bei der FPÖ, aber, geschätzte Damen und Herren, wer sich wirklich einmal zusammenreißen müsste, ist die österreichische Bundesregierung, und dafür ist es ist hoch an der Zeit. (Beifall bei der SPÖ.)

Zu Herrn Nehammer, der uns jetzt kurzfristig verlassen hat, aber ich nehme an, er kommt wieder: Ich glaube, das Wichtigste ist nun – und da bin ich auf Ihrer Seite –, dass es Ihnen allen gelingt, zu beweisen, dass es jetzt nicht mehr um Show, nicht mehr um Inszenierung und nicht mehr um Machtpolitik geht, sondern dass es jetzt darum geht, diese Pandemie ernsthaft zu bekämpfen – auch wenn es unpopulär ist –, dass es darum geht, Rechtsstaat und Demokratie zu schützen, dass es darum geht, dieses Chaos, das in den letzten Wochen und Monaten herrschte, zu beenden. Es geht um die Menschen in Österreich, geschätzte Damen und Herren, und Sie als Bundesregierung sollten endlich für diese Menschen zu arbeiten beginnen. Es ist wirklich hoch an der Zeit.

Es ist nicht nur die Pandemie, es sind darüber hinaus so viele andere Dinge zu tun: die Teuerungswelle, die über das Land rollt, das Problem in der Gesundheitspolitik, der Pflegenotstand, den wir wirklich haben – nichts passiert. Bundeskanzler Nehammer hat gemeint: Wir müssen endlich über den Pflegenotstand diskutieren! – Ihr diskutiert schon seit vier Jahren darüber, aber es passiert nichts, und jetzt, geschätzte Damen und Herren, hat endlich einmal etwas zu geschehen. (Beifall bei der SPÖ.)

In unserer Tradition, die Regierungspolitik kritisch, aber doch immer wieder mit Vor­schlägen zu begleiten, bringe ich deshalb auch einen Entschließungsantrag zur Pflege­problematik ein.

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Mag. Jörg Leichtfried, Kolleginnen und Kollegen betreffend „Pflege­offensive JETZT – Ende mit leeren Versprechen!“

Der Nationalrat wolle beschließen:

„Die Bundesregierung wird aufgefordert, unverzüglich Regierungsvorlagen auszuar­bei­ten und dem Nationalrat zu übermitteln, mit denen

- ein Pflegegarantiefonds geschaffen wird, in dem die bisherigen finanziellen Aufwen­dungen für Pflegeleistungen von Bund und Ländern zusammengefasst werden,

- eine zusätzliche Pflegemilliarde aus Budgetmitteln zur Verfügung gestellt wird, damit künftig alle Pflegebedürftigen ihre benötigten Pflegeleistungen kostenfrei zur Verfügung gestellt bekommen,

- eine Ausbildungsoffensive sofort gestartet wird

- und die Verbesserung der Arbeitssituation für Pflegeberufe rasch umgesetzt wird.“

*****

Herr Bundeskanzler, Sie haben das Wort Vertrauen bemüht. Geschätzte Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie haben das Wort Vertrauen, das Sie erwerben möchten, bemüht. Ich mache Ihnen einen Vorschlag, wie man ganz leicht Vertrauen erwerben kann: Verzichten Sie auf das Milliardengeschenk für die Superreichen, ver­zichten Sie auf die Körperschaftsteuersenkung und investieren Sie diese Milliarde in das Pflegesystem! Das würde Vertrauen schaffen. – Danke schön. (Beifall bei der SPÖ.)

16.35

Der Antrag hat folgenden Gesamtwortlaut:

Entschließungsantrag

der Abgeordneten Mag. Leichtfried,

Genossinnen und Genossen

betreffend Pflegeoffensive JETZT – Ende mit leeren Versprechen!

eingebracht im Zuge der Debatte zu Top 1 Erklärungen des Bundeskanzlers und des Vizekanzlers gemäß § 19 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Nationalrates anlässlich des Amtsantrittes des Bundeskanzlers und Ernennung des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft und Forschung, des Bundesministers für europäische und internationale Angelegenheiten, des Bundesministers für Finanzen, des Bundesministers für Inneres und der Staatssekretärin im Bundeskanzleramt

