9.42
Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt Mag. Karoline Edtstadler: Herr Präsident! Geschätzte Bundesrätinnen und Bundesräte! Geschätzte Zuseherinnen und Zuseher! Jeder Tag ist es wert, über die Zukunft der Europäischen Union zu reden, und es ist es immer wert, das hier im Hohen Haus zu tun. Ja, es wurde schon gesagt, wir haben viel zu selten die Gelegenheit, auch hier im Bundesrat über die Zukunft Europas zu reden. Deshalb freue ich mich, dass diese Gelegenheit heute gegeben ist, und ich werde sie auch nützen.
Die Pandemie hat schonungslos eines gezeigt: die Stärken, aber auch die Schwächen dieser Europäischen Union. Erinnern Sie sich zurück! Ich werde den 13. März 2020 niemals vergessen, als ich mit meinen RegierungskollegInnen aus Tschechien, Ungarn, der Slowakei, Slowenien geredet habe, als wir darüber diskutiert haben, wie viele Kilometer für Pendlerinnen und Pendler zulässig seien, um nach Österreich zu kommen, ohne in Quarantäne gehen zu müssen. Es stand damals sehr vieles auf dem Spiel, und wir haben dann kurze Zeit danach auch am eigenen Leib gemerkt, was es bedeutet, wenn plötzlich Freiheiten, die wir für selbstverständlich genommen haben, weg sind, wenn die PendlerInnen nicht mehr kommen können, wenn die Betriebe ohne Facharbeiter dastehen, wenn Familien von heute auf morgen ohne ihre 24-Stunden-BetreuerInnen auskommen müssen oder – erlauben Sie mir als Salzburgerin, das auch zu sagen – wenn der Weg vom Pinzgau nach Salzburg nicht 45 Minuten dauert, sondern plötzlich gut 2 Stunden über das gesamte Salzachtal.
Hand aufs Herz, gerade am Beginn der Pandemie hat nicht alles perfekt funktioniert. Die Europäische Union ist in eine Art Schockstarre verfallen, und es hat zunächst lange Zeit gar nichts auf dieser Ebene gegeben. Daher stehe ich dazu, dass Kritik da auch berechtigt war. Kritik muss in einer Demokratie, in einem Rechtsstaat, auch in einer Europäischen Union, die auf gemeinsamen Werten gründet, erlaubt sein.
Dann allerdings ist auch vieles sehr gut gelaufen. Denken Sie an den Juli des letzten Jahres, als nicht nur das größte Budget aller Zeiten beschlossen worden ist, das routinemäßig alle sieben Jahre beschlossen wird, sondern auch ein gemeinsamer Resilienz- und Aufbaufonds, womit wir uns klar zur Solidarität mit denen, die am härtesten von der Krise getroffen waren, bekannt haben! Wir haben beschlossen, 750 Milliarden Euro zu investieren, aber nicht für irgendetwas, sondern für ganz klare Ziele, und die wurden dann, auch auf Drängen Österreichs, im Verbund der frugalen vier und mit Finnland von der Kommission vorgegeben. Wir wollen gemeinsam mit diesem Budget, mit diesem Aufbau- und Resilienzfonds, den grünen und den digitalen Wandel schaffen – zum Besten für uns alle.
Erinnern Sie sich ebenso zurück, dass wir wohl alle am Beginn der Krise es nicht für möglich gehalten haben, dass es nur ein knappes Jahr dauern wird, bis Impfstoffe entwickelt sind – Impfstoffe, die uns wieder einen normalen Umgang miteinander ermöglichen, Impfstoffe, die uns aus der Krise herausführen und die das ermöglichen, was wir gewohnt sind: ein Leben face to face, ein gesellschaftliches Leben!
Dann, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist natürlich die Pandemie auch etwas gewesen, das alle Kräfte gebündelt hat.
Wir dürfen darüber hinaus natürlich nicht vergessen, dass wir noch sehr viele ungelöste Probleme auf europäischer Ebene haben, die kurzfristig aus dem Blickfeld gerückt worden sind. Die Zukunftskonferenz hätte nämlich schon am 9. Mai 2020 starten sollen, unter kroatischem Ratsvorsitz. Das ist wegen der Pandemie nicht möglich gewesen. Dennoch haben wir im Rat schon vor der Pandemie für ein Mandat gekämpft, das es möglich machen sollte, alle Bürgerinnen und Bürger nicht nur einzubeziehen und zu fragen, was sie sich wünschen, sondern ohne Denkverbote darüber nachzudenken, wohin die Reise gehen soll, was man sich erwartet.
