Abgeordnete Dr. Ewa Ernst-Dziedzic (Grüne): Herr Bundeskanzler, Sie haben es so­eben und vorhin schon angesprochen: Der Krieg in der Ukraine dauert nicht nur an, sondern die Situation spitzt sich weiterhin zu. Präsident Putin sagt neuerdings: Wir haben erst angefangen! – Da Luhansk jetzt weitgehend von russischen Kräften kontrol­liert wird, wird auch die Zivilbevölkerung in Donezk aufgerufen, zu flüchten. Das heißt, es ist alles andere als eine entspannte Situation, und auch Friedensverhandlungen zeich­nen sich leider noch immer nicht ab.

Meine Frage wäre, wie ihre gegenwärtige Einschätzung zur Lage, zum Verlauf des wei­teren Angriffskrieges Russlands und natürlich auch hinsichtlich der humanitären Situa­tion ist, die uns auch in Europa enorm tangiert.

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Die schriftlich eingebrachte Anfrage, 209/M, hat folgenden Wortlaut:

„Wie lautet aufgrund Ihrer internationalen Kontakte Ihre gegenwärtige Einschätzung über den weiteren Verlauf des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtige humanitäre Situation?“

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Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Herr Bundeskanzler, bitte.

Bundeskanzler Karl Nehammer, MSc: Ich fange mit dem von Ihnen zuletzt Angespro­chen an. Es ist zutiefst beeindruckend – und auch da eine großes Danke an die Öster­reicherinnen und Österreicher und die Menschen, die in Österreich leben, die dies er­möglichen –, dass über 80 000 Ukrainerinnen, Ukrainer, Kinder in Österreich versorgt und betreut werden können. Das ist eine humanitäre Leistung, die, finde ich, auch Wert ist, erwähnt zu werden. (Beifall bei der ÖVP sowie bei Abgeordneten von Grünen und NEOS.)

Auf der anderen Seite: Ihre Prognose ist leider voll zutreffend. Ich habe damals, wenn Sie sich erinnern können, immer wieder, als der Krieg begonnen hat, auch von der Kriegslogik Putins gesprochen – er ist in seiner vollen Umsetzung angelangt. Während die Angriffsstrategie nicht funktioniert hat, die Regierung durch einen Einmarsch vom Norden in den Süden, von Weißrussland aus, schnell und mit verlustreichen Kämpfen für die Russische Föderation zu stürzen, beginnt die Ostoffensive, die die russische Ar­mee jetzt klassisch strategisch nach sowjetischem Muster führt, durchgeführt zu werden; das heißt: massiver Artilleriebeschuss, heißt: keine Rücksichtnahme auf Zivilisten, und das bedeutet auch jetzt im Kriegsverlauf momentan immer wieder eine Zunahme an Gebietsgewinnen.

Die ukrainische Armee leistet aus meiner Sicht all das, was an Gegenwehr möglich ist. Angesichts der Tatsache, dass es eine Übermacht an Artilleriebeschuss und Raketenbe­schuss gibt, ist das ein mehr als schwieriges Unterfangen. Das heißt, der Krieg wird aus meiner Sicht so lange weitergehen, bis der eine, sprich der Aggressor, der die Invasion führt, sein vorläufiges Kriegsziel erreicht hat.

Die Rhetorik des Krieges ist an sich katastrophal. Wir kommen mit dem Krieg jeden Tag, den er dauert, viel zu nahe an Nato-Grenzstaaten. Wir kommen viel zu nah an die Gefahr eines großen Dritten Weltkrieges, weil die Geschichte einfach zeigt, dass große Kriege meistens nicht geplant begonnen worden sind, sondern mit einem Hineinstolpern, was dann katastrophal geendet hat; siehe gerade auch Erster Weltkrieg. Da hat Österreich viel aus der Geschichte zu berichten.

Das heißt, es geht jetzt darum, dass man weiterhin danach trachtet, Gesprächsebenen offenzuhalten – den Istanbuler Friedensprozess habe ich erwähnt –, gleichzeitig auch europäische Initiativen setzt, den Ukrainern bestmöglich zu helfen, die Regierung zu unterstützen, die Sichtbarkeit der Unabhängigkeit und der Eigenstaatlichkeit der Ukraine bestmöglich zu begleiten.

Ich tue das, indem ich in regelmäßigem Kontakt mit dem Premierminister der Ukraine bin, natürlich auch mit dem Präsidenten, indem operative Kooperationen mit dem Bot­schafter geschlossen werden. Ich bin auch, wenn es um klare humanitäre Hilfe geht, in direktem Austausch mit dem Bürgermeister von Kiew. Es braucht also diese vielen Maß­nahmen, um bestmöglich Solidarität mit der Ukraine zu zeigen.

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Zusatzfrage, Frau Abgeordnete? – Bitte.

Abgeordnete Dr. Ewa Ernst-Dziedzic (Grüne): Eine Zusatzfrage, weil Sie von Nato und Reinstolpern sprechen und auf der anderen Seite mit der Türkei in Kontakt waren: Auch dort besteht eine gewisse Gefahr beziehungsweise gibt es Ankündigungen von erneuten Angriffen, Militäroffensiven. Das ist natürlich im Windschatten des Ukrainekrieges inso­fern gefährlich, als die Welt doppelt herausgefordert ist, wenn man so möchte.

Da würde mich natürlich interessieren, wie Sie diese von der Türkei angekündigte Si­cherheitszone bewerten beziehungsweise ob Sie nicht denken, dass wir in Europa nicht auch gegenüber der Türkei jedenfalls – bei allen notwendigen diplomatischen Beziehun­gen, die wir verfolgen sollten – eine rote Linie ziehen und sagen sollten: Das geht einfach nicht, dass es dort zu erneuten Angriffen kommt! – Danke.

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Herr Bundeskanzler, bitte.

Bundeskanzler Karl Nehammer, MSc: Der Herr Präsident wird mich gleich wieder zur Kürze mahnen – es ist aber eine total komplexe Frage, denn Syrien an sich bezeichnet auch die Komplexität des Raumes. Wenn Sie daran denken: Der Krieg oder die Opera­tionen, die die Türkei gegen die Kurden führt, sind meistens gegen die PKK geführt, die auch als Terrororganisation eingestuft wird. Andere Kurdenverbände unterstützen dabei sogar die Türkei. Das heißt, das ist an sich ein komplexes Thema, verstärkt dadurch, dass auch die Russen in Syrien stehen, und auch die Iraner durch die Unterstützung der Hisbollah und der schiitischen Milizen.

Das heißt, es ist eine ganz giftige Gemengelage mit unterschiedlichsten Interessen, die dort vorherrscht. Warum aber aus meiner Sicht dennoch die Türkei als Verhandlungs­partner für die Ukraine und für die Russen eine wichtige Rolle spielen kann, ist einerseits, weil sie von beiden Seiten akzeptiert wird, und auf der anderen Seite, weil auch die Türkei eine kritische Position gegenüber Russland vertritt, was die Syrienpolitik betrifft – es kam sogar zu einem Abschuss eines russischen Kampfjets. Das heißt, in dieser Pola­rität muss man versuchen, Lösungen zu finden.

Es tut mir leid, dass die Zeit jetzt so kurz ist. Es würde sich lohnen, das zu vertiefen. Gerade in Syrien ist eine ganz, ganz schwierige sicherheitspolitische Situation gegeben, nicht nur für die vor Ort Agierenden, sondern in Wahrheit auch für uns. (Abg. Ernst-Dziedzic: Danke!)

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Die nächste Anfrage stellt Abgeordneter Loa­cker. – Bitte.