Die ÖVP als ehemals staatstragende Partei taumelt von einem Korruptionsskandal in den nächsten. Der Erfinder des sogenannten neuen Stils, Alt-Alt-Bundeskanzler Sebas­tian Kurz, wurde sogar noch nach Bekanntwerden der Korruptionsverdachtsmomente von der ÖVP mit über 99 % zum Parteivorsitzenden gewählt. Mittlerweile sind die Vorwürfe so erdrückend geworden, dass Kurz auch als Kurzzeit-Klubobmann den Hut nehmen musste und andere – nämlich alle Österreicher*innen – das von ihm verursachte Chaos ausbaden müssen. Die ÖVP mit ihrem System Kurz hat Österreich in eine - in der 2. Republik wohl beispiellos -  instabile Phase geführt. Bundespräsident Van der Bellen hat, seitdem er im Jänner 2017 das Amt übernommen hat, 125 Angelobungen durchgeführt – im Schnitt also mehr als zwei pro Monat. 50 unterschiedliche Regierungsmitglieder gab es in dieser Zeit, darunter Kanzler, Vizekanzler, Minister und Staatssekretäre. Drei Bundeskanzler innerhalb von nur ein paar Wochen sind für das an Stabilität und Kontinuität gewöhnte Österreich ein Negativrekord. Scherze wie etwa die Tapetentür im Büro des Bundespräsidenten als Drehtür oder Angelobungen in der Hofburg am Drive-In Schalter machen die Runde und finden bereits Eingang in die Reden des Bundespräsidenten. Faszinierend dabei, dass just die ÖVP das Argument der Stabilität verwendet, um das eigene Verweilen in der Bundesregierung zu be­gründen. Während die politische Welt von den Kapriolen der taumelnden türkis-grünen Bundesregierung gebeutelt wird, werden aber die realen Probleme der Bevölkerung immer drängender.

Die größte Gesundheitskrise seit über 100 Jahren hat unser Land überrollt, Pflegeberufe sind gefragt und gebraucht wie noch nie, die Pflegebedürftigkeit der Bevölkerung nimmt vor allem durch die Demographie enorm zu.

Wann wird die dringend erforderliche Pflegereform endlich angegangen? Die letzten substantiellen Verbesserungen im Pflegesystem wurden vor 10 Jahren unter sozial­demokratischer Führung unter der Ägide des viel zu früh verstorbenen Rudolf Hundstorfer mit der Einführung des Pflegefonds und der sehr erfolgreichen Neu­strukturierung der Kompetenzverteilung für das Pflegegeldwesen gesetzt.

Diese Regierung schafft es aber einfach nicht, Lösungen für das immer drängendere Problem der Pflege auf den Weg zu bringen. Angekündigt hat sie solche Lösungen schon viele Male. Solche leeren Versprechen frustrieren die Betroffenen und erregen Ärger oder sogar Wut bei allen.

Die Sicherstellung einer menschenwürdigen und hochwertigen Pflege nach dem Stand der Pflegewissenschaft und Medizin sowie die Unterstützung von pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen müssen in Österreich höchste Priorität haben. Nach der Bevölkerungsprognose wird der Anteil der über 80-Jährigen bis zum Jahr 2030 von derzeit 5% auf 6,8% angestiegen sein. Bedingt durch diese Verschiebung der Alters­struktur in der Bevölkerung sagen sämtliche Studien und Prognosen für die nächsten Jahre einen steigenden Bedarf an Pflegepersonen voraus.

Die drängendsten und wichtigsten Punkte – einheitliches Pflegesystem, garantierte Finan­zierung der Pflegeleistungen und Ausbildungsoffensive – wurden bisher nicht angegangen:

Bundesweit einheitliches Pflegesystem

Wir brauchen anstelle von neun unterschiedlichen Systemen bundesweite Festlegun­gen: welche Leistungen, welche Angebote sollen in welcher Qualität und Quantität zu welchen Kosten verfügbar sein. Damit kann man Transparenz und Vergleichbarkeit für alle sicherstellen.

Pflege qualitativ ausbauen und die Qualität sicherstellen kann nur durch eine gesamt­heitliche Steuerung der Pflege geschehen, die Rücksicht auf regionale Gegebenheiten nimmt und Mindestkriterien festlegt sowie unabhängig kontrolliert.