Wenn wir uns heute den Zustand der Europäischen Union vor Augen führen, dann muss man auch ganz deutlich sagen: Ja, da stehen wir vor großen Herausforderungen; etwa im Bereich des noch nicht vollendeten Binnenmarktes, der aber gleichzeitig eines unserer größten Assets ist, das uns in der Welt unvergleichlich und stark macht; im Bereich der Digitalisierung, die durch die Pandemie geboostet worden ist und uns ein Leben ermöglicht hat, miteinander in Kontakt zu bleiben, die aber auf der anderen Seite noch über weite Strecken ungeregelt ist – denken Sie etwa an Cybersecurity, denken Sie an die rechtlichen Rahmenbedingungen der Digitalisierung, die quasi prähistorisch sind, weil sie aus dem Jahr 2000 stammen!
Oder auch die EU-Außenpolitik: Wir brauchen ein gemeinsames Vorgehen im Bereich der Außenpolitik, um auch im globalen Gefüge ernst und wahrgenommen zu werden. Da braucht es schnellere Entscheidungen. Auch das müssen wir uns überlegen.
Die Rechtsstaatlichkeit ist selbstverständlich eines der drei Konglomerate, auf denen unsere Zusammenarbeit fußt, und ja, da gibt es in einigen Staaten Defizite, die auch deutlich angesprochen werden müssen und letztlich auch mit den finanziellen Zuwendungen der Europäischen Union zu verbinden sind; was wir auch geschafft haben.
Die Migrationspolitik – darauf komme ich noch zu sprechen – bereitet mir insofern Sorge, als wir noch kein gemeinsames europäisches Asylsystem haben, das wir aber mehr denn je dringend brauchen.
Klimapolitik – auch darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Natürlich müssen wir da vieles machen, aber es passiert jetzt schon vieles.
Und letztlich, auch aus gegebenem Anlass, aus aktuellem Anlass: die Westbalkanerweiterung, die gestern auch wieder unter slowenischem Vorsitz in Brdo besprochen worden ist. Ich hoffe sehr, dass es nicht ewig die Karotte für die Westbalkanstaaten gibt, damit diese uns nicht abhandenkommen und das Machtvakuum dort gefüllt wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ist ein Befund, der auf den ersten Blick vielleicht etwas negativ anmuten wird, es ist aber ein Befund, der notwendig ist, um die Herausforderungen auch anzugehen, um jetzt gemeinsam Lösungen für die Zukunft zu entwickeln. Und ja, das wird funktionieren, wenn wir die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, dass jetzt die Möglichkeit ist, sich zu beteiligen, die Wünsche, die Ängste, die Sorgen, die Nöte, die Zukunftsperspektiven zu skizzieren und uns als Politikerinnen und Politiker auch auf den Weg mitzugeben.
Die Zukunftskonferenz habe ich in Österreich bereits im Juni letzten Jahres gestartet, mit vielen Gesprächen, mit Konferenzen, mit dem Austausch mit Expertinnen und Experten. Ich lade unter dem Titel Zukunftslabore zu den einzelnen Themen, die in dieser digitalen Plattform vorgeschlagen worden sind, die aber nicht abschließend sind, sondern nur als eine Ideengeberserie sozusagen betrachtet werden sollen, regelmäßig zu Gesprächen ins Bundeskanzleramt ein.
Ich versuche, innerhalb der Europäischen Union auch grenzüberschreitende Gespräche zu initiieren; so vor wenigen Tagen erst im Dreiländereck zwischen Bayern, Österreich und Tschechien mit der bayerischen Staatsministerin für EU, mit dem tschechischen Außenminister und mit regionalen Vertretern aus allen drei Ländern, um wirklich ins Gespräch zu kommen, um zu sehen: Was wollen die Menschen denn? Was brauchen sie? Die Europäische Union ist ja vor allem dort spürbar, wo keine Grenzen mehr spürbar sind, wo die Regionen zusammengewachsen sind, wo vielleicht gerade in dem angesprochenen Bereich noch eine Sprachbarriere herrscht, nämlich Tschechisch und Deutsch, aber die Menschen ansonsten vieles gemeinsam machen, vom Rettungsdienst über die Unterstützung in Katastrophenfällen bis hin zu gemeinsamen Aktivitäten, auch kulturell und traditionell.
Das ist es, was wir jetzt brauchen: Allianzen innerhalb der Europäischen Union (Zwischenruf des Bundesrates Hübner), Allianzen, die sich auch darauf verständigen – gerade dann, Herr Bundesrat Hübner, wenn es schwierig ist –, hinzuschauen, zu diskutieren, sich auf Augenhöhe auszutauschen und auch zu versuchen, die Position des anderen zu verstehen, um die Dinge voranzubringen. (Neuerlicher Zwischenruf des Bundesrates Hübner.)