Garantierte Finanzierung des Pflegeangebotes durch Pflegegarantiefonds

Die Finanzierung aus einem Topf ist ein wichtiger Baustein dazu. Derzeit besteht der Pflegefonds als Provisorium und dient als Ausgleichfonds für die Sozialhilfeträger. Dieser Fonds muss umgestaltet und dauerhaft finanziert werden.

Am wichtigsten aber: Er muss für die Menschen spürbar werden!

Durch Schaffung eines Pflegegarantiefonds sollen die Mitteln der Länder und des Bun­des zusammengeführt und um rund eine Milliarde (Pflegemilliarde) erhöht werden, damit alle Pflegeleistungen den Pflegebedürftigen kostenlos zur Verfügung gestellt werden können.

Menschen muss in einer Pflegesituation unverzüglich die erforderliche Pflegeleistung vor allem auch durch Ausbau alternativer und mobiler Betreuung und Pflege garantiert wer­den können und diese Leistungen sollen in Hinkunft ohne zusätzliche Kosten für die Pflegebedürftigen zur Verfügung gestellt werden.

Ausbildungsoffensive und faire Arbeitsbedingungen

Im Pflegebereich rechnet man bis 2030 mit einem Bedarf von zusätzlichen 100.000 Pflege- und Betreuungskräften. Bis zum Jahr 2050 ist in Österreich mit einem Anstieg pflegebedürftiger Menschen von derzeit 450.000 auf 750.000 Menschen zu rechnen.

Das derzeit beschäftigte Pflegepersonal ist bereits physisch und psychisch extrem belas­tet. Mehrere hundert Stellen können gar nicht besetzt werden. Der Mitarbeitermangel trifft Pflegeeinrichtungen im ganzen Land. Immer mehr Pflegehäuser und Einrichtungen haben mit Personalnot zu kämpfen, sodass es zwar die Betten, nicht aber die dafür nötigen Pflegekräfte gibt.

Dieser Zustand ist unhaltbar!

Wir brauchen daher sofort eine Ausbildungsoffensive, mit der z.B. Personen, die eine Pflegeausbildung machen, eine Entlohnung (ähnlich den Polizeischülern) angeboten wird, mit der auch die Fachhochschulbeiträge erlassen, das Fachkräftestipendium für die tertiäre Ausbildung des gehobenen Dienstes geöffnet und weitere Anreize geboten werden (z.B. ein fixer Arbeitsplatz nach der Ausbildung).

Um einen Beruf mit Zukunftschancen zu ergreifen, ist es auch wichtig, dass die Arbeits­bedingungen ansprechend sind. Gerade die letzten Monate der Gesundheitskrise haben uns gezeigt, dass Pflegeberufe oft unter dramatischen Bedingungen ihre Arbeit erbrin­gen müssen. Notwendig ist daher einen Personalbedarfsschlüssel und mehr finanzielle Mittel, um ausreichend Personal beschäftigen zu können.

Es bedarf aber auch attraktiver Arbeitsplätze durch bessere Arbeitsbedingungen: faire Bezahlung und langfristig lebbare Arbeitszeitmodelle: z.B. ein Bonus für schlechte Arbeitszeit-Lage oder eine 6. Urlaubswoche ab dem 40. Lebensjahr. Damit könnte auch die Drop-Out-Rate erheblich reduziert werden.

Die unterfertigten Abgeordneten stellen daher folgenden

Entschließungsantrag

Der Nationalrat wolle beschließen:

„Die Bundesregierung wird aufgefordert, unverzüglich Regierungsvorlagen auszuar­bei­ten und dem Nationalrat zu übermitteln, mit denen

•           ein Pflegegarantiefonds geschaffen wird, in dem die bisherigen finanziellen Aufwendungen für Pflegeleistungen von Bund und Ländern zusammengefasst werden,

•           eine zusätzliche Pflegemilliarde aus Budgetmitteln zur Verfügung gestellt wird, damit künftig alle Pflegebedürftigen ihre benötigten Pflegeleistungen kostenfrei zur Ver­fügung gestellt bekommen,

•           eine Ausbildungsoffensive sofort gestartet wird

•           und die Verbesserung der Arbeitssituation für Pflegeberufe rasch umgesetzt wird.“

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Präsidentin Doris Bures: Der Entschließungsantrag ist ordnungsgemäß eingebracht und steht daher auch mit in Verhandlung.

Nächster Redner: Herr Abgeordneter Jakob Schwarz. – Bitte.