Ja, ich bin bei all jenen, die sagen, wir können auf unseren European Way of Life, auf unsere Werte stolz sein. Kein anderer Kontinent pflegt in allem, was wir tun, so uneingeschränkt wie wir diese drei großen Werte: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Auch das ist etwas, was als selbstverständlich hingenommen wird, wenn es da ist. Erst dann, wenn es nicht vorhanden ist – oder auch weil es eine Pandemie gibt, die eine Einschränkung im Hinblick auf manche Grundrechte bringt –, spürt man, was man eigentlich jetzt nicht leben kann. Deshalb ist mein Aufruf tatsächlich, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger beteiligen sollten und dass wir gerade jene, die sich jetzt noch nicht on a daily basis mit Politik, mit Europapolitik und mit der Zukunft beschäftigen, auffordern sollten, mitzugestalten.
Eine Initiative, die ich auch aufgegriffen habe, ist vom Bundesrat unter steirischem Vorsitz ausgegangen. Hier auf dieser Regierungsbank sind junge VertreterInnen aus allen neun Bundesländern gesessen, haben sich mit der Zukunft Europas beschäftigt und das uns, im Plenum sitzend, auch erzählt. Die Zeit war natürlich zu kurz, um mit allen zu reden. Deshalb habe ich sie kurze Zeit darauf ins Bundeskanzleramt eingeladen und dort mit ihnen die Diskussionen weitergeführt. Es ist für mich nicht überraschend gewesen, dass sie sehr konkrete Vorstellungen davon haben, wie die Europäische Union in Zukunft ausschauen soll, was sie sich wünschen, was sie vermissen – etwa Austausch mit anderen, Sprachen erlernen, sich wechselseitig beflügeln, die Wirtschaft auch dadurch nach oben bringen, dass persönliche Kontakte bestehen, sich darüber austauschen, welche innovativen Unternehmen es hier gibt. Die, die sich heute für Politik interessieren, sind ja unsere Zukunftshoffnungen.
Ausgehend von diesen Gesprächen hier im Bundesrat, weiterführend im Bundeskanzleramt, werde ich im Herbst auch eine große Jugendkonferenz organisieren. Ich habe alle neun Vertreterinnen und Vertreter gebeten, zumindest 20 Personen in ihrem Umfeld zu suchen, die sich aus ihrer Sicht heute noch nicht für Europa interessieren. Genau mit denen möchte ich ins Gespräch kommen.
Sie, geschätzte Bundesrätinnen und Bundesräte, sind für mich natürlich ein ganz wichtiger Dreh- und Angelpunkt, um das auch in die Bevölkerung hinauszutragen. Reden wir über Europa! Reden wir über die offenen Punkte, über die Herausforderungen, die wir noch haben, um es besser zu machen! Gehen wir jetzt in den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern, um im Mai während der französischen Ratspräsidentschaft ein erstes Zwischenergebnis auf dem Tisch zu haben und es dann in politische Handlungen umzusetzen! Das ist mein großer Wunsch. Das ist auch unser aller Herausforderung, um weiterzukommen, um wirklich ein Europa zu bauen, das dem entspricht, was wir uns vorstellen.
Eines auch noch abschließend: Wenn wir beispielsweise über die EU-Erweiterung am Westbalkan sprechen und wenn da bei manchen in der Bevölkerung auch die durchaus berechtigte Sorge vorherrscht, wohin das führen könnte, dann darf ich all denen sagen: Der Westbalkan ist für uns in Österreich, für uns in Europa eine Frage der Sicherheit, und es ist umgekehrt eine Frage der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union, da die nächsten Schritte zu setzen, damit wir die Bevölkerung nicht verlieren.
Es ist ähnlich wie mit dem Konferenzprojekt: Es ist nicht eines, das morgen oder nächstes Jahr fertig ist, sondern es ist eines, an dem wir alle stetig bauen müssen, damit diese Perspektive für die Länder des Westbalkans eröffnet ist, damit unsere Wirtschaft davon profitieren kann, damit wir die Sicherheit fühlen können und damit letztlich auch in 50 Jahren die Bürgerinnen und Bürger noch wissen, warum wir diese Europäische Union mehr denn je brauchen. – Vielen Dank. (Beifall bei der ÖVP.)
9.54
Präsident Dr. Peter Raggl: Ich danke der Frau Bundesministerin für ihre Stellungnahme.
Ich mache darauf aufmerksam, dass die Redezeit aller weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Aktuellen Stunde nach Beratung in der Präsidialkonferenz 5 Minuten nicht übersteigen darf.
Zu Wort gemeldet ist Frau Bundesrätin Andrea Holzner. Ich erteile ihr dieses. – Bitte.